Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts; demenzkranker Erblasser; Bleibewille; Pflegeheim im Ausland
letzte Aktualisierung: 30.9.2024
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.7.2024 – 14 W 50/24 (Wx)
EuErbVO Art. 4; IntErbRVG § 47 Nr. 2;
Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts; demenzkranker Erblasser; Bleibewille;
Pflegeheim im Ausland
Für die Bestimmung des unionsautonom auszulegenden Begriffes des „gewöhnlichen Aufenthalts“
eines Erblassers im Sinne des
tatsächlichen Aufenthalts in subjektiver Hinsicht das Vorliegen eines animus manendi (Bleibewille)
erforderlich. An dem fehlt es, wenn ein demenzkranker Erblasser gegen oder ohne seinen Willen in
ein Pflegeheim im Ausland verbracht wurde, ohne dass der Erblasser über die reine Pflege
hinausgehende Bindungen zu dem Land hatte, in dem er bis zu seinem Tod gepflegt wurde.
Gründe
I.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob vorliegend die internationale
Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit nach der EuErbVO gegeben ist.
Der am 12.07.1955 geborene Erblasser, ein deutscher Staatsangehöriger, ist am 10.10.2023 in
einem Pflegeheim in Polen verstorben. Zuvor lebte er zusammen mit der Beteiligten, seiner
(zweiten) Ehefrau, in der Z-Straße in 78… G (bzw. verschiedenen Pflegeheimen in
Deutschland). Der Erblasser verstarb kinderlos.
Im Mai 2022 machte sich bei dem Erblasser eine zunehmende Demenz bemerkbar, die ihn zu
einem Pflegefall machte. Nachdem eine häusliche Betreuung nur noch schwer bewerkstelligt
werden konnte, wurde der Erblasser zunächst ab Ende Juni 2022 in verschiedenen Pflegeheimen
in Deutschland versorgt. Ab dem 01.04.2023 lebte der Erblasser in einem Pflegeheim in Polen.
Nach seiner aktiven Berufstätigkeit bezog der Erblasser Bezüge in Form einer Rente in Höhe
von ca. 192 € pro Monat zuzüglich Pflegegeld in Höhe von ca. 1.861,92 € pro Monat. Der
Erblasser hatte kein Vermögen in Polen, sein gesamtes Vermögen - maßgeblich bestehend aus
einem Immobilien- und einem Gesellschaftsanteil - befand sich in G, er sprach kein polnisch
und hatte familiäre sowie soziale Verbindungen allein nach Deutschland. Der Erblasser wurde
von seiner Ehefrau gegen bzw. ohne seinen Willen in dem Pflegeheim in Polen untergebracht.
Mit öffentlicher Urkunde der Notarin Dr. S vom 14.03.2024, Urkundenverzeichnis UVZ …,
UZ …, stellte die Beteiligte gegenüber dem Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen einen Antrag
auf Erteilung eines Erbscheins, wonach sie von dem Erblasser allein beerbt worden ist.
Das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen hat den Erbscheinsantrag der Beteiligten mit
Beschluss vom 07.05.2024 mangels internationaler Zuständigkeit nach
zurückgewiesen.
Gegen diesen der Beteiligten am 08.05.2024 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde
der Beteiligten vom 28.05.2024.
Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 28.05.2024 nicht abgeholfen und die
Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
Die Beteiligte hat die Beschwerde mit Schriftsatz vom 02.07.2024 begründet. Dort wird im
Wesentlichen ausgeführt, dass der Erblasser entgegen der Auffassung des Amtsgerichts seinen
gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor im Sinne des
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beteiligten ist
begründet.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen ist die deutsche
Gerichtsbarkeit vorliegend nach
zuständig, da der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Norm in
Deutschland hatte. Örtlich zuständig ist das Amtsgericht Singen. Daher ist der Beschluss des
Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen aufzuheben und die Sache gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2
FamFG an das Amtsgericht Singen zurückzuverweisen.
