VG Aachen 01. April 2020
3 K 1357/16
BauO NW 1984 § 78; BauO NRW 2018 §§ 58 Abs. 2, 82 S. 2, 86 Abs. 1 S. 1; VwVfG NRW §§ 35 S. 1, 43 Abs. 2, 44

Kein Anspruch des Nachbarn auf Beseitigung bestandskräftiger Wohnnutzung

letzte Aktualisierung: 23.07.2020
VG Aachen, Urt. v. 1.4.2020 – 3 K 1357/16

BauO NW 1984 § 78; BauO NRW 2018 §§ 58 Abs. 2, 82 S. 2, 86 Abs. 1 S. 1; VwVfG NRW §§ 35
S. 1, 43 Abs. 2, 44
Kein Anspruch des Nachbarn auf Beseitigung bestandskräftiger Wohnnutzung

1. Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, kann diese
Nutzung nach § 82 Satz 2 BauO NRW 2018 untersagt werden.
2. Ein Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten folgt aus dieser
Eingriffsermächtigung, wenn die angegriffene Nutzung nicht durch eine bestandskräftige
Baugenehmigung gedeckt wird, die Nutzung rechtswidrig ist und den klagenden Nachbarn in seinen
Rechten verletzt, dieser seine Abwehrrechte nicht verwirkt hat sowie das Ermessen der Behörde auf
Null reduziert ist.
3. Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung beruht darauf, dass eine erteilte
Baugenehmigung entsprechend ihrer Verwaltungsaktqualität für die Dauer ihrer Wirksamkeit
bindend ist, soweit darin eine bestimmte Regelung enthalten ist, vgl. §§ 35 Satz 1, 43 Abs. 2 VwVfG
NRW. Regelungsgehalt einer Baugenehmigung ist insbesondere die Feststellung, dass der geplanten
Errichtung einer baulichen Anlage keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, vgl.
§ 74 BauO Abs. 1 NRW 2018.
4. Nach dem unverändert gebliebenen Regelungsmodell der Landesbauordnungen NRW sind
Baulast und Baugenehmigung rechtlich selbständig. Stellt sich heraus, dass die bestellte Baulast – wie
im vorliegenden Fall – unwirksam ist und damit die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzung,
für die sie bestellt wurde, nicht gewährleisten kann, ist die auf ihrer Grundlage erteilte
Baugenehmigung in aller Regel als rechtswidrig, aber gleichwohl als wirksam anzusehen.
5. Verstößt eine private Wohnnutzung gegen Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Art der
baulichen Nutzung (Gewerbegebiet), so verletzt sie damit zugleich nachbarschützende Vorschriften.
6. Verwirkt ist ein Nachbaranspruch auf Einschreiten, wenn seit der Möglichkeit der
Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten,
die die spätere Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment).
7. Unterlässt es ein unmittelbarer und mit der baulichen Situation aufgrund einer
Familienzugehörigkeit genau vertrauter Nachbar in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren seine
Abwehrrechte geltend zu machen, ist davon auszugehen, dass die verpflichteten Nachbarn nach
Treu und Glauben darauf vertrauen durften und auch darauf vertraut haben, dass ein nachbarliches
Abwehrrecht gegen eine private Wohnnutzung im Gewerbegebiet nicht mehr ausübt wird.
8. Von der Verwirkung der Nachbarrechte bleiben die Eingriffsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörde
wegen einer Verletzung objektiven Baurechts unberührt.

Entscheidungsgründe

Die Kammer kann im Einverständnis mit den Beteiligten durch den Vorsitzenden und ohne
mündliche Verhandlung entscheiden, vgl. §§ 87a Abs. 2, 101 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Nachbarklage auf bauaufsichtliches Einschreiten hat keinen Erfolg.
Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte gegen die angegriffene
Wohnnutzung auf dem Nachbargrundstück einschreitet, vgl. § 113 Abs. 5 VwGO.
Die Beurteilung eines derartigen Anspruchs richtet sich nach der Rechtslage zum
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung; maßgeblich ist damit § 58 Abs. 2 i.V.m. § 82
Satz 2 der Bauordnung (BauO) NRW 2018.

Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW 2018 haben die Bauaufsichtsbehörden bei der
Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und Beseitigung sowie bei der Nutzung und
Instandhaltung von Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen
Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten
werden, soweit nicht andere Behörden zuständig sind. Sie haben in Wahrnehmung dieser
Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, vgl.
§ 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW 2018.

Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, kann diese
Nutzung untersagt werden, vgl. § 82 Satz 2 BauO NRW 2018.

Ein – hier geltend gemachter - Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten
folgt aus dieser Eingriffsermächtigung, wenn die angegriffene Nutzung nicht durch eine
bestandskräftige Baugenehmigung gedeckt wird, die Nutzung rechtswidrig ist und den
klagenden Nachbarn in seinen Rechten verletzt, dieser seine Abwehrrechte nicht verwirkt
hat sowie das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist.

Vgl. nur Oberverwaltungsgerichts (OVG) NRW, Urteil vom 22. August 2005 – 10 A
3611/03 –, juris Rn. 35 („Balkon”).

Vorliegend fehlt es bereits an der erstgenannten Anspruchsvoraussetzung. Die
angegriffene Wohnnutzung auf dem Grundstück Tulpenweg 15 ist nach wie vor durch die
bestandskräftige Baugenehmigung vom 3. März 1993 gedeckt.

Die Baugenehmigung vom 3. März 1993 ist in Bestandskraft erwachsen.

Die Klägerin hat gegen den Hausbau auf dem Nachbargrundstück Tulpenweg 15 keinen
‑ seinerzeit statthaften ‑ Nachbarwiderspruch erhoben. Zwar hatte sie mangels amtlicher
Bekanntgabe der Baugenehmigung vom 3. März 1993 die einmonatige Frist zur Einlegung
eines Nachbarwiderspruchs (§ 70 i.V.m. § 58 VwGO) nicht zu beachten. Maßgeblich für
die eingetretene Bestandskraft ist vielmehr der Umstand, dass die Klägerin innerhalb
eines Jahres seit dem Zeitpunkt, als sie von der Baugenehmigung Kenntnis erlangt hat
oder hätte erlangen müssen (§ 70 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO) keinen Nachbarwiderspruch
erhoben hat. Dieses Verhalten führt nach den im Nachbarschaftsverhältnis geltenden
Grundsätzen von Treu und Glauben dazu, dass das nachbarliche Widerspruchsrecht als
verwirkt anzusehen ist.

Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 25. Januar 1974 - 4 C 2.72 -, juris, 2.
Leitsatz.

Die bestandskräftige Baugenehmigung vom 3. März 1993 deckt („legalisiert“) die
angegriffene Wohnnutzung.

Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung beruht darauf, dass eine erteilte
Baugenehmigung entsprechend ihrer Verwaltungsaktqualität für die Dauer ihrer
Wirksamkeit bindend ist, soweit darin eine bestimmte Regelung enthalten ist, vgl. §§ 35
Satz 1, 43 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) NRW. Regelungsgehalt
einer Baugenehmigung ist insbesondere die Feststellung, dass der geplanten Errichtung
einer baulichen Anlage keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, vgl. § 74
BauO NRW 2018.

Vgl. jüngst Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen Urteil vom 12. November 2019 – 6 K
5557/17 –, juris Rn. 53 f. m.w.N.

Maßgeblich ist die äußere Wirksamkeit und der konkrete Inhalt einer bestandskräftigen
Baugenehmigung. Unerheblich ist dagegen die Frage, ob die Baugenehmigung
rechtmäßig oder rechtswidrig ist.

Die Wirksamkeit einer Baugenehmigung ist nach § 43 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes NRW zu beurteilen. Nach dieser Vorschrift wird ein
Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, in dem Zeitpunkt wirksam,
in dem er ihm bekannt gegeben wird (Abs. 1 Satz 1). Ferner wird er mit dem Inhalt
wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird (Abs. 1 Satz 2). Ein Verwaltungsakt bleibt
wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig
aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (Abs. 2). Ein nichtiger
Verwaltungsakt ist unwirksam (Abs. 3).

