25. März 2022
AktG § 118 Abs. 3; AktG § 129; AktG § 130

Hauptversammlung; kurzzeitige Abwesenheit des Versammlungsleiters, der Vorstandsmitglieder oder des beurkundenden Notars; durchgängige Anwesenheit; Interimsleiter; Unterbrechung der Hauptversammlung

AktG §§ 130, 118 Abs. 3 S. 1, 129
Hauptversammlung; kurzzeitige Abwesenheit des Versammlungsleiters, der Vorstandsmitglieder oder des beurkundenden Notars; durchgängige Anwesenheit; Interimsleiter; Unterbrechung der Hauptversammlung

I. Sachverhalt
Bei der Beurkundung von Hauptversammlungen wird nicht selten die Frage gestellt, ob Vorstandsmitglieder, Versammlungsleiter und Notar durchgängig „auf dem Podium“ anwesend sein müssen.

II. Fragen
1. Können sich Vorstandsmitglieder während der Hauptversammlung für eine kurze Dauer von ihren Plätzen entfernen (etwa um die Sanitärräume aufzusuchen)? Was gilt für den Versammlungsleiter oder den Notar?

2. Wäre eine kurzzeitige Abwesenheit jedenfalls dann zu akzeptieren, wenn die Hauptversammlung durchgehend akustisch verfolgt werden könnte?

III. Zur Rechtslage
1. Abwesenheit der Vorstandsmitglieder
Vorstandsmitglieder (ebenso wie Aufsichtsratsmitglieder) „sollen“ gem. § 118 Abs. 3 S. 1 AktG an der Hauptversammlung teilnehmen. Sie trifft also eine grundsätzliche Pflicht zur Teilnahme an der Hauptversammlung (BeckOGK-AktG/Hoffmann, Std.: 1.9.2021, § 118 Rn. 26) in Form einer Präsenzpflicht (GroßkommAktG/Mülbert, 5. Aufl. 2017, § 118 Rn. 48). Andererseits bleibt eine Verletzung dieser Pflicht regelmäßig ohne Konsequenzen für die gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse, außer evtl. unter dem Aspekt einer nicht­ erteilten Auskunft (MünchKommAktG/Kubis, 5. Aufl. 2022, § 118 Rn. 112; Unmuth, NZG 2020, 448, 449; ausf. Dreher, FS Krieger, 2020, S. 201, 208 ff.). Vor diesem Hintergrund müsste eine kurzfristige, gerechtfertigte Abwesenheit zumindest im Ergebnis folgenlos bleiben, wenn sie nicht konkret die Erfüllung einer speziellen Organpflicht unnachholbar unmöglich machte. Das dürfte umso mehr gelten, als selbst eine totale Abwesenheit aus wichtigem Grund keine Schadensersatzpflicht des Vorstands auslösen oder den Weg zu seiner Abberufung freimachen kann (vgl. BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 118 Rn. 30; MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rn. 111, Rn. 110: Präsenz sei vornehmlich ein außerrechtlicher Gradmesser des Respekts gegenüber den Anteilsinhabern).

