16. September 2022
BGB § 1923

Kommorientenvermutung bei gesetzlicher Erbfolge; unsicherer Todeszeitpunkt eines Erbprätendenten

BGB § 1923; VerschG § 11
Kommorientenvermutung bei gesetzlicher Erbfolge; unsicherer Todeszeitpunkt eines Erbprätendenten

I. Sachverhalt
Anlässlich eines Erbscheinsantrags stellt sich die Frage nach der gesetzlichen Erbfolge. Die Erblasserin (Mutter) ist im April 2021 ohne Testament verstorben. Sie wurde von ihrem Ehemann überlebt, mit dem sie im gesetzlichen Güterstand verheiratet war. Sie hatte fünf Kinder, von denen eines, M, nach Angabe der Antragstellerin nachverstorben ist. Bei nachträglicher Vorlage der Sterbeurkunde dieses Kindes tritt nun Unklarheit bezüglich der eingetretenen Erbfolge auf. M ist ausweislich der Angabe in der Sterbeurkunde zwischen dem 31.1.2021 und dem 31.5.2021 unter Hinterlassung von drei Abkömmlingen verstorben.

II. Frage
Wer ist Erbe geworden?

III. Zur Rechtslage
1. Einführende Überlegungen; Bedeutung der Todeszeitangabe in der Sterbeurkunde für das Erbscheinsverfahren
§ 1923 Abs. 1 BGB bestimmt, dass nur Erbe werden kann, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Der Erbe muss den Erblasser also wenigstens um eine Sekunde überlebt haben, sodass ihm die Erbschaft gem. § 1942 BGB anfallen und auf ihn übergehen konnte (s. nur Grüneberg/Weidlich, BGB, 81. Aufl. 2022, § 1923 Rn. 2). Folglich ist derjenige, der vor oder gleichzeitig mit dem Erblasser verstorben ist, von der Erbfolge ausgeschlossen.

Kommt es im Rahmen der Beurteilung einer Erbfolge auf den genauen Todeszeitpunkt an, hat das Nachlassgericht diesen zu ermitteln. Wie die Ermittlung erfolgt, erörtert die Kommentarliteratur nicht explizit. Genannt wird allerdings eine Ermittlung zum Beispiel mittels Sachverständigengutachten (vgl. Keidel/Zimmermann, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 352e Rn. 43).

Bei seinen Ermittlungen ist das Nachlassgericht nach h. A. nicht an die Todeszeitangaben in der Sterbeurkunde „gebunden“ (Keidel/Zimmermann, § 352e Rn. 43). So hat beispielsweise das OLG Frankfurt/M. (NJW 1997, 3099) entschieden, dass der Nachweis der Unrichtigkeit des beurkundeten Todeszeitpunkts erbracht sei, wenn die im Erbscheinsverfahren angestellten Ermittlungen zur Überzeugung des Nachlassrichters ergeben haben, dass der Erblasser früher als in der Sterbeurkunde angegeben gestorben sei.

Das Nachlassgericht hat daher den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, wobei grundsätzlich die Beweiskraft von Personenstandsurkunden ebenso wie die gesetzlichen Tatsachen- und Rechtsvermutungen gelten (s. MünchKommFamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, § 352e Rn. 16 ff.). Ein Gegenbeweis ist aber möglich. Ist ein derartiger allein der Überzeugung des Nachlassgerichts unterliegender Gegenbeweis jedoch nicht erbracht, bleibt die Vermutung für das Nachlassgericht bindend (MünchKommFamFG/Grziwotz, § 352e Rn. 18).

2. Die Kommorientenvermutung des § 11 VerschG
Sollten sich durch die vom Nachlassgericht im Erbscheinserteilungsverfahren anzustellenden Ermittlungen also keine genaueren Erkenntnisse mehr über den exakten Sterbezeitpunkt des betreffenden Kindes gewinnen lassen, dann würde die Kommorientenvermutung des § 11 VerschG Bedeutung gewinnen: Kann nicht bewiesen werden, dass von mehreren gestorbenen oder für tot erklärten Menschen der eine den anderen überlebt hat, wird nach dieser Vorschrift vermutet, dass sie gleichzeitig gestorben sind. § 11 VerschG ist sowohl anzuwenden, wenn der Todeszeitpunkt mehrerer Personen nicht bewiesen werden kann, als auch dann, wenn der genaue Todeszeitpunkt zwar bei einer Person feststeht, aber bei einem anderen Beteiligten nicht aufgeklärt werden kann (MünchKommBGB/Leipold, 9. Aufl. 2022, § 1923 Rn. 12; Grüneberg/Weidlich, § 1923 Rn. 5). Diese letztgenannte Konstellation ist vorliegend gegeben. Soweit § 11 VerschG anzuwenden ist, kann jedoch keine der beteiligten Personen die andere beerben (MünchKommBGB/Leipold, § 1923 Rn. 12), da die hierfür notwendige Feststellung, dass die beteiligte Person zum Zeitpunkt des Erbfalls – also des Ablebens der anderen Person – noch lebt (§ 1923 Abs. 1 BGB), nicht mehr getroffen werden kann.

3. Anwendung auf den Sachverhalt; Ergebnis
Führen die Ermittlungen des Nachlassgerichts im Erbscheinserteilungsverfahren nicht zu genaueren Erkenntnissen, wäre wegen Eingreifens der Kommorientenvermutung nach § 11 VerschG davon auszugehen, dass M die Erblasserin (Mutter) nicht hat beerben können. Gem. § 1924 Abs. 3 BGB treten dann an die Stelle von M die durch M mit der Erblasserin verwandten Abkömmlinge (Erbfolge nach Stämmen), hier also – wenn M drei Kinder hinterlassen hat und keines dieser Kinder seinerseits vorverstorben ist – diese drei Kinder. Sie erhalten zu unter sich gleichen Teilen den Erbteil, der dem betreffenden Kind M zugefallen wäre. Dann wäre für die Beurteilung der gesetzlichen Erbfolge also davon auszugehen, dass sich die Erbfolge zwar im Prinzip so gestaltet wie im zunächst beurkundeten Erbscheinsantrag ausgewiesen. An die Stelle des M, der – neben seinem Vater und seinen vier Geschwistern – zu einem Zehntel Miterbe nach der Erblasserin geworden wäre, treten jedoch dessen drei Kinder. Diese teilen sich das betreffende Zehntel zu unter sich gleichen Teilen. Jedes der drei Kinder wäre dann also Miterbe zu einem Dreißigstel nach der Erblasserin.

Gutachten/Abruf-Nr:

190994

Erscheinungsdatum:

16.09.2022

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Gesetzliche Erbfolge

Erschienen in:

DNotI-Report 2022, 139-140

Normen in Titel:

BGB § 1923