BGB § 1944
Anforderungen an die Kenntnis vom Berufungsgrund
I. Sachverhalt
Der Erblasser war österreichischer Staatsangehöriger mit letztem Wohnsitz in Deutschland. Er hatte Vermögen in Deutschland und in Österreich. Er war nicht verheiratet und hinterließ keine Kinder. Es ist gesetzliche Erbfolge eingetreten.
Die Mutter des Erblassers lebt in Österreich. Sie erfuhr am Tag nach dem Tod ihres Sohnes von dem Todesfall. Es bestand zwar wenig Kontakt, dennoch ist davon auszugehen, dass die Familienverhältnisse des Erblassers der Mutter bekannt waren. Die Regelungen der EuErbVO bzgl. des anwendbaren Erbrechts kannte die Mutter nicht; sie hielt die Anwendung des österreichischen Erbrechts für möglich.
Erst mehr als sechs Monate, nachdem die Mutter von dem Todesfall erfahren hat, möchte sie auf Veranlassung ihrer weiteren Kinder, der Geschwister des Erblassers, das Erbe ausschlagen.
II. Frage
Verhindert die fehlende Kenntnis des Erben bzgl. des anwendbaren Erbrechts, dass die Ausschlagungsfrist nach § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB anläuft, wenn dem Erben die tatsächlichen Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 EuErbVO bekannt sind?
III. Zur Rechtslage
1. Beginn der Ausschlagungsfrist
Nach § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB beginnt die Ausschlagungsfrist mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und dem Grunde der Berufung Kenntnis erlangt. Ist der Erbe durch Verfügung von Todes wegen berufen, beginnt die Frist nicht vor Bekanntgabe der Verfügung von Todes wegen durch das Nachlassgericht (§ 1944 Abs. 2 S. 2 BGB). Nach § 1944 Abs. 3 BGB beträgt die Frist sechs Monate, wenn der Erblasser seinen letzten Wohnsitz nur im Ausland gehabt hat oder er sich bei Beginn der Frist im Ausland aufhält.
2. Kenntnis vom Berufungsgrund
Voraussetzung für den Fristbeginn ist also sowohl bei gesetzlicher wie bei gewillkürter Erbfolge u. a. die Kenntnis des Erben vom Berufungsgrund (§ 1944 Abs. 2 S. 1 BGB). Berufungsgrund ist grundsätzlich der konkrete Tatbestand, aus dem die Erbenstellung folgt (s. etwa Grüneberg/Weidlich, BGB, 83. Aufl. 2024, § 1944 Rn. 4; BeckOGK-BGB/Heinemann, Std.: 1.5.2024, § 1944 Rn. 36; NK-BGB/Ivo, 6. Aufl. 2022, § 1944 Rn. 6 m. w. N.). Welche Umstände genau zu dem maßgeblichen konkreten Tatbestand zu rechnen sind, wird in der Literatur nicht ganz einheitlich beurteilt. Teilweise differenziert man im Rahmen des § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB nur zwischen gesetzlicher und gewillkürter Erbfolge (so z. B. Soergel/Naczinsky, BGB, 14. Aufl. 2020, § 1944 Rn. 9). Teilweise unterscheidet man zwischen der Berufung aufgrund Gesetzes, aufgrund Testaments oder aufgrund Erbvertrages (so etwa OLG Schleswig ZEV 2016, 698, 699). Überzeugend scheint uns die Herleitung von Heinemann (in: BeckOGK-BGB, § 1944 Rn. 36), der den Begriff des Berufungsgrundes einheitlich aus einer Gesamtschau der einschlägigen Vorschriften des § 1948 Abs. 1 u. 2 BGB und des § 1951 Abs. 2 S. 2 BGB interpretiert: Aus § 1948 Abs. 1 BGB ergebe sich, dass zwischen der Berufung als gesetzlicher Erbe und der Berufung als gewillkürter Erbe zu unterscheiden sei, aus § 1948 Abs. 2 BGB ergebe sich, dass zwischen der Berufung aufgrund Testaments und aufgrund Erbvertrages zu unterscheiden sei. Aus § 1951 Abs. 2 S. 2 BGB sei wiederum abzuleiten, dass zwischen der Berufung aufgrund eines Testaments/Erbvertrages und der Berufung aufgrund eines anderen Testaments/Erbvertrages zu unterscheiden sei.