2. Abwesenheit des Versammlungsleiters
Anders als der Vorstand muss der Versammlungsleiter in der Hauptversammlung zwingend und grundsätzlich wohl durchgehend präsent sein. Zumindest wird ihm aber die Möglichkeit zugebilligt, Hilfspersonen ohne eigenen Entscheidungsspielraum zuzuziehen („Sprachorgan“ des Versammlungsleiters), die kurze Abwesenheiten des Versammlungsleiters (Toilettenpause o. Ä.) überbrücken, ohne dass eine Unterbrechung der Versammlung notwendig wäre (Grigoleit/Herrler, AktG, 2. Aufl. 2020, § 129 Rn. 44; Kocher/Feigen, NZG 2020, 620, 621; BeckOGK-AktG/Wicke, Std.: 1.9.2021, § 129 Rn. 43: reiner Vollzug der Anordnungen des Versammlungsleiters; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 282 f.: Beauftragung eines anderen Aufsichtsratsmitglieds, das am besten schon im Vorfeld zum Vertreter bestimmt wurde; ders., in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 5. Aufl. 2020, § 37 Rn. 39; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rn. 131; vgl. auch OLG Frankfurt, Urt. v. 20.10.2010, BeckRS 2010, 25449 zur temporären Verhinderung wegen Interessenkonflikts). Weitergehend wird teilweise sogar eine kurzfristige Delegation der Versammlungsleitung (weniger als 30 Minuten) auf einen Interimsversammlungsleiter zugelassen (Kocher/Feigen, NZG 2020, 620, 621: bei langen Hauptversammlungen gängige Praxis; Reichert/Gehling, Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 5. Aufl. 2021, § 9 Rn. 83: Praxis mache davon wenig Gebrauch; Hüffer/Koch, AktG, 15. Aufl. 2021, § 129 Rn. 18; Marsch-Barner, in: Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rn. 33.22b).

3. Abwesenheit des Notars
Die kurzzeitige Abwesenheit des Notars (Toilettenpause o. Ä.) soll unschädlich sein, soweit sie sich nicht auf den zwingenden Niederschriftsinhalt auswirkt; eine förmliche Unterbrechung ist in diesem Fall also nicht erforderlich (vgl. OLG München DNotZ 2009, 146 Rn. 40; LG München I, Beschl. v. 24.4.2008, BeckRS 2008, 11391, Rn. 221; Herrler/Bormann/Seebach, Gesellschaftsrecht in der Notar- und Gestaltungspraxis, 2. Aufl. 2021, § 7 Rn. 413; Hauschild, notar 2015, 271, 277; BeckOGK-AktG/Wicke, § 130 Rn. 28; Grigoleit/Herrler, § 130 Rn. 19; GroßkommAktG/Mülbert, § 130 Rn. 155). Es ist u. E. plausibel, dass die Präsenzpflicht des Notars sich von derjenigen des Versammlungsleiters unterscheidet. Beim Notar geht es um eine Tatsachenbeurkundung mit dem Inhalt des § 130 AktG. Eine ununterbrochene, allenfalls durch Vertreter überbrückte Anwesenheit fordert diese nicht. Insoweit ist die Aufgabe des Notars eine andere als die des Versammlungsleiters, der insgesamt für die ordnungsgemäße Durchführung der Hauptversammlung zuständig ist.

4. Fazit
Im Ergebnis dürften keine Bedenken bestehen, wenn ein Vorstandsmitglied, der Versammlungsleiter oder der Urkundsnotar die Versammlung aus verständlichem Grund kurzzeitig verlässt. Wertungsmäßig betrachtet gefährden solche Pausen die Durchführung oder Beurkundung regelmäßig nicht oder jedenfalls nicht mehr als die zeitweilige schiere Unaufmerksamkeit des physisch Anwesenden in der Versammlung. Für eine „förmliche“ Vertretung dürfte bzgl. des Versammlungsleiters zu sorgen sein; dieser hat die umfassendsten Verpflichtungen im Hinblick auf die Versammlung und muss grundsätzlich in jedem Moment präsent sein.

Die Frage, ob eine akustische oder sonstige Übertragung einen Präsenzmangel ausgleichen könnte, stellt sich nach oben Gesagtem nicht. Nähme man tatsächlich einen schädlichen Präsenzmangel an, wäre aber wohl fraglich, ob die bloße Übertragung einen Versammlungsleitungs- oder Beurkundungsmangel verhindern könnte.

Gutachten/Abruf-Nr:

184946

Erscheinungsdatum:

25.03.2022

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Aktiengesellschaft (AG)

Erschienen in:

DNotI-Report 2022, 44-45

Normen in Titel:

AktG § 118 Abs. 3; AktG § 129; AktG § 130