Die Baugenehmigung vom 3. März 1993 ist nicht nichtig, vgl. § 44 VwVfG NRW.
Sie ist mit ihrer Bekanntgabe (formell) wirksam geworden. Die Bekanntgabe erfolgte am 8.
März 1993 im Wege der Zustellung per Einschreiben an die Beigeladene zu 1) und 2), vgl.
§ 41 Abs. 5 VwVfG NRW i.V.m. §§ 2, 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes
(VwZG) NRW

Die Baugenehmigung vom 3. März 1993 ist nach wie vor wirksam; Unwirksamkeitsgründe
sind nicht gegeben. Insbesondere ist die Baugenehmigung nicht mit Blick auf das
rechtliche Schicksal der bei ihrem Erlass geforderten Baulast als unwirksam anzusehen.
Zwar hat die Beklagte diese Baulast mangels Wirksamkeit (auf Anregung der
Beigeladenen zu 1) und 2)) zu Recht von Amts wegen aus dem Baulastenverzeichnis für
das Grundstück Tulpenweg 15 (Flurstück 310) gelöscht. Die Baulast ist nämlich eine
öffentlich-rechtliche Belastung des Grundstücks und kann daher nur vom jeweils
berechtigten Grundstückseigentümer abgegeben werden. Der eindeutige Wortlaut des §
78 Abs. 1 Satz 1 der im Jahr 1993 maßgeblichen Landesbauordnung NW vom 26. Juni
1984 (BauO NW 1984) macht dies ebenso deutlich wie die im Kern nicht anders
formulierten Nachfolgevorschriften, vgl. nunmehr § 86 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2018. Es
ist daher anerkannten Rechts, dass eine vom Nichtberechtigten abgegebene
Verpflichtungserklärung zur Baulastbestellung das Zustandekommen der Baulast
ungeachtet ihrer Eintragung in das Baulastenverzeichnis hindert.

Vgl. Kamp in: Schönenbroicher/Kamp, Kommentar zur Bauordnung NRW, 2012, § 83
BauO NRW 2000, Rn. 12 ff. (16 ff) m.w.N.

Vorliegend konnte im Jahr 1993 keine wirksame Baulast am Grundstück Tulpenweg 15
(Flurstück 310) entstehen. Dieses Grundstück stand nämlich seit dem 2. November 1983
im Alleineigentum des Beigeladenen zu 2). Nur er als Grundstückseigentümer (bzw. ab
13. Mai 1993 gemeinsam mit seiner Ehefrau als Miteigentümerin) wäre dazu berechtigt
gewesen, eine baulastbegründende Verpflichtungserklärung nach § 78 Abs. 1 BauO NW
1984 abzugeben. Die von den Eheleuten Katharina und Karl G. senior abgegebene
Erklärung zur Bestellung einer Baulast auf dem Grundstück Tulpenweg 15 (Flurstück 310)
ging damit von vornherein ins Leere, weil diese die Eigentümer des benachbarten
Betriebsgrundstücks Tulpenweg 27 (Flurstück 311) waren.

Die Wirksamkeit der Baugenehmigung vom 3. März 1993 wird durch die Unwirksamkeit
der zu Grunde liegenden Baulast nicht in Frage gestellt.

Baulast und Baugenehmigung sind rechtlich selbständig. Nach dem unverändert
gebliebenen Regelungsmodell der Landesbauordnungen NRW (vgl. § 78 BauO NW 1984
und heute § 86 BauO NRW 2018) ist die Bestellung einer Baulast möglich, um einem
Vorhaben die – ansonsten fehlende – Genehmigungsfähigkeit zu verschaffen, und zwar
zum Beispiel durch Belastung eines Nachbargrundstücks zu Gunsten des
Vorhabengrundstücks. Die Bestellung der Baulast durch Verpflichtungserklärung und der
nach Landesrecht erforderlichen Eintragung in das Baulastenverzeichnis schafft bzw.
sichert öffentlich-rechtliche Genehmigungsvoraussetzungen. Sie ist der Erteilung der
Baugenehmigung vorgelagert und nicht deren Bestandteil. Dementsprechend hat zu
gelten: Stellt sich heraus, dass die bestellte Baulast – wie hier - unwirksam ist und damit
die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzung, für die sie bestellt wurde, nicht
gewährleisten kann, ist die auf ihrer Grundlage erteilte Baugenehmigung, wie beim Fehlen
einer Genehmigungsvoraussetzung üblich, in aller Regel als rechtswidrig, aber gleichwohl
als wirksam anzusehen.

