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G u t a c h t e n d e s D e u t s c h e n No t a r i n s t i t u t s Abruf-Nr.: 111852 l e t zt e A k t u a l i s i e r un g : 27. Januar 2012
BGB §§ 927, 940 Abs. 1, 943 Aufgebotsverfahren; Berechtigung nach Aufgabe des Eigenbesitzes; Zurechung der Zeit des Eigenbesitzes
I. Sachverhalt Der Eigentümer eines Wohnhauses hatte eine davor liegende Wegeparzelle über 30 Jahre lang im Eigenbesitz. Vor weniger als 30 Jahren hat er das Wohnhaus unter Nießbrauchsvorbehalt auf seine beiden Kinder übertragen. Erst nachträglich fiel auf, dass beim ursprünglichen Erwerb des Wohnhauses die Übertragung der Wegefläche vergessen worden war. Infolge dieses Versehens wurde die Wegefläche auch nicht auf die Kinder übertragen. Der eingetragene Eigentümer ist verstorben; seine Erben sind nicht vollständig zu ermitteln. II. Fragen 1. Kann der frühere Eigentümer (die Mutter) noch die Durchführung eines Aufgebotsverfahrens zum Ausschluss des Eigentümers durchführen oder scheitert dies an fehlendem Eigenbesitz? Können die neuen Eigentümer (die Kinder) ein solches Aufgebotsverfahren beantragen weil ihnen die frühere Eigentumszeit ihrer Mutter zugute kommt oder scheitert das Verfahren am fehlenden 30-jährigen Eigenbesitz ?
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III. Zur Rechtslage 1. Eigenbesitz a) Vorbemerkung Nach § 927 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks, wenn das Grundstück seit 30 Jahren im Eigenbesitz eines anderen ist, im Wege des Aufgebotsverfahrens mit seinem Recht ausgeschlossen werden. Ist der Eigentümer im Grundbuch eingetragen, so ist nach § 927 Abs. 1 S. 3 BGB das Aufgebotsverfahren nur zulässig, wenn er gestorben oder verschollen ist und eine Eintragung in das Grundbuch, die der Zustimmung des Eigentümers bedurfte, seit 30 Jahren nicht erfolgt ist.
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Nach dem mitgeteilten Sachverhalt wird davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 927 Abs. 1 S. 3 BGB vorliegen. Fraglich ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 927 Abs. 1 S. 1 BGB, namentlich des Eigenbesitzes. Die Frage des Eigenbesitzes ist auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht relevant, da nach § 443 FamFG bei Aufgebotsverfahren des Grundstückseigentümers derjenige antragsberechtigt ist, der das Grundstück seit der in § 927 BGB bestimmten Zeit im Eigenbesitz hat. b) Erwerb und Verlust des Eigenbesitzes Der Eigenbesitz ist in § 872 BGB geregelt. Demnach ist Eigenbesitzer, wer eine Sache als ihm gehörend besitzt. Damit ist für das Vorliegen von Eigenbesitz zunächst der unmittelbare oder im Einzelfall auch mehrstufige mittelbare Besitz an der Sache erforderlich (vgl. BeckOK/Fritzsche, BGB, Edition 19, Stand: 1.3.2011, § 872 Rn. 3; MünchKomm/Joost, BGB, 5. Aufl. 2009, § 872 Rn. 2; Staudinger/Bund, BGB, Stand: 2007, § 872 Rn. 4, jeweils m. w. N.). Weiterhin notwendig ist der Eigenbesitzerwille. Hierzu muss der Besitzer die Sache als ihm gehörend besitzen (animus domini). Notwendig ist somit, dass der Eigenbesitzer die tatsächliche Gewalt über die Sache mit dem natürlichen Willen ausübt, sie als ihm gehörend zu besitzen (BeckOK/Fritzsche, BGB, § 872 Rn. 4; Staudinger/Bund, BGB, § 872 Rn. 2; MünchKomm/Joost, BGB, § 872 Rn. 3, jeweils m. w. N.). Auch der Verlust des Eigenbesitzes folgt den dargestellten Regeln. Eigenbesitz geht demnach verloren, wenn entweder der unmittelbare oder mittelbare Besitz endet, oder der Eigenbesitzwille aufgeben wird. Letzteres ist regelmäßig bei Vereinbarung eines Besitzmittlungsverhältnisses der Fall (vgl. BeckOK/Fritzsche, BGB, § 872 Rn. 10; MünchKomm/Joost, BGB, § 872 Rn. 12; Staudinger/Bund, BGB, § 872 Rn. 12, jeweils m. w. N.). c) Eigenbesitz im vorliegenden Fall Ausgehend von dem