15. November 2019
BGB § 2100; SGB XII § 102; BGB § 138

Behindertentestament; Einsetzung weiterer Verwandter als Nacherben; Vermeidung des Zugriffs des Sozialhilfeträgers

BGB §§ 138, 2100 ff.; SGB XII § 102
Behindertentestament; Einsetzung weiterer Verwandter als Nacherben; Vermeidung des Zugriffs des Sozialhilfeträgers

I. Sachverhalt
Ehegatten haben ein gemeinsames minderjähriges Kind, das an Trisomie 21 leidet. Das Kind wird wegen seiner geistigen Behinderung an einer Beurkundung betreffend pflichtteilsrechtliche Regelungen auch nach Volljährigkeit nicht teilnehmen können. Die Eltern beabsichtigen nun, eine Erbregelung in Form eines klassischen Behindertentestaments zu treffen. Insbesondere wollen sie dadurch beim Tod des längerlebenden Elternteils für die weitere Lebensdauer des behinderten Kindes sicherstellen, dass sich der Lebensstandard des Kindes durch die Teilhabe am Nachlass tatsächlich erhöht. Darüber hinaus soll für das Nachversterben des behinderten Kindes eine Vor- und Nacherbfolge angeordnet werden, und zwar wegen fehlender Geschwister eine solche zugunsten Dritter (z. B. Patenkinder, Nichten, Neffen).

II. Frage
Kann diese Verfügung in einem Behindertentestament dergestalt wirksam getroffen werden, dass auch nach dem Ableben des Kindes ein Regress der öffentlichen Hand in den Nachlass ausgeschlossen ist?

III. Zur Rechtslage
1. Kostenersatzanspruch als Sicherung des Nachrangs der Sozialhilfe
§ 102 SGB XII enthält einen Kostenersatzanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Erben des Sozialhilfeempfängers. Nach § 102 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist der Erbe der leistungsberechtigten Person oder ihres Ehegatten oder Lebenspartners – falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben – vorbehaltlich des Absatzes 5 zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Nach Abs. 1 S. 2 der Vorschrift besteht die Ersatzpflicht nur für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrags nach § 85 Abs. 1 SGB XII übersteigen. Nach Abs. 2 S. 1 gehört die Ersatzpflicht des Erben zu den Nachlassverbindlichkeiten (§ 1967 BGB), nach Abs. 2 S. 2 haftet der Erbe aber nur mit dem Wert des im Zeitpunkt des Erbfalls vorhandenen Nachlasses.

Der Kostenersatzanspruch aus § 102 SGB XII sichert den Nachrang der Sozialhilfe, soweit die besonderen Ausschlussgründe für die Heranziehung von Einkommen oder Vermögen des Leistungsberechtigten im Erbfall für die Erben nicht eingreifen (BeckOK-Sozialrecht/Adams, Std.: 1.9.2019, Vor § 102 SGB XII). Die Vorschrift erlaubt damit ausnahmsweise die Rückzahlung rechtmäßig gewährter Sozialhilfe (BeckOK-Sozialrecht/Adams, Vor § 102 SGB XII). Als Haftungsgegenstand kommt bspw. Vermögen des Hilfeempfängers in Betracht, das zu Lebzeiten des Leistungsempfängers vom Sozialhilfeträger nicht in Anspruch genommen worden und in den Nachlass gefallen ist, weil es zu Lebzeiten gem. § 12 SGB II bzw. § 90 SGB XII geschütztes Vermögen war (vgl. Conradis, ZEV 2005, 379, 380 f.). Ersatzpflichtige Personen i. S. d. der Norm sind vor allem die Erben des Hilfeempfängers. War das behinderte Kind nicht Erblasser, sondern Vorerbe, so steht damit zunächst fest, dass allenfalls die Erben des behinderten Abkömmlings, nicht aber die Nacherben (die Erben nach dem Erblasser sind) auf Kostenersatz gem. § 102 SGB XII haften.

