BFH 12. Juni 2018
VIII R 32/16
EStG §§ 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 6 S. 6, 32d Abs. 4, 43a Abs. 3 S. 4; AO § 42

Einkommensteuerliche Berücksichtigung von Verlusten bei Aktienveräußerungen

letzte Aktualisierung: 30.11.2018
BFH, Urt. v. 12.6.2018 – VIII R 32/16

EStG §§ 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 6 S. 6, 32d Abs. 4, 43a Abs. 3 S. 4; AO § 42
Einkommensteuerliche Berücksichtigung von Verlusten bei Aktienveräußerungen

1. Eine Veräußerung i. S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist weder von der Höhe der
Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig (entgegen BMFSchreiben
vom 18. Januar 2016 IV C 1-S 2252/08/10004, BStBl I 2016, 85, Rz 59).
2. Es steht grundsätzlich im Belieben des Steuerpflichtigen, ob, wann und mit welchem Ertrag er
Wertpapiere erwirbt und wieder veräußert (vgl. BFH-Urteil vom 25. August 2009 IX R 55/07,
BFH/NV 2010, 387, Rz 13). Dadurch macht der Steuerpflichtige lediglich von gesetzlich
vorgesehenen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch, missbraucht diese aber nicht.

Entscheidungsgründe

II.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Das FG ist zu Recht von einem steuerlich anzuerkennenden Verlust gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 4
Satz 1 EStG ausgegangen, der aufgrund des Antrags des Klägers im Rahmen der (Antrags-)Veranlagung nach § 32d
Abs. 4 EStG mit Gewinnen des Klägers aus Aktienveräußerungen zu verrechnen ist (§ 20 Abs. 6 Satz 4 EStG).

a) Gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen auch Gewinne aus der
Veräußerung von Aktien. Vom Anwendungsbereich des Gesetzes ist gemäß § 20 Abs. 4 und Abs. 6 EStG auch ein
negativer Gewinn --ein Veräußerungsverlust-- erfasst (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Januar 2016
IX R 48/14, BFHE 252, 423, BStBl II 2016, 456, Rz 18, a.E.).

Eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist die entgeltliche Übertragung des --zumindest
wirtschaftlichen-- Eigentums auf einen Dritten (vgl. nur BFH-Urteil vom 12. Mai 2015 IX R 57/13, BFH/NV 2015, 1364,
Rz 15; Senatsurteil vom 24. Oktober 2017 VIII R 13/15, BFHE 259, 535, Rz 15; Blümich/Ratschow, § 20 EStG Rz 351;
Buge in Herrmann/Heuer/ Raupach --HHR--, § 20 EStG Rz 422). Eine entgeltliche Anteilsübertragung in diesem Sinne
liegt auch vor, wenn wertlose Anteile zwischen fremden Dritten ohne Gegenleistung (BFH-Urteile vom 1. Oktober 2014
IX R 13/13, BFH/NV 2015, 198, Rz 15; vom 12. Mai 2015 IX R 57/13, BFH/NV 2015, 1364, Rz 15, und Senatsurteil in
BFHE 259, 535, Rz 17) oder gegen einen lediglich symbolischen Kaufpreis (BFH-Urteil vom 6. April 2011 IX R 61/10,
BFHE 233, 446, BStBl II 2012, 8, Rz 13) übertragen werden.

Weitere Tatbestandsmerkmale als den entgeltlichen Rechtsträgerwechsel stellt das Gesetz nicht auf
(Niedersächsisches FG, Urteil vom 21. Mai 2014 2 K 309/13, EFG 2014, 1584). Die Erfüllung des Tatbestands der
Veräußerung gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist daher insbesondere weder von der Höhe der Gegenleistung
noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig (entgegen BMF-Schreiben in BStBl I 2016, 85,
Rz 59; vgl. auch Jansen, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2016, 2729, 2732; HHR/Buge, § 20 EStG Rz 422; Geurts in
Bordewin/Brandt, § 20 EStG Rz 740; Blümich/Ratschow, § 20 EStG Rz 353a; Knoblauch, DStR 2013, 798, 800).

b) Nach den bindenden Feststellungen des FG hat der Kläger die Anteile an der G-SE im Streitjahr gegen einen
Kaufpreis von 8 EUR bzw. 6 EUR --und damit entgeltlich-- auf einen Dritten übertragen. Es liegen deshalb
Veräußerungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG vor, was auch das FA und das BMF im Revisionsverfahren
nicht mehr in Abrede gestellt haben.

c) Der nach § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG zu ermittelnde Verlust aus den Veräußerungsgeschäften beträgt unstreitig
insgesamt 5.759,78 EUR.

