15. Dezember 2020
AktG § 135; AktG § 133

Abgabe und Zugang von Stimmen in der Hauptversammlung; Stimmabgabe vor Eröffnung des Abstimmungsvorgangs

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Gutachten des Deutschen Notarinstituts
Abruf-Nr.: 176808
letzte Aktualisierung: 15. Dezember 2020

AktG §§ 133, 135
Abgabe und Zugang von Stimmen in der Hauptversammlung; Stimmabgabe vor Eröffnung
des Abstimmungsvorgangs

I. Sachverhalt

Bei Hauptversammlungen insbesondere börsennotierter AGs ist es nicht selten so, dass die
Bankenvertreter ihre Stimmabgaben bereits zu Beginn der Hauptversammlung elektronisch vorerfassen
lassen, damit sie nach Eröffnung der Abstimmung durch den Versammlungsleiter bereits
im System hinterlegt sind und vom jeweiligen Bankenvertreter nur noch „freigegeben“
werden müssen. Diese Freigabe geschieht in der Weise, dass der Bankenvertreter gesondert bestätigt,
seine Stimmen so abgeben zu wollen, wie er dies zuvor angekündigt hatte und wie sie
zuvor bereits erfasst wurden.

II. Frage

Wäre es auch möglich, dass eine Freigabe der vorerfassten Stimmen nach Eröffnung des Abstimmungsverfahrens
nicht mehr gesondert erfolgte, sondern der Bankenvertreter gleich zu Beginn
der Hauptversammlung, wenn seine Stimmen vorerfasst werden (also vor Eröffnung der
Abstimmung) verbindlich erklärt, er werde so abstimmen, wie die Stimmen vorerfasst wurden?

III. Zur Rechtslage

1. Ablauf der Abstimmung in der Hauptversammlung

Die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft entscheidet durch Beschluss. Dabei ist der
Beschluss keine Erklärung, die die Hauptversammlungsmehrheit in formulierter Form ausspricht,
sondern die Beschlussfassung vollzieht sich durch bejahende oder verneinende
Stellungnahme der Abstimmung zu einem gestellten Beschlussantrag
(KölnKommAktG/Tröger, 3. Aufl. 2017, § 133 Rn. 75). Für die Beschlussfassung zu einem
bestimmten Gegenstand sind daher grundsätzlich ein Beschlussantrag, das Zur-
Abstimmung-Stellen des Beschlussantrags und die Stimmabgabe selbst erforderlich.

a) Beschlussantrag

Dem Beschlussantrag wird dabei keine eigenständige Rechtsqualität beigemessen
(KölnKommAktG/Tröger, § 133 Rn. 76; Schmidt/Lutter/Spindler, AktG, 4. Aufl.
2020, § 133 Rn. 10; Spindler/Stilz/Rieckers, AktG, 4. Aufl. 2019, § 133 Rn. 12). Dem
Beschlussantrag kommt insbesondere nicht die Rechtsnatur einer Willenserklärung zu.

Er stellt vielmehr nur den Bezugspunkt und damit eine Determinante des Erklärungsinhalts
der Stimmabgaben dar (KölnKommAktG/Tröger, § 133 Rn. 76;
Spindler/Stilz/Rieckers, § 133 Rn. 12).

b) Zur-Abstimmung-Stellen eines Beschlussantrags

Von der eben erwähnten Antragstellung strickt zu trennen ist der dem Versammlungsleiter
obliegende Akt des Zur-Abstimmung-Stellens eines Beschlussantrags
(KölnKommAktG/Tröger, § 133 Rn. 84). Diese Aufforderung des Versammlungsleiters
zur Abgabe der Stimmen bedeutet die formale Einleitung des eigentlichen Abstimmungsvorgangs
und damit die Klarstellung, worüber konkret abgestimmt wird (vgl.
KölnKommAktG/Tröger, § 133 Rn. 84; Ziemons/Binnewies/Ziemons, Handbuch
Aktiengesellschaft, Std.: Juli 2014, Rz. I 10.1135).