2. Ausgestaltung des Behindertentestaments zur Vermeidung eines Kostenersatzanspruchs
Das Behindertentestament folgt üblicherweise der sog. Erblösung. Dabei wird der behinderte Abkömmling zu einer oberhalb seines Pflichtteils liegenden Quote zum nicht befreiten Vorerben eingesetzt und dritte Personen, bspw. die nicht behinderten Geschwister, werden zu Nacherben bestimmt. In Bezug auf den Erbteil des behinderten Kindes wird zugleich Dauervollstreckung nach § 2209 BGB angeordnet und dabei dem Testamentsvollstrecker die nach § 2216 Abs. 2 BGB bindende Anweisung erteilt, dem Behinderten zur Verbesserung seiner Lebensqualität aus den Erträgnissen des Erbteils zu bestimmten Anlässen oder für bestimmte Zwecke solche Zuwendungen zu machen, die nach § 90 SGB XII geschützt sind (so etwa G. Müller, in: Würzburger Notarhandbuch, 5. Aufl. 2018, Teil 4 Kap. 1 Rn. 413).

Durch Anordnung der Nacherbfolge wird der dem behinderten Kind zugeteilte Nachlass zu seinen Lebzeiten vor der Verwertung durch seine Eigengläubiger, zu denen auch der Sozialhilfeträger zählt, geschützt (vgl. § 2115 BGB, § 773 ZPO, § 83 Abs. 2 InsO). Zudem verhindert die damit bewirkte Bildung eines Sondervermögens, das im Nacherbfall (also regelmäßig mit dem Tod des Vorerben) auf die vorgesehenen Nacherben übergeht, dass der Behinderte den ererbten Nachlass als Bestandteil seines Nachlasses weitervererbt und damit der Kostenersatzanspruch des Sozialhilfeträgers nach § 102 SGB XII eingreift (vgl. BGH DNotZ 1994, 380, 382 f.; Engelmann, MittBayNot 1999, 509, 510). Hat der behinderte Abkömmling kein oder kaum Eigenvermögen und wird der vom Erblasser ererbte Nachlass als Sondervermögen dem Nacherben weitervererbt, so kann der Kostenersatzanspruch des Sozialhilfeträgers, der sich nach § 102 Abs. 2 SGB XII auf den vorhandenen Nachlass beschränkt, weitgehend leerlaufen.

Die im Zusammenhang mit der Erblösung zunächst umstrittene Frage, inwieweit das Behindertentestament in der vorstehend beschriebenen Ausgestaltung eine sittenwidrige und daher nichtige Gestaltung zulasten der Sozialhilfe darstellt (§ 138 BGB), hat der BGH im Grundsatz verneint (DNotZ 1994, 380; DNotZ 1992, 241; nach OLG Hamm BeckRS 2016, 110649 = RNotZ 2017, 245 gilt dies auch bei größeren Nachlässen). Grundlegende Bedeutung kommt zudem einer Entscheidung des BGH vom 19.1.2011 (DNotZ 2011, 381 m. Anm. Ivo) zu. Darin wurde erstmals höchstrichterlich geklärt, dass (1) der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers nicht sittenwidrig ist, (2) das Recht zur Ausschlagung der Erbschaft (§ 1942 BGB) nicht auf den Sozialhilfeträger gem. § 93 SGB XII übergeleitet werden kann und (3) die Ausschlagung einer werthaltigen Erbschaft durch einen behinderten Sozialleistungsbezieher nicht sittenwidrig ist (vgl. dazu ausf. auch Wendt, ZNotP 2011, 362).

