30. April 2020
BGB § 2346; BGB § 138

Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts eines Sozialhilfeempfängers

BGB §§ 2346, 138
Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts eines Sozialhilfeempfängers
I. Sachverhalt
Ein Ehepaar hat zwei volljährige Söhne. Diese Söhne wollen einen Pflichtteilsverzichtsvertrag mit den Eltern abschließen, in welchem sie jeweils auf den Pflichtteil gegenüber dem erstversterbenden Elternteil verzichten. Einer der beiden Söhne bezieht jedoch Sozialhilfe.

II. Fragen
Ist der Pflichtteilsverzicht eines Sozialhilfeempfängers sittenwidrig bzw. sind etwaige Anspruchskürzungen zu befürchten?

III. Zur Rechtslage
1. Zur Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts
Lange Zeit war umstritten und nicht höchstrichterlich geklärt, inwieweit der Pflichtteilsverzicht eines (potentiellen) Sozialhilfeempfängers gem. § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und damit nichtig ist. Die früher h. M. stellte für die Frage der Sittenwidrigkeit eines Pflichtteilsverzichtsvertrages auf die für die Sittenwidrigkeit eines Unterhaltsverzichtsvertrages zwischen Ehegatten entwickelten Grundsätze ab (vgl. VGH Mannheim NJW 1992, 2953, 2955; Bengel, ZEV 1994, 29; Schumacher, Rechtsgeschäfte zu Lasten des Sozialhilfeempfängers im Familien- und Erbrecht, 2002, S. 172). Danach wurde davon ausgegangen, dass ein Pflichtteilsverzicht sittenwidrig sei, wenn der Verzichtende sowohl im Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts als auch im Zeitpunkt des Erbfalls hilfsbedürftig und dies den Beteiligten bekannt gewesen sei (Schumacher, S. 142; Lambrecht, Der Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den erbrechtlichen Erwerb, 2001, S. 172).

Mittlerweile hat der BGH zur Frage Stellung genommen und den Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers für grundsätzlich nicht sittenwidrig erklärt (DNotZ 2011, 381 ff.). Begründet hat er seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt: Für eine Einschränkung des dem Pflichtteilsberechtigten aus § 2346 Abs. 2 BGB zustehenden Rechts auf Verzicht auf einen möglichen Pflichtteil bedürfe es guter Gründe, die im Regelfall nicht vorlägen. Insbesondere könne das sozialrechtliche Nachrangigkeits- oder Subsidiaritätsprinzip insoweit nicht angeführt werden, weil dieses vom Gesetzgeber – gerade bei behinderten Leistungsbeziehern – an zahlreichen Stellen eingeschränkt und durchbrochen werde. Die Verneinung der Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts behinderter Sozialleistungsbezieher sei bereits in der Senatsrechtsprechung zum „Behindertentestament“ angelegt. Auch die Ausschlagung einer angefallenen und nicht überschuldeten Erbschaft durch einen Sozialhilfeempfänger sei nicht sittenwidrig, da es der privatautonomen Entscheidung jedes Einzelnen unterliege, ob er Erbe werden wolle oder nicht („negative Erbfreiheit“, die unter den Schutz des Art. 14 GG falle). Beim Pflichtteilsverzicht eines Leistungsbeziehers handele es sich auch schon deswegen nicht um einen unzulässigen „Vertrag zu Lasten Dritter“, weil dem Sozialleistungsträger durch den Verzicht keinerlei vertragliche Pflichten auferlegt würden. Der Nachteil der öffentlichen Hand entstehe vielmehr nur als Reflex durch Aufrechterhaltung der Bedürftigkeit. Lediglich mittelbar durch das Rechtsgeschäft verursachte nachteilige Drittwirkungen seien von diesen Dritten jedoch grundsätzlich hinzunehmen und berührten die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts im Regelfall nicht. Weiter sei anzuerkennen, dass Behinderte mit dem Pflichtteilsverzicht üblicherweise einer Erwartungshaltung der Eltern nachkämen, die sich gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt hätten und sicherstellen wollten, dass die Nachkommen nicht bereits mit dem Tode des Erstversterbenden Nachlasswerte für sich beanspruchten.

In der Literatur wurde die Entscheidung des BGH teilweise kritisch aufgenommen (vgl. nur Staudinger/Sack/Fischinger, BGB, 2017, § 138 Rn. 527 ff., aus deren Sicht sowohl das sozialrechtliche Nachrangigkeits- oder Subsidiaritätsprinzip als auch die fehlende Vergleichbarkeit eines Pflichtteilsverzichts mit der Ausschlagung einer Erbschaft für die Sittenwidrig­keit des Pflichtteilsverzichts eines Sozialhilfeempfängers sprächen). Überwiegend hat die Entscheidung aber – vor allem im notariellen Schrifttum – Zustimmung erhalten (vgl. Spall, MittBayNot 2012, 141 ff.; Ivo, DNotZ 2011, 387 ff.; Kleensang, BWNotZ 2011, 162 ff.; Zimmer, ZEV 2011, 262 f.; Dreher/Görner, NJW 2011, 1761; Staudinger/Schotten, BGB, 2016, § 2346 Rn. 70b).