mitgeteilten Sachverhalt ist davon auszugehen, dass die Mutter ursprünglich Eigenbesitzerin i. S. d. § 872 BGB war, sie mithin die tatsächliche Gewalt über das Wegegrundstück mit dem natürlichen Willen ausgeübt hat, dieses als ihr gehörend zu besitzen. Ob Sie den Eigenbesitz mit der Übertragung des Eigentums an dem angrenzenden ,,Wohnhausgrundstück" verloren hat, ist Tatfrage. Geht man davon aus, dass die Lage entsprechend dem angrenzenden ,,Wohnhausgrundstücks" zu beurteilen ist, wird man dies wohl zu bejahen haben. Zwar war die Mutter ggf. weiterhin Besitzerin des ,,Wegegrundstücks", aufgrund des (vermeintlichen) Nießbrauchsrechts als Besitzmittelungsverhältnis fehlte es jedoch wohl am Eigenbesitzwillen. Ob die Kinder seit dem Erwerb des ,,Wohnhausgrundstücks" Eigenbesitzer des ,,Wegegrundstücks" sind, ist ebenfalls Tatfrage. Geht man auch hier davon aus, dass die Lage entsprechend dem angrenzenden ,,Wohnhausgrundstücks" zu beurteilen ist, wird man dies wohl zu bejahen haben. Zwar war die Mutter wohl weiterhin unmittelbare Besitzerin des ,,Wegegrundstücks", aufgrund des (vermeintlichen) Nießbrauchsrechts als Besitzmittelungsverhältniss waren die Kinder jedoch wohl mittelbare Besitzer, was für Eigenbesitz ausreicht. Sofern die Kinder als mittelbare Besitzer das ,,Wegegrundstück" als ihnen gehörend besitzen bzw. bessessen haben, wäre der Eigenbesitzwillen und damit der Eigenbesitz zu bejahen.
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Aufgebotsverfahren durch die Mutter als ursprüngliche Eigenbesitzerin Nach dem Vorstehenden ist davon auszugehen, dass die Mutter für eine längere Zeit als 30 Jahre Eigenbesitzerin war, diesen Eigenbesitz mittlerweile jedoch verloren hat. Es stellt sich demnach die Frage, ob das Aufgebotsverfahren auch durch einen ehemaligen Eigenbesitzer betrieben werden kann. Soweit ersichtlich wird diese Frage bislang weder durch die Rechtsprechung noch durch die Literatur behandelt. Unseres Erachtens kann ein Aufgebotsverfahren nach § 927 BGB nur durch eine Person betrieben werden, die zu diesem Zeitpunkt noch Eigenbesitzer ist. Zwar ist zuzugeben, dass § 927 Abs. 1 S. 1 BGB insoweit nicht gänzlich eindeutig ist. Jedoch spricht bereits der Wortlaut des § 927 Abs. 1 S. 1 BGB für ein solches Ergebnis, wenn es dort heißt, dass Voraussetzung ist, dass das Grundstück seit 30 Jahren im Eigenbesitz eines anderen "ist". Ebenfalls für dieses Ergebnis spricht der Wortlaut des § 443 FamFG, nach dem derjenige antragsberechtigt ist, der das Grundstück seit der in § 927 BGB bestimmten Zeit im Eigenbesitz "hat". Ebenso spricht für ein solches Verständnis Sinn und Zweck des § 927 BGB. Sinn und Zweck des § 927 BGB ist insbesondere, das Auseinanderfallen von Eigenbesitz und Eigentum nach angemessener Frist zu beenden (vgl. Süß, AcP 151 [1950/51] 1, 13 ff.; Siebels, MittRhNotK 1971, 439, 442; Staudinger/Pfeifer, BGB, § 927 Rn. 1; MünchKomm/Kanzleiter, BGB, § 927 Rn. 1, jeweils m. w. N.). Schließlich folgt dieses Ergebnis nach unserem Verständnis auch unmittelbar aus dem Gesetz. Nach § 927 Abs. 1 S. 2 BGB wird die Besitzzeit in gleicher Weise berechnet wie die Frist für den Ersitzung einer beweglichen Sache. Für die Berechnung bei einer beweglichen Sache gelten insbesondere die §§ 939 ff. BGB. Der hiernach anwendbare § 940 Abs. 1 BGB regelt, dass die Ersitzung durch den Verlust des Eigenbesitzes unterbrochen wird. Die Ausnahme nach § 940 Abs. 2 BGB kommt hier nicht in Betracht, da die Unterbrechung vorliegend nicht ohne den Willen des bisherigen Eigenbesitzers erfolgt ist. Die Wirkung der Unterbrechung richtet sich nach § 942 BGB. Wird die Ersitzung unterbrochen, so kommt hiernach die bis zur Unterbrechung verstrichene Zeit nicht in Betracht; eine neue Ersitzung kann erst nach der Beendigung der Unterbrechung beginnen.