Der BGH sieht in der Anordnung der Nacherbfolge keinen nichtigkeitsbegründenden Verstoß gegen den sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz (vgl. § 2 BSHG a. F.). Dieser Grundsatz sei bereits im (mittlerweile außer Kraft getretenen) BSHG in erheblichem Maße durchbrochen gewesen (BGH DNotZ 1994, 380, 384; bzgl. des heutigen SGB XII auch BGH DNotZ 2011, 381 Tz. 23). Ausdrücklich formuliert der BGH (DNotZ 1994, 380, 384) in seiner Entscheidung von 1993:

„Danach bietet das BSHG keine Grundlage für die Auffassung, ein Erblasser müsse aus Rücksicht auf die Belange der Allgemeinheit seinem unterhaltsberechtigten behinderten Kind jedenfalls bei größerem Vermögen entweder über den Pflichtteil hinaus einen Erbteil hinterlassen, um dem Träger der Sozialhilfe einen gewissen Kostenersatz zu ermöglichen, oder zumindest eine staatlich anerkannte und geförderte Behindertenorganisation als Nacherben einsetzen, damit der Nachlaß auf diesem Weg zur Entlastung der öffentlichen Hand beitrage [...].“

Weiterhin stellt der BGH maßgeblich auf die Testierfreiheit des Erblassers ab. Ihre Einschränkung durch Anwendung der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB sei nur in Betracht zu ziehen, wenn sich das Verdikt der Sittenwidrigkeit auf eine klare, deutlich umrissene Wertung des Gesetzgebers oder allgemeine Rechtsauffassung stützen könne, was allerdings nicht der Fall sei (s. zu den Auswirkungen des am 1.1.2020 in Kraft tretenden neuen Hauptteils des BTHG, darunter zur möglichen Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 102 SGB XII bei behinderten Leistungsbeziehern: T. Schneider, ZEV 2019, 453).

3. Person des einzusetzenden Nacherben
Hinsichtlich der Person des einzusetzenden Nacherben wird in Rechtsprechung und Literatur teilweise vertreten, dass die Berufung einer gemeinnützigen Organisation nicht als sittenwidrig anzusehen sei, wohl aber die Berufung anderer (gesunder) Kinder des Erblassers (vgl. LG Konstanz FamRZ 1992, 360 m. Anm. Kuchinke; Köbl, ZfSH/SGB 1990, 449, 465). Diesen Überlegungen hat der BGH in DNotZ 1994, 380, 384 f. indes eine Absage erteilt. Daraus zieht die Literatur den Schluss, dass es für die Frage der Sittenwidrigkeit nicht auf die Person des Nacherben ankommt (vgl. Kaden, Zur Sittenwidrigkeit von Behindertentestamenten, 1998, S. 83 f.; Settergren, Das „Behindertentestament“ im Spannungsfeld zwischen Privatautonomie und sozialhilferechtlichem Nachrangprinzip, 1999, S. 111 f.). Diese Ansicht ist u. E. überzeugend. Denn stellt man zur Verneinung der Sittenwidrigkeit maßgeblich auf die Durchbrechung des sozialhilfe­rechtlichen Nachranggrundsatzes und die Testierfreiheit des Erblassers ab, so kann es keinen Unterschied machen, ob der Erblasser von seiner Testierfreiheit durch Erbeinsetzung eines weiteren Abkömmlings oder anderer Personen Gebrauch macht. Dass zur Vermeidung der Sittenwidrigkeit nicht notwendig andere Abkömmlinge zu Nacherben eingesetzt werden müssen, zeigt im Übrigen schon das Urteil des BGH vom 21.3.1990 (DNotZ 1992, 241). Im damals entschiedenen Fall hatte der Erblasser sein einziges behindertes Kind zum Vorerben und eine gemeinnützige Organisation zum Nacherben berufen.

4. Ergebnis
Im Ergebnis gehen wir davon aus, dass die Berufung der weiteren Verwandten zu Nacherben für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit des beabsichtigten Testaments keine entscheidende Rolle spielt. Da sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts allerdings immer nach sämtlichen Umständen des Einzelfalls bemisst, muss eine abschließende Bewertung den Gerichten vorbehalten bleiben.

Gutachten/Abruf-Nr:

172978

Erscheinungsdatum:

15.11.2019

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Erbeinsetzung, Vor- und Nacherbfolge
Sozialrecht

Erschienen in:

DNotI-Report 2019, 178-180

Normen in Titel:

BGB § 2100; SGB XII § 102; BGB § 138