Im Anschluss an die genannte Entscheidung des BGH kann daher grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialhilfebeziehers nicht sittenwidrig ist. Hierbei macht es u. E. keinen Unterschied, ob der Pflichtteilsverzicht nur gegenüber dem Erstversterbenden der Eltern oder gegenüber beiden Elternteilen erklärt wird. Beide Varianten dürften von der Entschließungsfreiheit der Beteiligten gedeckt sein, auch wenn im ersten Fall eher mit dem für notwendig erachteten Vermögensschutz des überlebenden Ehegatten argumentiert werden kann.

2. Übertragbarkeit auf den nicht behinderten Sozialhilfebezieher
Als ungeklärt ist allerdings noch die Frage anzusehen, inwieweit die Ausführungen des BGH auch auf den nicht behinderten Sozialhilfebezieher Anwendung finden. Der BGH hat diese Frage offengelassen. In der Literatur wird die Frage der Übertragbarkeit auf den nicht behinderten Sozialhilfebezieher z. B. von Ivo (DNotZ 2011, 381, 389), Dreher/Görner (NJW 2011, 1761, 1766), Kleensang (ZErb 2011, 121, 124) und Leipold (ZEV 2011, 528, 529) bejaht.

Nach unserer Einschätzung dürfte die Zulässigkeit eines Pflichtteilsverzichts eines nicht behinderten Sozialhilfeempfängers (insbesondere im Falle des Bezuges von Arbeitslosengeld II) stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen sein (vgl. dazu auch Staudinger/Sack/Fischinger, § 138 BGB Rn. 529: Maßgeblich seien u. a. die Motivation des Verzichtenden, die Absehbarkeit seiner Sozialhilfebedürftigkeit und eine etwaige Entgeltlichkeit des Verzichts). So ist es zwar durchaus zutreffend, dass sich die Argumente des BGH für die Rechtswirksamkeit von Behindertentestamenten und Pflichtteilsverzichten Behinderter nicht ohne Weiteres auf die Bedürftigenkonstellation übertragen lassen. Insbesondere greift das vom BGH hervorgehobene Prinzip des Familienlastenausgleichs nicht in gleicher Weise, weil volljährige Erwerbsfähige anders als Behinderte typischerweise nicht der Fürsorge ihrer Familienangehörigen bedürfen. Zudem werden Behinderte im Sozialrecht in vielfältiger Weise gegenüber anderen Hilfebeziehern, insbesondere erwerbsfähigen Arbeitslosen, privilegiert (vgl. v. Proff, RNotZ 2012, 272, 280).

Andererseits steht die vom BGH anerkannte „negative Erbfreiheit“ auch einem bedürftigen Erben bzw. Pflichtteilsberechtigten zu (v. Proff, RNotZ 2012, 272, 280). Die vorzitierte Argumentation des BGH mit der „negativen Erbfreiheit“ des Bedachten spricht u. E. daher eher dafür, dass der BGH auch insoweit einen Pflichtteilsverzicht als wirksam ansehen würde. Im zu begutachtenden Fall spricht für die Zulässigkeit zudem, dass es nur um einen Pflichtteilsverzicht nach dem erstversterbenden Elternteil geht, der lediglich die Erbfolge des längerlebenden Erbenteils sichern soll, und die Erbfolge nach dem längerlebenden Elternteil unberührt bleibt.

Zusammenfassend betrachtet ist damit festzustellen, dass es hinsichtlich der Zulässigkeit des Pflichtteilsverzichts eines nicht behinderten Sozialhilfeempfängers noch keine endgültige Rechtssicherheit gibt (so auch die Einschätzung von Keim, RNotZ 2013, 411, 420). In der Literatur wird daher empfohlen, eine Kombination aus „Bedürftigentestament“ und flankierendem Pflichtteilsverzicht nur mit entsprechendem Hinweis auf Wirksamkeitszweifel und unter Aufnahme einer salvatorischen Klausel zu verwenden (vgl. v. Proff, RNotZ 2012, 272, 281; Klühs, ZEV 2011, 15, 18).

3. Sonstige Folgen
Auch dann, wenn der Pflichtteilsverzicht des Abkömmlings grundsätzlich nicht sittenwidrig sein sollte und dadurch der Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den Pflichtteilsanspruch ausgeschlossen werden könnte, bliebe zu berücksichtigen, dass sich der Abschluss des Pflichtteilsverzichtsvertrages sozialrechtlich möglicherweise als Obliegenheitsverletzung darstellen und zu Kürzungen des Leistungsanspruchs gem. §§ 31a, 31b SGB II (bei Bezug von Arbeitslosengeld II) bzw. § 26 SGB XII (bei Sozialhilfeempfängern) führen könnte. Präzedenzfälle zu derartigen Minderungen in Fällen wie dem vorliegenden sind uns allerdings nicht bekannt.

Gutachten/Abruf-Nr:

176327

Erscheinungsdatum:

30.04.2020

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Erbverzicht

Erschienen in:

DNotI-Report 2020, 65-67

Normen in Titel:

BGB § 2346; BGB § 138