c) Konkrete Stimmabgabe

Hieran schließt sich die konkrete Stimmabgabe an. Die Stimmabgabe ist die Zustimmung
oder Ablehnung eines zur Abstimmung gestellten Antrags oder die Enthaltung.
Bei den Ja- und Nein-Stimmen handelt es sich hierbei um empfangsbedürftige
Willenserklärungen (BGH NJW 1952, 98, 99; BGHZ 14, 264, 267;
GroßkommAktG/Grundmann, 5. Aufl. 2020, § 133 Rn. 67; Max, AG 1991, 77, 87;
Schmidt/Lutter/Spindler, § 133 Rn. 16). Die Stimme ist gegenüber dem Versammlungsleiter
abzugeben. Für die Stimmabgabe gelten grundsätzlich die §§ 104 ff.,
119 ff., 130 BGB (BGH NJW 1952, 98, 99; BGHZ 14, 264, 267;
GroßkommAktG/Grundmann, § 133 Rn. 67; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020,
§ 133 Rn. 19). Abgegeben ist die Erklärung nach allgemeinen Grundsätzen, wenn der
Erklärende seinen rechtsgeschäftlichen Willen erkennbar so geäußert hat, dass an der
Endgültigkeit der Äußerung kein Zweifel möglich ist. Bei – wie vorliegend – empfangsbedürftigen
Erklärungen muss hinzukommen, dass sie mit Willen des Erklärenden in
den Verkehr gebracht worden sind (BGHZ 65, 13; Palandt/Ellenberger, BGB,
80. Aufl. 2021, § 130 Rn. 4). Wirksam wird die abgegebene Stimme mit Zugang beim
Versammlungsleiter.

2. Stimmabgabe vor Eröffnung des Abstimmungsvorgangs

a) Stimmabgabe mit „Aktivierung“ der Stimmen

Das Verfahren, wonach die Depotbanken ihre Stimmen zu Beginn der Hauptversammlung
beim Versammlungsleiter einreichen und diese nach Eröffnung der Abstimmung
„aktivieren“, stößt u. E. auf keine rechtlichen Bedenken. Die „Aktivierung“
der Stimmen kann dogmatisch als Abgabe der Willenserklärung verstanden
werden. Die Vorerfassung der Stimmen der Depotbanken durch den Versammlungsleiter
kann demgegenüber nur als Mitteilung zu Informationszwecken
vorab angesehen werden. In solchen Fällen ist die Erklärung, wenn sie erkennbar nur
zu Informationszwecken vorab mitgeteilt wird, noch nicht als abgegeben anzusehen
(BGH DNotZ 1983, 624; Palandt/Ellenberger, § 130 Rn. 4).

b) Stimmabgabe ohne „Aktivierung“ in der Hauptversammlung

Problematisch ist allerdings, ob die Stimmabgabe durch die Depotbanken auch ohne
den oben beschriebenen Aktivierungsvorgang in der Hauptversammlung möglich ist.

Die Depotbanken würden dann lediglich vor Zur-Abstimmung-Stellen eines Beschlussgegenstandes
ihre konkrete Stimmrechtsausübung dem Versammlungsleiter mitteilen
und hierauf nach Eröffnung des Abstimmungsvorgangs nicht mehr Bezug nehmen.

Soweit ersichtlich, wird zu dieser Frage in der Kommentarliteratur kaum Stellung bezogen.

Zugelassen wird aber ein vergleichbares Verfahren von Ziemons bei der Frage der
Teilnahme des von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreters an Abstimmungen
(sog. Proxy-Voting, inzident vorausgesetzt in § 134 Abs. 3 S. 5 AktG,
vgl. Hüffer/Koch, § 134 Rn. 26a; Schockenhoff, NZG 2015, 657, 659). Danach soll es
möglich sein, dass die Stimmen aus Aktien, für die im Vorfeld der Hauptversammlung
bereits Vollmachten und Weisungen erteilt wurden, entsprechend den Weisungen bereits
vor Beginn der Hauptversammlung eingelesen oder auf einem sog. Multi-Voter,
einer Stimmkarte, auf der die Ja- und Nein-Stimmen aller Vollmachtgeber hinterlegt
sind, vermerkt werden. Ziemons meint, dass im Hinblick auf die in der Hauptversammlung
erteilten Vollmachten dann unterschiedlich verfahren werden kann: Entweder
werden auch diese Stimmen unmittelbar vor Beginn der Abstimmung eingelesen,
oder sie werden vom Stimmrechtsvertreter im Saal abgegeben
(Ziemons/Binnewies/Ziemons, Rz. I 10.1162). Sie führt weiter aus, sofern und soweit
die Stimmabgabe des von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreters nicht im
Saal erfolge, sei darauf vom Versammlungsleiter hinzuweisen
(Ziemons/Binnewies/Ziemons, Rz. I 10.1163). Ziemons geht daher davon aus, dass in
diesen Fällen eine Aktivierung der Stimmen nach Eröffnung des Abstimmungsvorgangs
nicht erforderlich ist.