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Aufgebotsverfahren durch die Kinder als jetzige Eigenbesitzer Soweit die Kinder als Eigenbesitzer anzusehen sind, können diese prinzipiell das Aufgebotsverfahren betreiben. Allerdings sind die Kinder selbst noch nicht seit wenigsten 30 Jahren Eigenbesitzer. Vorraussetzung für den Ablauf der 30-Jahresfrist bereits zum jetzigen Zeitpunkt wäre, dass die Kinder als jetzige Eigenbesitzer sich den Eigenbesitz der Mutter als frühere Eigenbesitzerin in zeitlicher Hinsicht zurechnen dürfen. a) Fristanrechnung gem. § 927 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 943 BGB Eine Regelung zur Fristenanrechung ist unmittelbar in § 927 BGB nicht vorgesehen. Jedoch findet nach nahezu einhelliger Ansicht § 943 BGB im Rahmen des § 927 BGB Anwendung (vgl. BeckOK-BGB/Grün, § 927 Rn. 2; JurisPK/Benning, BGB, 5. Aufl. 2010, § 927 Rn. 7; Staudinger/Pfeifer, § 927 Rn. 9; Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 14. Aufl. 2008, Rn. 1022; Muhr, MittRhNotK 1965, 148, 166; Siebels, MittRhNotK 1971, 439, 458. Unentschieden ist hingegen MünchKomm/Kanzleiter, BGB, § 927 Rn. 2 Fn. 2, nach dem [freilich ohne nähere Begründung und nähere Ausführungen] fraglich ist, ob § 943 BGB unmittelbar anwendbar ist). Unseres Erachtens ist der ganz h. M. zu folgen. Entgegen der verbreiteten Zitierung im Schrifttum lässt sich hierfür zwar nicht die Entscheidung des OLG Bamberg (NJW 1966, 1413) anführen, da sich dieses mit der Frage nicht beschäftigt hat (es wird dort lediglich feststellt, dass der im Erbgang
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erworbene Eigenbesitz nach § 857 BGB weder rechtlich noch tatsächlich dem Eigenbesitz eines anderen entgegensteht). Die Anwendung des § 943 BGB auf § 927 BGB folgt jedoch unmittelbar aus der Verweisung in § 927 Abs. 1 S. 2 BGB, da es sich bei § 943 BGB um eine der Regelungen zur Berechnung der Länge der Besitzzeit bei beweglichen Sachen handelt. b) Fristanrechnung im konkreten Fall Voraussetzung für eine Fristanrechnung ist nach § 943 BGB, dass die Sache durch Rechtsnachfolge in den Eigenbesitz eines Dritten gelangt. Ist dies der Fall, so kommt die während des Besitzes des Rechtsvorgängers verstrichene Ersitzungszeit dem Dritten zugute. Notwendig ist für eine Fristanrechnung demnach zunächst ein Übergang im Eigenbesitz, mithin von einem Eigenbesitzer auf einen anderen Eigenbesitzer (vgl. MünchKomm/Baldus, § 943 Rn. 5). Dies dürfte entsprechend der obigen Ausführungen nach dem mitgeteilten Sachverhalt wohl vorliegen. Weiterhin ist nach § 943 BGB Voraussetzung für eine Fristanrechnung, dass die Sache durch Rechtsnachfolge in den Eigenbesitz des Dritten gelangt. Der Begriff der "Rechtsnachfolge" ist hierbei jedoch nicht technisch zu verstehen, insbesondere ist ein wirksames Veräußerungsgeschäft nicht erforderlich (vgl. MünchKomm/Baldus, BGB, § 943 Rn. 2; Staudinger/Wiegand, BGB, § 943 Rn. 2; BeckOK/Kindl, BGB, § 943 Rn. 2, jeweils m. w. N.). "Rechtsnachfolge" i. S. d. § 943 BGB liegt vielmehr immer dann vor, wenn der neue Besitzer sein Besitz von dem früheren ableiten kann. Hierzu genügt eine tatsächliche Übereinkunft zwischen altem und neuem Besitzer (vgl. MünchKomm/Baldus, BGB, § 943 Rn. 2; Staudinger/Wiegand, BGB, § 943 Rn. 2; BeckOK/Kindl, BGB, § 943 Rn. 2, jeweils m. w. N.). Eine Rechtsnachfolge in diesem Sinne dürfte vorliegend nach dem mitgeteilten Sachverhalt anzunehmen sein, da der jetzige (mittelbare) Eigenbesitzer seinen Besitz unmittelbar vom bisherigen Eigenbesitzer ableitet.