2. Entgegen der Auffassung des FA und des BMF liegt kein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 42
AO vor.

a) Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz
nicht umgangen werden. Ein Missbrauch nach § 42 Abs. 2 Satz 1 AO ist gegeben, wenn eine unangemessene
rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer
angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt.
Das Motiv, Steuern zu sparen, macht eine Gestaltung noch nicht unangemessen (Beschluss des Großen Senats des
BFH vom 29. November 1982 GrS 1/81, BFHE 137, 433, BStBl II 1983, 272, unter C.III., und BFH-Urteil vom 29. Mai
2008 IX R 77/06, BFHE 221, 231, BStBl II 2008, 789, unter II.2.a). Der Steuerpflichtige darf seine Verhältnisse
grundsätzlich so gestalten, dass keine oder möglichst geringe Steuern anfallen (BFH-Urteil vom 19. Januar 2017
IV R 10/14, BFHE 256, 507, BStBl II 2017, 466, Rz 46) und dabei zivilrechtliche Gestaltungen, die vom Gesetz
vorgesehen sind, frei verwenden (BFH-Urteil vom 22. Juni 2017 IV R 42/13, BFHE 259, 258, Rz 60). Eine rechtliche
Gestaltung ist erst dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte
Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen
Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll (BFH-Urteile vom
8. März 2017 IX R 5/16, BFHE 257, 211, BStBl II 2017, 930, Rz 17, und in BFHE 221, 231, BStBl II 2008, 789, unter
II.2.a). Eine Gestaltung, die überhaupt keinen erkennbaren wirtschaftlichen Zweck hat, kann der Besteuerung nicht
zugrunde gelegt werden. Das ist z.B. der Fall, wenn durch mehrere Geschäfte, die sich wirtschaftlich gegenseitig
neutralisieren, lediglich ein steuerlicher Vorteil erzielt werden soll oder wenn die Gestaltung in ihrer wirtschaftlichen
Auswirkung durch eine gegenläufige Gestaltung kompensiert wird und sich deshalb im Ergebnis lediglich als formale
Maßnahme erweist (BFH-Urteil in BFHE 257, 211, BStBl II 2017, 930, Rz 17, m.w.N.).