Dogmatisch ist allerdings unklar, wie die Stimmabgabe begründet werden kann, wenn
sie „vor“ Beginn der Abstimmung erfolgen soll. Die Stimme muss als empfangsbedürftige
Willenserklärung – um wirksam zu werden – abgegeben und zugegangen
sein. Der Bezugspunkt der Stimmabgabe ist der konkrete Beschlussantrag
(s. o.). Daher wird in der Literatur häufig lediglich formuliert, dass die Stimmabgabe
nach Aufforderung des Versammlungsleiters erfolgt (KölnKommAktG/Tröger, § 133
Rn. 84, 90; GroßkommAktG/Grundmann, § 133 Rn. 67;
Ziemons/Binnewies/Ziemons, Rz. I 10.1135; Hüffer/Koch, § 133 Rn. 18;
Schmidt/Lutter/Spindler, § 133 Rn. 15).

Denkbar wäre es zunächst daher, solchen Stimmen, die vor dieser Aufforderung abgegeben
wurden, mangels Bezugsgegenstand keinen tauglichen Erklärungsinhalt
zuzusprechen. Denn die Stimmabgabe erschöpft sich gerade in der Zustimmung oder
Ablehnung eines zur Abstimmung gestellten Antrages. Ohne entsprechenden Antrag
und entsprechende Aufforderung zur Stimmabgabe könnte die Stimmabgabe ins Leere
gehen.

Dogmatisch wäre zweitens allerdings auch zu erwägen, dem Schweigen der Depotbanken
in dieser bestimmten Situation objektiven Erklärungswert beizumessen
(beredtes Schweigen). Dann müsste das Schweigen als Erklärungszeichen vereinbart
worden sein (vgl. Max, AG 1991, 77, 87; Palandt/Ellenberger, Einf. Vor § 116 Rn. 7).

In diesen Fällen wäre das Schweigen ein echter Erklärungsakt, da es alle Voraussetzungen
einer Willenserklärung erfüllt (Palandt/Ellenberger, Einf. Vor § 116 Rn. 7
a. E.). Im konkreten Fall könnte man in der Mitteilung der Depotbanken, wie in der
Hauptversammlung abgestimmt werden soll, ein Angebot zu einem sog. beredeten
Schweigen sehen. Der Versammlungsleiter könnte dieses durch Entgegennahme der
Mitteilung zur Stimmrechtsausübung annehmen.

Zuletzt wäre zu überlegen, ob die „Stimmabgabe“ vor Eröffnung des Abstimmungsvorgangs
als Briefwahl eingeordnet werden könnte. Eine solche müsste nach § 118
Abs. 2 AktG in der Satzung vorgesehen sein. Die Stimmabgabe durch die Briefwahl ist
grundsätzlich auch während der Hauptversammlung möglich (Beck’sches Notar-
Handbuch/Heckschen, 7. Aufl. 2019, § 23 Rn. 364; Noack, WM 2009, 2289, 2291) und
ist in der notariellen Urkunde zu vermerken (Herrler, NJW 2018, 585, 586). Die Briefwahl
ist allerdings ein Instrument der Abgabe von Stimmen von nicht bei der Hauptversammlung
anwesenden Personen. Daher wird teilweise vertreten, dass das persönliche
Erscheinen einer Person, die von der Briefwahl Gebrauch gemacht hat, diese
Briefwahlstimmen ungültig macht (Schaaf/Slowinski, ZIP 2011, 2444, 2446;
Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349, 359). Die vorliegend geschilderte Konstellation ist
u. E. aufgrund der Anwesenheit der Depotbanken in der Hauptversammlung wohl
nicht als Stimmabgabe durch Briefwahl einzuordnen. Jedenfalls bestünden insoweit erhebliche
rechtliche Unsicherheiten der Handhabung.

3. Ergebnis

U. E. hat die Stimmabgabe in der Hauptversammlung zwischen Eröffnung und Schließung
des Abstimmungsvorgangs zu erfolgen. Sofern auf Stimmen Bezug genommen werden soll,
die vor diesem Zeitfenster dem Versammlungsleiter mitgeteilt worden sind, könnte u. E. die
Willenserklärung durch sog. beredtes Schweigen dogmatisch konstruiert werden. In der
Literatur ist dieser Weg bislang allerdings nicht beschritten worden.

Gutachten/Abruf-Nr:

176808

Erscheinungsdatum:

15.12.2020

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Aktiengesellschaft (AG)

Normen in Titel:

AktG § 135; AktG § 133