Die Bauaufsichtsbehörde der Beklagten ist beim Erlass der hier in Rede stehenden
Baugenehmigung vom 3. März 1993 nicht von der nach § 78 BauO NW 1984 gegebenen
Systematik abgewichen. Insbesondere hat sie die (inhaltliche) Wirksamkeit der
Baugenehmigung nicht im Wege der Nebenbestimmung von der Frage der Wirksamkeit
der Baulastbestellung abhängig gemacht. Zwar ist der dafür in Betracht kommende
Passus im Genehmigungsbescheid unter der Rubrik „Auflagen und Bedingungen“
enthalten. Seinen Sinngehalt erfährt dieser Passus jedoch durch seinen abweichenden

Wortlaut:

„Zur Bindung des geplanten Gebäudes an den vorhandenen Gewerbebetrieb wurde eine
Baulast übernommen.“

Aus diesem Satz lässt sich keine Nebenbestimmung im technischen Sinne (vgl. zu
Auflagen und Bedingungen § 36 Abs. 2 VwVfG NRW) entnehmen. Der Passus trifft keine
Anordnung oder Verfügung, sondern hat lediglich beschreibenden Charakter. Die Beklagte
gibt insoweit einen Hinweis auf den materiellen Baulastinhalt („Bindung an
Gewerbebetrieb“) und die bereits erfolgte Bestellung der Baulast („wurde übernommen“).
Abgesehen davon findet sich auch sonst im Baugenehmigungsbescheid vom 3. März
1993 kein Anhalt dafür, dass der Umfang der baurechtlichen Zulassung nach dem
Genehmigungsinhalt wirksam auf ein betriebliches Wohnen beschränkt worden sein
könnte. Vielmehr bezeichnen Genehmigungsbescheid und grüngestempelte Bauvorlagen
das Vorhaben ohne Einschränkung als „Neubau Einfamilienwohnhaus mit Garage“. Im
Übrigen würde eine Beschränkung des Genehmigungsinhalts auch der damaligen
Genehmigungspraxis der Beklagten für die Grundstücke Tulpenweg 15 und Tulpenweg 17
widersprechen. Eine Baulastübernahme wäre nämlich bei Beschränkung des
Genehmigungsinhalts („Betriebswohnung“) überflüssig gewesen: Gegen eine private
Wohnnutzung außerhalb des von § 8 Abs. 3 Nr. 1 der Baunutzungsverordnung gezogenen
engen Rahmens hätte mangels Legalisierungswirkung einer eingeschränkten
Baugenehmigung – anders als im vorliegenden Fall – unmittelbar eingeschritten werden
können. Eine Rechtslage, welche die Beklagte mit der Zwischenschaltung einer Baulast
offenbar vermeiden wollte.

Abgesehen davon wäre die Klage letztlich auch dann abzuweisen, wenn man die
Wirksamkeit bzw. Legalisierungswirkung der für das Grundstück Tulpenweg 15 erteilten
Baugenehmigung einmal verneint.

Zwar ist die dann nicht genehmigte und nicht betriebsbezogene Wohnnutzung der
Beigeladenen zu 3) und 4) im Gewerbegebiet als illegal einzustufen (vgl. § 8 Abs. 3 Nr. 1
der Baunutzungsverordnung) und löst deswegen einen nachbarliches Abwehrrecht unter
dem Gesichtspunkt des Gebietsgewährleistungsanspruchs aus. Verstößt nämlich eine
streitige Nutzung gegen Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Art der baulichen
Nutzung, so verletzt sie damit zugleich nachbarschützende Vorschriften. Die
Festsetzungen zur Gebietsart haben grundsätzlich nachbarschützende Wirkung. Gleiches
würde im Übrigen im Falle einer Nichtigkeit des Bebauungsplans gelten, weil der
betroffene Bereich gemäß § 34 Abs. 2 des Baugesetzbuches (BauGB) gleichfalls als
Gewerbegebiet einzustufen wäre.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 -, juris, 3. Leitsatz.

Zutreffend weist die Klägerin darauf hin, dass ein derartiger
Gebietsgewährleistungsanspruch der Eigentümer im Gewerbegebiet unabhängig von
einer konkreten Beeinträchtigung und ihrem Schweregrad besteht.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 2009 – 10 A 971/08, juris Rn. 49.
Ein solcher Abwehr- bzw. Einschreitensanspruch ist aber verwirkt.