b) Nach diesen Grundsätzen liegt hier kein Missbrauch i.S. des § 42 AO vor.
Der Kläger verfolgte das Ziel, sich von den nahezu wertlosen Wertpapieren durch Übertragung auf einen Dritten zu
trennen. Dieses Ziel war (sinnvoll) nicht anders als durch eine Veräußerung zu erreichen. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
EStG sieht die Veräußerung von Aktien ausdrücklich vor und unterwirft sie der Besteuerung. Der Kläger hat daher
nicht gegen eine vom Gesetzgeber vorgegebene Wertung verstoßen, sondern lediglich von einer ihm durch das
Gesetz eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht. Daran ändert sich nichts dadurch, dass ein Verlustgeschäft
vorliegt, denn auch Veräußerungsverluste werden, wie ausgeführt (oben unter II.1.a), vom Anwendungsbereich des
§ 20 EStG erfasst.
Selbst wenn, wie das FA meint, wegen der Höhe der Transaktionskosten wirtschaftlich eine Veräußerung zum Preis
von 0 EUR anzunehmen wäre, läge kein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten vor. Nach gefestigter
Rechtsprechung des BFH stellte vielmehr auch diese Gestaltung ohne Weiteres --als Übertragung wertloser Anteile
ohne Gegenleistung-- eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG dar (vgl. oben unter II.1.a). Die
Argumente des FA, es liege ein wirtschaftlich sinnloses Geschäft vor, geht ebenfalls fehl. Das anzuerkennende
wirtschaftliche Ziel des Klägers bestand in der Veräußerung der Aktien als solcher, unabhängig vom erzielbaren
Ertrag. (Mutmaßliche) Vor- oder Nachteile des Erwerbers aus dem Veräußerungsgeschäft sind im Rahmen der
vorliegenden Prüfung unerheblich.
Der Kläger durfte sich im Hinblick auf mögliche steuerliche Auswirkungen auch für die Veräußerung noch im Streitjahr
entscheiden. Soweit das Steuergesetz an freie wirtschaftliche Dispositionen --hier Aktienveräußerungen-- anknüpft,
liegt es in der Natur der Sache, dass der Steuerpflichtige den Zeitpunkt bzw. Zeitraum der Besteuerung bestimmen
kann. Es steht grundsätzlich in seinem Belieben, ob, wann und mit welchem Ertrag er Wertpapiere erwirbt und wieder
veräußert (vgl. BFH-Urteil vom 25. August 2009 IX R 55/07, BFH/NV 2010, 387, Rz 13). Auch dadurch macht der
Steuerpflichtige lediglich von gesetzlich vorgesehenen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch, missbraucht diese aber
nicht (vgl. BFH-Urteile vom 11. Oktober 2000 I R 99/96, BFHE 193, 330, BStBl II 2001, 22, unter II.1.g aa, und in
BFH/NV 2010, 387, Rz 13).

Die vom FA angeführte alternative Handlungsmöglichkeit, die Wertpapiere nicht zu veräußern, sondern im Depot zu
belassen, damit sie "dann" (irgendwann) "schlicht" ausgebucht würden, ignoriert das wirtschaftliche Ziel des Klägers,
sich sofort von den Wertpapieren zu trennen, und kann daher nicht als "angemessene Gestaltung" nach § 42 Abs. 2
Satz 1 AO zum Vergleich herangezogen werden. Ungeachtet hier nicht zu klärender Fragen über die zivil- und
steuerrechtliche Einordnung und die tatsächlichen Bedingungen einer Ausbuchung darf die Dispositionsfreiheit des
Klägers nicht durch steuerliche Sanktionen derart eingeschränkt werden, dass er sich auf unbestimmte Zeit nicht von
(lästig gewordenen) Aktien trennen kann.

3. Nach zutreffender Auffassung des FG steht die Regelung des § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG der Verlustverrechnung
nicht entgegen. Diese Vorschrift, nach der Verluste aus Kapitalvermögen, die der Kapitalertragsteuer unterliegen, nur
verrechnet werden dürfen, wenn eine Bescheinigung der auszahlenden Stelle i.S. des § 43a Abs. 3 Satz 4 EStG
vorliegt, dient der Verhinderung eines doppelten Verlustabzugs. Eine solche Gefahr ist im vorliegenden Fall nicht
gegeben. Die Sparkasse X ging aufgrund der veröffentlichten Auffassung der Finanzverwaltung davon aus, dass der
erzielte Verlust einkommensteuerrechtlich unbeachtlich war. Es ist daher ausgeschlossen, dass der Verlust doppelt
berücksichtigt wird. Es wäre reiner Formalismus, in diesem Fall für die Verlustverrechnung eine Bescheinigung i.S.
des § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG zu verlangen (Senatsurteile vom 20. Oktober 2016 VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl II
2017, 264, Rz 34; vom 9. Mai 2017 VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BStBl II 2018, 262, Rz 28, und vom 29. August 2017
VIII R 23/15, BFHE 259, 336, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2018, 37, Rz 20).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
Siehe auch: Pressemitteilung Nr. 49/18 vom 19.9.2018

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BFH

Erscheinungsdatum:

12.06.2018

Aktenzeichen:

VIII R 32/16

Rechtsgebiete:

Einkommens- und Körperschaftssteuer

Erschienen in:

MittBayNot 2018, 386-391

Normen in Titel:

EStG §§ 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 6 S. 6, 32d Abs. 4, 43a Abs. 3 S. 4; AO § 42