28. August 2020
BGB § 2325

Grundstücksschenkung von Vater an Tochter; Pflichtteilsergänzungsansprüche eines später vom Schenker adoptierten Sohns

BGB § 2325
Grundstücksschenkung von Vater an Tochter; Pflichtteilsergänzungsansprüche eines später vom Schenker adoptierten Sohns

I. Sachverhalt
Im Oktober 2007 wurde ein Übergabevertrag zur Vorwegnahme der Erbfolge beurkundet. In diesem Vertrag übertrug ein Vater seiner Tochter ein bebautes Grundstück unter Vorbehalt des Nießbrauchs sowie der „klassischen“ Rückübertragungsansprüche. Nunmehr beabsichtigt der Vater, einen Volljährigen zu adoptieren. Die Tochter ist besorgt, dass das neue „Familienmitglied“ nach dem Tod des Vaters Pflichtteilsergänzungsansprüche gegen sie geltend machen könnte.

II. Frage
Ist die Sorge der Tochter begründet?

III. Zur Rechtslage
1. Theorie von der Doppelberechtigung im Rahmen der Pflichtteilsergänzung
Nach lange Zeit gefestigter Rechtsprechung des BGH erfasste der Schutzzweck der §§ 2325 ff. BGB nur denjenigen Pflichtteilsberechtigten, der im Zeitpunkt der Schenkung bereits pflichtteilsberechtigt war (BGH NJW 1973, 40; bestätigt in BGH NJW 1997, 2676 = DNotZ 1998, 135). Der BGH begründete dies damit, dass dem Gesetz in § 2325 Abs. 1 BGB die rückwärtsgewandte Betrachtung derjenigen tatsächlichen Verhältnisse zugrunde liege, die im Zeitpunkt der Schenkung maßgeblich gewesen seien (NJW 1997, 2676 f.). Der kennzeich­nende Sachverhalt für den Pflichtteilsergänzungsanspruch, nämlich die Beeinträchtigung des Nachlasses durch die Schenkung, beziehe sich nur auf den im Zeitpunkt der Schenkung Pflichtteilsberechtigten. Durch den Pflichtteilsergänzungsanspruch werde er in seinen Stand vor der Schenkung wiedereingesetzt. Zudem müsse sich auch derjenige, der im Zeitpunkt der Schenkung als Kind oder Ehegatte des Erblassers pflichtteilsberechtigt sei, trotz der grundsätzlichen Anerkennung seines Interesses am Bestandsschutz mit der im Erbfall zehn Jahre zurückliegenden Schenkung abfinden. Wenn dies sogar dem bei Schenkung vorhandenen Pflichtteilsberechtigten zugemutet werde, könne der bei der Schenkung überhaupt noch nicht vorhandene Pflichtteilsberechtigte erst recht keinen Bestandsschutz erwarten.

Die skizzierte Rechtsprechung des BGH war äußerst umstritten, zumal Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm nicht unbedingt für ein derartiges Gesetzesverständnis sprachen. In der Literatur hatten sich daher nur wenige Autoren der Argumentation des BGH angeschlossen (abl. etwa Otte, ZEV 1997, 375; Schmidt-Kessel, ZNotP 1998, 2; Tiedtke, DNotZ 1998, 85).

Ansatzweise überzeugend war die Argumentation des BGH ohnehin nur für den Konflikt zwischen Kindern aus früheren Ehen und der Ehefrau späterer Ehe, da die zweite Ehefrau nicht zwingend schutzwürdig im Hinblick auf Schenkungen an die erstehelichen Kinder vor der Eheschließung erscheint. Vor allem hinsichtlich der nachgeborenen Abkömmlinge war die Argumentation des BGH aber – schon allein wegen der dadurch bewirkten Ungleichbehandlung der Abkömmlinge – äußerst fragwürdig. In der Literatur wurde daher die Anwendung der Rechtsprechungsgrundsätze des BGH auf Abkömmlinge allgemein abgelehnt oder zumindest vertreten, dass eine abstrakte Pflichtteilsberechtigung der Abkömmlinge ausreichend sein müsse (vgl. Keller, ZEV 2000, 268; Bestelmeyer, FamRZ 1998, 1152; dazu krit. Pentz, FamRZ 1999, 489).

2. Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung 2012
Mit Urteil vom 23.5.2012 hat der BGH (DNotZ 2012, 860 m. Anm. Lange = ZEV 2012, 478 m. Anm. Otte = MittBayNot 2013, 143 m. Anm. Röhl) seine Rechtsprechung zur „Doppelberechtigung“ in Abkehr von den beiden Entscheidungen aus 1972 und 1997 ausdrücklich aufgegeben. Nach der neueren Entscheidung setzt der Pflichtteilsergänzungsanspruch (§ 2325 Abs. 1 BGB) von Enkeln des Erblassers, die zum Zeitpunkt der ergänzungspflichtigen Zuwendung des Großvaters noch nicht geboren waren, keine Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung voraus. Der BGH begründet seinen neuen Standpunkt mit dem Wortlaut, aus dem sich das Erfordernis einer Doppelberechtigung nicht ergibt, mit der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und dem Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs.

Im Anschluss an diese Entscheidung kommt es damit bzgl. der Gläubigereigenschaft nicht auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt der Schenkung an, sondern im Zeitpunkt des Erbfalls.

Die Rechtsprechungsänderung ist in der Literatur einhellig begrüßt worden (vgl. nur Reimann, FamRZ 2012, 1386; Röhl, MittBayNot 2013, 146; Keim, NJW 2012, 3484; Otte, ZEV 2012, 481). Allerdings ist man sich hinsichtlich der Folgen nicht ganz einig. Uneinheitlich beurteilt wird insbesondere die Frage, ob die nur zu Abkömmlingen ergangene Entscheidung auch auf den „nachrückenden“ Ehegatten anzuwenden ist. Dies wird in der Literatur teilweise verneint (vgl. Bonefeld, ZErb 2012, 225), von der überwiegenden Literatur und der bislang veröffentlichten Rechtsprechung jedoch bejaht – vor allem im Hinblick auf die allgemein gehaltene Begründung des BGH (vgl. OLG Hamm BeckRS 2016, 117427, Rn. 160); Lange, DNotZ 2012, 865; Otte, ZEV 2012, 481; Reimann, FamRZ 2012, 1386; Keim, NJW 2012, 3484, 3485). Für den vorliegenden Fall kann die Frage dahinstehen.

Bei Abkömmlingen differenziert man – soweit ersichtlich – nicht danach, aus welchem Grund (Geburt, Anerkennung, Adoption usw.) diese erst nachträglich pflichtteilsberechtigt geworden sind; explizit bejaht wird der Pflichtteilsergänzungsanspruch namentlich für eine spätere Vaterschaftsanerkennung (MünchKommBGB/Lange, 8. Aufl. 2020, § 2325 Rn. 9) sowie für eine spätere Adoption (BeckOGK-BGB/Schindler, Std.: 1.6.2020, § 2325 Rn. 14). Dass es sich vorliegend um eine Volljährigen- und nicht um eine Minderjährigenadoption handelt, ist für die Frage der Pflichtteilsberechtigung nach dem Erblasser ebenfalls ohne rechtliche Bedeutung, da in beiden Fällen ein Kindschaftsverhältnis zum Adoptierenden begründet wird (vgl. §§ 1754 Abs. 1, 1767 Abs. 2 S. 1 BGB).

3. Ergebnis
Schließt man sich der aktuellen Rechtsprechung und herrschenden Ansicht in der Literatur an, so kommt es für den Pflichtteilsergänzungsanspruch auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalls an. Folglich kann auch ein nachgeheirateter Ehegatte oder ein nach der Schenkung als Pflichtteilsberechtigter hinzugetretener Abkömmling Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen, sofern er nur im Zeitpunkt des Erbfalls vorhanden ist.

Es kann sich daher ein Pflichtteilsverzichtsvertrag empfehlen (der auch im Hinblick auf den übertragenen Grundbesitz gegenständlich beschränkt sein kann), um der Geltendmachung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen durch das hinzukommende „Familienmitglied“ vorzubeugen. Dazu müssten Erblasser und Anzunehmender freilich willens und in der Lage sein.

Gutachten/Abruf-Nr:

176821

Erscheinungsdatum:

28.08.2020

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Pflichtteil

Erschienen in:

DNotI-Report 2020, 131-133

Normen in Titel:

BGB § 2325