21. Januar 2022
BGB § 2309

Pflichtteilsberechtigung der Enkelkinder bei Pflichtteilsentziehung und Enterbung des Sohnes

BGB § 2309
Pflichtteilsberechtigung der Enkelkinder bei Pflichtteilsentziehung und Enterbung des Sohnes

I. Sachverhalt
Der Vater V hat einen Sohn S. S hat wiederum Abkömmlinge, die (aus Sicht des V) Enkelkinder E. S ist wegen versuchten Mordes rechtskräftig zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe (ohne Bewährung) verurteilt worden. V hat S in seinem Testament enterbt, indem er einen anderen Erben eingesetzt hat; zugleich hat V dem S den Pflichtteil wirksam entzogen.

II. Frage
Sind infolge der Enterbung und Entziehung des Pflichtteils des S nunmehr dessen Abkömmlinge (die Enkelkinder E) pflichtteilsberechtigt?

III. Zur Rechtslage
1. Pflichtteilsentziehung
Im vorliegenden Fall kommt eine Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB in Betracht. Danach kann dem Abkömmling der Pflichtteil entzogen werden, wenn er wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt worden und die Teilhabe des Abkömmlings am Nachlass deshalb für den Erblasser unzumutbar ist. Wir unterstellen, dass vorstehend die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.

Ist ein Pflichtteilsentziehungstatbestand verwirklicht und wird die Pflichtteilsentziehung auch formwirksam (vgl. § 2336 BGB) vorgenommen, führt dies zum Erlöschen sämtlicher Pflichtteilsrechte, die dem betreffenden Abkömmling zustehen können (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, Std.: 1.8.2021, § 2333 Rn. 30).

Die Pflichtteilsentziehung, der verbreitet ein gewisser „Verwirkungs- oder Strafgedanke“ zugeordnet wird (vgl. nur MünchKommBGB/Lange, 8. Aufl. 2020, § 2333 Rn. 2), wirkt sich allerdings nur auf den Pflichtteilsberechtigten selbst aus, nicht etwa auf den ganzen Stamm. Dies folgt bereits aus der Formulierung des § 2333 BGB sowie aus dem Umstand, dass eine dem § 2349 BGB entsprechende Vorschrift (ausnahmsweise Erstreckung der Wirkungen eines Verzichtsvertrages auf die Abkömmlinge) für die Pflichtteilsentziehung fehlt.

2. Pflichtteilsberechtigung der Enkel
Folge der Pflichtteilsentziehung ist, dass Abkömmlinge des betreffenden Abkömmlings nach Maßgabe des § 2309 BGB an seine Stelle treten können (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2333 Rn. 30; BeckOGK-BGB/Rudy, Std.: 1.4.2021, § 2333 Rn. 50; MünchKommBGB/Lange, § 2336 Rn. 18).

Das Vorliegen eigener Pflichtteilsansprüche der entfernter Berechtigten (hier: Enkel) ist allerdings keine Automatik. Vielmehr müssen die Voraussetzungen des § 2309 BGB erfüllt sein.

§ 2309 BGB bestimmt, dass entferntere Abkömmlinge (sowie die Eltern des Erblassers) insoweit nicht pflichtteilsberechtigt sind, als ein Abkömmling, der sie im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es in erster Linie, eine Vervielfältigung der Pflichtteilslast durch Mehrfachbegünstigung desselben Stammes zu verhindern (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2309 Überblick vor Rn. 1).

Da § 2309 BGB keinen eigenständigen Pflichtteilsanspruch begründet, sondern nur eine nach § 2303 BGB an sich gegebene Pflichtteilsberechtigung einschränkt, müssen für die Pflichtteilsberechtigung der entfernteren Abkömmlinge zwei Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein:

(1) Der Antragsteller muss aus eigenem Recht pflichtteilsberechtigt sein.

(2) Der näher Pflichtteilsberechtigte kann weder einen Pflichtteil verlangen, noch hat er das ihm u. U. Hinterlassene angenommen (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2309 Rn. 3).

Die zweite Tatbestandsvoraussetzung ist vorliegend o. W. gegeben, da Sohn S aufgrund der – unterstellt – wirksamen Pflichtteilsentziehung keinen eigenen Pflichtteilsanspruch geltend machen kann.

