05. März 2020
EUErbVO Art. 21; EUErbVO Art. 62

Frankreich: Pflichtteilsrecht; Europäisches Nachlasszeugnis

EuErbVO Art. 21, 62
Frankreich: Pflichtteilsrecht; Europäisches Nachlasszeugnis

I. Sachverhalt

Der französische Erblasser war verheiratet und hatte keine Kinder. Er verstarb am 13.3.2016 mit letztem gewöhnlichen Aufenthalt in Paris. Mit Testament hat er seine Geschwister zu alleinigen Erben (légataires universels) eingesetzt. Sein Ehemann sollte ein Nießbrauchsrecht an einer Immobilie erhalten. Die Geschwister und der Witwer haben einen „acte de consentement à l'excécution de testament“ abgeschlossen. Darin hat der Witwer erklärt, dass sein Pflichtteilsrecht durch Übertragung des Nießbrauchs an der Immobilie erfüllt wurde. Es wurde ein europäisches Nachlasszeugnis nach französischem Recht erteilt. Danach sind die beiden Geschwister Erben zu jeweils 4/7 und 3/7. Allerdings heißt es unter Ziff. 10 des Formular V- Annex IV zu „Bedingungen und Einschränkungen der Rechte der Erben.....):“ Pflichtteilsrecht zu 1/4 „de la pleine propriété de l'ensemble de la succession“ (zu vollem Eigentum des gesamten Nachlasses). Das deutsche Nachlassgericht, dem das Europäische Nachlasszeugnis im Rahmen eines anderen Erbscheinsverfahrens vorgelegt wurde, versteht den Erbschein so, dass der Witwer Erbe zu 1/4 und die Geschwister sich nur den verbleibenden 3/4 Anteil entsprechend ihrer Quoten teilen. Der französische Notar versichert Ihnen, dass der pflichtteilsberechtigte Ehemann niemals Eigentümer geworden ist, sondern nur einen schuldrechtlichen Anspruch auf Zahlung eines Viertels der Erbmasse gegenüber den Erben hatte. Erben seien daher ausschließlich die Geschwister. Im Europäischen Nachlasszeugnis findet sich unter Ziff. 11 der oben genannten Anlage noch der Satz, dass der Ehemann erklärt, dass sein Pflichtteil durch die Erfüllung des Vermächtnisses durch Übertragung des Nießbrauchs erfüllt wurde.

II. Fragen

1.    Kann der französische Erblasser nach französischem Recht auch beim Vorhandensein von Pflichtteilsberechtigten über 100 % seines Nachlasses verfügen, oder nur über den nicht vom Pflichtteil belasteten Teil?

2.    Ist der Pflichtteilsberechtigte nach französischem Recht „Erbe“ und wird damit beim Tod des Erblassers im Sinne einer Gesamtrechtsnachfolge Eigentümer, oder hat er wie im deutschen Recht lediglich einen schuldrechtlichen Anspruch auf Erfüllung seines Pflichtteils?

3.    Ist das Europäische Nachlasszeugnis daher so zu verstehen, dass die Geschwister Alleinerben sind oder ist der Ehemann als Pflichtteilsberechtigter dort als Erbe ausgewiesen?

III. Zur Rechtslage

1.    Erbstatut

    Der französische Erblasser ist hier bereits nach Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs der Europäischen Erbrechtsverordnung verstorben, die sowohl für Deutschland als auch für Frankreich in Kraft getreten ist (Art. 83 Abs. 1 EuErbVO). Daher ist das anzuwendende Erbrecht nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO zu bestimmen. Da der Erblasser nach Ihrer Sachverhaltsschilderung seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt (zum Begriff: Palandt/Thorn, BGB, 79. Aufl. 2020, Art. 21 EuErbVO Rn. 5 ff.; ausführl. Süß, in: ders. Erbrecht in Europa, 4. Aufl. 2020, § 2 Rn. 1 ff.) in Frankreich hatte, ist das französische Erbrecht für die Beerbung und das Pflichtteilsrecht maßgeblich.

2.    Zum französischen Pflichtteilsrecht

    Das Pflichtteilsrecht ist in Frankreich in Art. 912 ff. franz. Code Civil geregelt (Überblick bei Süß, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht, 4. Aufl. 2018, § 19 Rn. 73 ff.; Döbereiner, in: Süß, Erbrecht in Europa, 4. Aufl. 2020, Länderbericht Frankreich, Rn. 116 ff.). Der Code Civil spricht zwar im Zusammenhang mit dem vom Pflichtteilsrecht in Beschlag genommenen Vermögensteil von der verfügbaren Quote (quotité disponible; Art. 912 Code Civil). Hinterlässt der Erblasser keine Kinder, aber einen überlebenden Ehegatten, so beträgt die verfügbare Quote ¾ der Güter des Verstorbenen (Art. 914-1 franz. Code Civil). Die Pflichtteilsquote des überlebenden Ehegatten beträgt im vorliegenden Fall also korrespondierend ¼.