Verwirkt ist ein Anspruch, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit
verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die spätere
Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist
insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des
Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser seinen Anspruch nach längerer Zeit
nicht mehr geltend machen würde, und wenn er sich infolge seines Vertrauens so
eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein
unzumutbarer Nachteil entstehen würde.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 - 3 B 24/18 -, juris Rn. 16 m.w.N.
Letztlich kommt es bei der Annahme einer Verwirkung in besonderer Weise auf die
Umstände des Einzelfalls und die jeweiligen Rechtsverhältnisse an. So gilt für den
Anspruch eines Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen ein ihn in seinen
subjektiven Rechten verletzendes Vorhaben, dass dieser Anspruch verwirkt sein kann,
wenn die Geltendmachung dieses Anspruchs durch den Nachbarn in dem konkreten
Nachbarschaftsverhältnis objektiv gegen Treu und Glauben verstößt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 -, juris Rn. 18 ff.
Eine solche Verwirkung gilt daher auch ausschließlich im Nachbarschaftsverhältnis. Die
Verwirkung betrifft das an den Grundsätzen von Treu und Glauben zu messende
nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis und ist wesentlich von diesem bestimmt.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. August 1997 - 7 A 150/96 -, juris Rn. 15 ff.
Im Übrigen bleiben die Eingriffsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörde wegen einer
Verletzung objektiven Baurechts von der Verwirkung der Nachbarrechte unberührt.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 2 B 1090/12 -, juris Rn. 25.
Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Klägerin einen (unterstellten) Anspruch auf
Einschreiten jedenfalls verwirkt.

Dabei fällt das Zeitmoment hier besonders ins Gewicht. Seit dem Jahr 1993 wusste oder
hätte die Klägerin wissen müssen, dass die Beigeladenen zu 1) und 2) ihr Grundstück
Tulpenweg 15 zu sonstigen, nicht betriebsbezogenen Wohnzwecken nutzen werden. Die
im März 1993 begonnen Bauarbeiten für das Wohnhaus konnten ihr als Bewohnerin des
benachbarten Hauses Tulpenweg 17 nicht verborgen bleiben. Mit dem Wissen einer
Familienangehörigen musste ihr auch klar sein, dass ihre Schwägerin und ihre Schwager,
die Beigeladenen zu 1) und 2), auf dem Grundstück Tulpenweg 15 kein
betriebsbezogenes Wohnen im Rechtssinne ausüben. Dies verlangte keine schwierige
rechtliche Wertung, sondern lag auf der Hand. Der Beigeladene zu 2) kam für die Klägerin
– ungeachtet einer etwaigen Mithilfe im kaufmännischen Bereich der Glaserei – weder als
Betriebsinhaber noch als Aufsichts- oder Bereitschaftsperson der Glaserei in Betracht.
Aus welchem Grund die Klägerin in den vergangenen Jahrzehnten auf die
Geltendmachung ihrer Nachbaransprüche verzichtet hat, ist unerheblich. Genauso ist es
unerheblich, welches Motiv dafür verantwortlich gewesen ist, dass sie sich vor ca. 5
Jahren gemeinsam mit ihrem jetzigen Ehemann dazu entschlossen hat, mit Schreiben
vom 15. April 2015 erstmals ein bauaufsichtliches Einschreiten zu beantragen.

Maßgeblich ist vielmehr, dass die Klägerin in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren
untätig geblieben ist. Im Hinblick auf diese außergewöhnlich lange Zeit der Untätigkeit ist
davon auszugehen, dass die beigeladenen Eigentümer des streitigen Grundstücks nach
Treu und Glauben darauf vertrauen durften und auch darauf vertraut haben, dass die
Klägerin ihr Abwehrrecht gegen die private Wohnnutzung im Gewerbegebiet nicht mehr
ausüben werde und sich so eingerichtet haben, dass durch die verspätete Durchsetzung
des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde mit der Folge, dass auch das Umstandsbzw.
Vertrauensmoment des Verwirkungstatbestandes zu bejahen ist.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Kosten der
Beigeladenen zu 1) und 2) waren für erstattungsfähig zu erklären, weil diese im
Gegensatz zu den Beigeladenen zu 3) und 4) eine Antrag gestellt und sich damit dem
Kostenrisiko ausgesetzt haben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht bezüglich der von der
Beklagten zu vollstreckenden Kosten auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 der
Zivilprozessordnung (ZPO) und hinsichtlich der von den Beigeladenen zu 1) und 2) zu
vollstreckenden Kosten auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

VG Aachen

Erscheinungsdatum:

01.04.2020

Aktenzeichen:

3 K 1357/16

Rechtsgebiete:

Zwangsvollstreckung (insbes. vollstreckbare Urkunde und Vollstreckungsklausel)

Normen in Titel:

BauO NW 1984 § 78; BauO NRW 2018 §§ 58 Abs. 2, 82 S. 2, 86 Abs. 1 S. 1; VwVfG NRW §§ 35 S. 1, 43 Abs. 2, 44