Eine Pflichtteilsberechtigung aus eigenem Recht hat der entfernter Berechtigte aufgrund seines Ausschlusses von der gesetzlichen Erbfolge (hier: durch Verfügung des Erblassers von Todes wegen) nur dann, wenn der zur Zeit des Erbfalls lebende näher Berechtigte (hier: S) aufgrund einer gesetzlichen Fiktion als nicht vorhanden gilt, etwa weil er die Erbschaft ausgeschlagen (§ 1953 Abs. 1 BGB), einen Erbverzicht (§ 2346 Abs. 1 BGB) geleistet hat oder er für erbunwürdig (§ 2344 Abs. 1 BGB) erklärt wurde (BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2309 Rn. 4; vgl. auch BeckOGK-BGB/Obergfell, Std.: 1.12.2021, § 2309 Rn. 3, 4 ff.). Alle drei Tatbestände sind vorliegend nicht erfüllt.

Ob auch der Fall der Enterbung (§ 1938 BGB) den o. g. drei Fällen gleichgestellt werden kann, war umstritten. Der BGH hat jedoch im Jahr 2011 in einem vielbeachteten Urteil ent­schieden, dass auch der Enterbung eine Vorversterbensfiktion analog §§ 1953 Abs. 2, 2344 Abs. 2, 2346 Abs. 1 S. 2 BGB zukomme, was dazu führe, dass damit dem entfernter Berechtigten aufgrund des Eintrittsrechts nach § 1924 Abs. 3 BGB ein gesetzliches Erbrecht zustehe (BGHZ 189, 171, 177 = ZEV 2011, 366 = DNotZ 211, 866 m. zust. Anm. Lange).

Der Meinungsstreit, ob auch die Enterbung vom Tatbestand des § 2309 BGB umfasst ist, wirkt sich normalerweise nicht aus, da im Falle der Enterbung im Regelfall dem näher Pflichtteilsberechtigten sein Pflichtteilsanspruch zusteht und deshalb ein Pflichtteilsanspruch des entfernter Berechtigten nach § 2309 Var. 1 BGB ausgeschlossen ist. Dieser Meinungsstreit wird aber bedeutsam, wenn der näher Berechtigte im konkreten Fall seinen Pflichtteilsanspruch nicht geltend machen kann, etwa weil er pflichtteilsunwürdig ist (§ 2345 Abs. 2 BGB), einen Pflichtteilsverzichtsvertrag ohne Erstreckungswirkung nach § 2349 BGB abgeschlossen hat oder – wie in dem vom BGH entschiedenen Fall – wenn dem enterbten näher Berechtigten zugleich wirksam der Pflichtteil nach § 2333 BGB entzogen worden ist. Denn unter Zugrundelegung der BGH-Ansicht führt diese Konstellation dann zu einer konkreten Pflichtteilsberechtigung der entfernter Berechtigten, etwa der Enkel (vgl. BGH DNotZ 2011, 866; BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2309 Rn. 9 m. w. N.).

Demzufolge käme man auch im vorliegenden Fall im Anschluss an die Entscheidung des BGH zum Ergebnis, dass infolge wirksamer Pflichtteilsentziehung in Bezug auf den Sohn dessen Abkömmlinge konkret pflichtteilsberechtigt worden sind.

Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass es sich im Falle der BGH-Entscheidung um eine ausdrückliche Enterbung des Abkömmlings (vgl. § 1938 BGB) handelte und der Abkömmling nicht nur – wie hier – aufgrund der positiven Erbeinsetzung eines Dritten enterbt worden ist. Ob auch der letztere Fall gleichzustellen ist, hat der BGH in seiner Entscheidung ausdrücklich dahinstehen lassen (BGH ZEV 2011, 366, 367 m. w. N.). In der Literatur wird dies eher abgelehnt, da die Übergehung im Gegensatz zur ausdrücklichen Enterbung die gesetzliche Erbfolge unberührt lasse (so Staudinger/Otte, BGB, 2015, § 2309 Rn. 28; BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2309 Rn. 8.2; offen MünchKommBGB/Lange, § 2309 Rn. 13). Definitiv geklärt ist diese Rechtsfrage aber bislang noch nicht.

Im konkreten Fall konnte der BGH die Frage dahinstehen lassen, da er der Pflichtteilsentziehung zugleich eine (ausdrückliche) Enterbung i. S. v. § 1938 entnommen hat (Rn. 22 der genannten Entscheidung). Schließt man sich dem für den vorliegenden, insoweit vergleichbaren Fall an, käme man auch hier im Ergebnis dazu, dass die Enkel pflichtteilsberechtigt sind.

Gutachten/Abruf-Nr:

187601

Erscheinungsdatum:

21.01.2022

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Pflichtteil

Erschienen in:

DNotI-Report 2022, 11-12

Normen in Titel:

BGB § 2309