    Wichtig ist jedoch, dass lebzeitige Schenkungen oder testamentarische Verfügungen, mit denen der Erblasser den ihm durch das Pflichtteilsrecht (Noterbrecht) gesetzten Rahmen überschritten hat, nicht automatisch unwirksam sind. Vielmehr hat es der Noterbe selbst in der Hand, sein Recht geltend zu machen. Hierfür steht ihm gem. Art. 921 Abs. 1 Code Civil innerhalb von fünf Jahren nach Eröffnung der Erbschaft die Herabsetzungsklage zur Verfügung (sog. action en réduction; Döbereiner, in: Süß, Erbrecht in Europa, 4. Aufl. 2020, Länderbericht Frankreich, Rn. 124 f.; allgemein zur Durchsetzungspflicht des Pflichtteilsrechts: Süß, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht, § 19 Rn. 89 ff.). Daher kann unter Geltung französischen Erbrechts der Erblasser zunächst über seinen gesamten Nachlass wirksam testieren, auch soweit dies Rechte der Noterbberechtigten beeinträchtigt. Erheben die Noterbberechtigten nicht innerhalb der 5-Jahresfrist die Herabsetzungsklage, so bleiben die Verfügungen des Erblassers in vollem Umfang wirksam.

    Wird dagegen die Herabsetzungsklage erhoben, dann ist der Noterbberechtigte nach dem seit 1.1.2007 geltenden franz. Pflichtteilsrecht dennoch vorrangig lediglich in Geld zu entschädigen (Art. 924 franz. Code Civil), soweit die verfügbare Quote überschritten wurde. Ein Ausgleich in Natur findet nach Wahl des Anspruchberechtigten nur noch statt, wenn der Gegenstand noch in Natur und unbelastet vorhanden ist (Art. 924-1 franz. Code Civil; Süß, § 19 Rn. 90; Döbereiner, Rn. 124). Trotz dieser Neufassung des Pflichtteilsrechts mit Wirkung vom 1.1.2007 wird das Pflichtteilsrecht – wohl immer noch – in Frankreich als materielles Noterbrecht aufgefasst (Süß, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht, § 19 Rn. 73 bei Fn. 74; Döbereiner, in: Süß, Erbrecht in Europa, Länderbericht Frankreich, Rn. 116). Letztlich kann aber nicht aus dem Begriff „Noterbrecht“ die Lösung aufgeworfener Einzelfragen abgeleitet werden, sondern nur aus der konkreten Ausgestaltung des Pflichtteilsrechts nach den gesetzlichen Vorschriften des Code Civil. Hiernach wird der nach französischem Recht Noterbberechtigte jedoch nicht – wie nach dem deutschen § 1922 BGB – unmittelbar mit dem Tod des Erblassers durch erbrechtlichen Vonselbsterwerb dinglich am Nachlass beteiligt. Er kann lediglich durch Erhebung der Herabsetzungsklage im weiteren Verlauf noch in Ausnahmefällen eine dingliche Nachlassbeteiligung erstreiten (Art. 924-1 franz. Code Civil als Ausnahme zu Art. 924 franz. Code Civil: Entschädigung in Geld). Bei mehreren Verfügungen sind übrigens gem. Art. 923 franz. Code Civil zunächst die testamentarischen Zuwendungen zur Herabsetzung heranzuziehen. Reicht dies zur Befriedigung der Noterbrechte aufgrund des auch im französischen Erbrecht der Sache nach bekannten Instituts der Pflichtteilsergänzung (hierzu Süß, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht, § 19 Rn. 83 ff.) nicht aus, so sind ergänzend Schenkungen unter Lebenden herabzusetzen, unter ihnen die späteren Schenkungen vor den früheren (Art. 923 Abs. 2 franz. Code Civil; Döbereiner, Rn. 114).

    Dementsprechend ist u. E. das mitvorgelegte Europäische Nachlasszeugnis so zu verstehen, dass die Geschwister zu den ausgewiesenen Quoten Erben sind. Der Ehemann wurde nicht im Sinne des deutschen Verständnisses eines erbrechtlichen Vonselbsterwerbs unmittelbar mit dem Tode des Erblassers Miterbe. Im Nachlasszeugnis ist lediglich auf das Pflichtteilsrecht des Ehemannes in seiner Ausgestaltung durch den französischen Code Civil (Art. 914-1, 918 ff., 921 ff. franz. Code Civil) hingewiesen. Der Hinweis auf das Pflichtteilsrecht im ENZ im vorliegenden Fall dürfte im Übrigen schon deshalb nicht mehr geboten und überflüssig sein, da der acte de consentement mit dem Pflichtteilsberechtigten bereits zuvor abgeschlossen worden war.

Gutachten/Abruf-Nr:

173019

Erscheinungsdatum:

05.03.2020

Rechtsbezug

National

Normen in Titel:

EUErbVO Art. 21; EUErbVO Art. 62