Geht es – wie im unterbreiteten Sachverhalt – um eine Berufung aufgrund gesetzlicher Erbfolge, so gehört zur Kenntnis vom einschlägigen Berufungsgrund „aufgrund Gesetzes“ die Kenntnis der das Erbrecht begründenden Familienverhältnisse. Weiterhin ist erforderlich, dass der Erbe vom Nichtvorhandensein einer die gesetzliche Erbfolge ausschließenden Verfügung weiß oder jedenfalls keinen Anlass sieht, die Existenz einer solchen anzunehmen (OLG Brandenburg FamRZ 1998, 1619; OLG Zweibrücken DNotZ 2004, 698; Staudinger/Otte, BGB, 2017, § 1944 Rn. 9). Als besondere Fallgruppe behandelt außerdem die neuere Rechtsprechung die sog. „abgerissenen Familienbande“ (OLG Schleswig ZEV 2016, 698 Rn. 16; OLG Zweibrücken DNotZ 2006, 698; OLG Rostock RNotZ 2010, 474, 475): Aus Sicht der zitierten Oberlandesgerichte kann dem gesetzlichen Erben die Kenntnis von seiner Berufung fehlen, wenn die Familienbande vor dem Erbfall längere Zeit abgerissen waren und er deshalb zu der Frage, ob der Erblasser ihn von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen hat, auf bloße Mutmaßungen ohne realen Hintergrund angewiesen ist. Dabei können die „abgerissenen Familienbande“ es aus Sicht des Erben möglich erscheinen lassen, dass der Erblasser ihn durch letztwillige Verfügung ausschließen wollte und ausgeschlossen hat. In einer solchen Konstellation ist der Fristbeginn für die Ausschlagung also zunächst aufgeschoben (s. dazu auch MünchKommBGB/Leipold, 9. Aufl. 2022, § 1944 Rn. 10).
3. Relevanz der Kenntnis vom konkret anwendbaren Erbrecht
Wie aus dem vorstehenden kurzen Überblick ersichtlich, wird die Kenntnis vom konkret anwendbaren Erbrecht – also davon, dass entweder deutsches Erbrecht oder dasjenige eines bestimmten ausländischen Staates anwendbar ist – im Rahmen des § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB in der vorhandenen Judikatur und Literatur nirgends als notwendiges Teilelement einer zureichenden Kenntnis des konkreten Berufungsgrundes erwähnt. Unseres Erachtens dürfte davon auszugehen sein, dass die Kenntnis davon, welches Erbstatut gilt, in der Tat nicht notwendige Voraussetzung für die Kenntnis des Berufungsgrundes i. S. v. § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB ist. Für diese Einschätzung spricht zum einen, dass die in Rechtsprechung und Literatur für § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB verlangten Kenntnisse durchweg im tatsächlichen Bereich angesiedelt sind; die zutreffende Kenntnis der aus dem vorhandenen Tatsachenmaterial zu ziehenden rechtlichen Schlussfolgerungen wird für den Fristanlauf an keiner Stelle verlangt. Zum anderen erscheint es uns durchaus plausibel, Komplikationen aufgrund denkbarer Auslandsberührung abschließend durch die nach Maßgabe des § 1944 Abs. 3 BGB gewährte Fristverlängerung geregelt zu sehen. Mangels auffindbarer Stellungnahmen insbesondere in der Judikatur bleibt aber derzeit eine gewisse Offenheit der Rechtslage zu konstatieren.