1. Nach
beantragten Erbschein international zuständig.
a) Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem
17.08.2015 ergibt sich grundsätzlich aus
EuErbVO ist ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG hat
(OLG Hamm, Beschluss vom 17.12.2019 - I-15 W 488/17, Rn. 3, juris).
Nach
Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines
Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist unionsautonom auszulegen (vgl.
BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO, Stand: 01.12.2023, Art. 4 Rn. 19; Dutta/Weber/Lein,
Internationales Erbrecht, 2. Aufl. 2021,
BGB, 9. Aufl. 2024,
Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO zu berücksichtigen, aus denen folgt, dass der
gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers von der mit der Erbsache befassten Behörde anhand
einer Gesamtbeurteilung der Umstände des Einzelfalls in einem einzigen Mitgliedstaat
festzulegen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-80/19, Rn. 40, juris). Zu berücksichtigen
sind im Einzelfall die Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthalts, Umstände und Gründe für die
Präsenz im betreffenden Staat (Erwägungsgrund 23 Satz 2 der EuErbVO), der Wille des
Erblassers, in dem Staat den ständigen und gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen zu
begründen und dem Aufenthalt Beständigkeit zu verleihen, familiäre und soziale Bindungen,
gegebenenfalls die Begründung der Staatsangehörigkeit des Staates (Erwägungsgrund 24 Satz 4),
die Belegenheit der wesentlichen Vermögensgegenstände im Staat sowie die Sprachkenntnisse
des Erblassers (vgl. zum Ganzen: BeckOGK/J. Schmidt, a. a. O., Art. 4 Rn. 21 bis 27;
Münchener Kommentar/Dutta, a. a. O., Art. 4 Rn. 4 mwN; OLG Düsseldorf, Beschluss vom
20.11.2020 - I-3 Wx 138/20, Rn. 22, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.09.2020 - 21 W
59/20, Rn. 28, juris).
Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers sind demnach sowohl
objektive als auch subjektive Kriterien maßgeblich. In objektiver Hinsicht muss zumindest ein
tatsächlicher Aufenthalt („körperliche Anwesenheit“) gegeben sein, auf eine konkrete Dauer
oder die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kommt es hingegen nicht an; unschädlich ist auch eine
vorübergehende Abwesenheit, soweit ein Rückkehrwille bestand. In subjektiver Hinsicht ist das
Vorliegen eines animus manendi (Bleibewille) erforderlich, also der nach außen manifestierte
Wille, seinen Lebensmittelpunkt am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes auf Dauer zu begründen.
Eines rechtsgeschäftlichen Willens bedarf es insoweit nicht. Werden pflegebedürftige Personen
in ausländischen Pflegeheimen untergebracht, kommt es ebenfalls grundsätzlich auf deren
Bleibewillen an. Können diese zum Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels keinen eigenen Willen
mehr bilden oder erfolgt die Unterbringung gegen ihren Willen, fehlt es an dem für die
Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts erforderlichen animus manendi
(Gierl/Köhler/Kroiß/Wilsch, Internationales Erbrecht, Teil 1 § 4 Internationales Privatrecht
Rn. 14 ff., beck-online; vgl. auch Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger/Eichel,
jurisPK-BGB, 10. Aufl., Stand: 01.07.2023,
Stand: 01.03.2024, EuErbVO Art. 4 Rn. 33.2 beck-online; Lehman, Anmerkung zu OLG Celle,
Beschluss vom 12.09.2019 - 6 AR 1/19,
Beschluss vom 26.05.2021 - 2 Ob 48/21,
b) Gemessen hieran hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 4
EuErbVO nach wie vor in Deutschland, sein bis zu seinem Versterben andauernder Aufenthalt
in dem polnischen Pflegeheim änderte hieran nichts. Nach dem zu Grunde zu legenden Vortrag
der Beteiligten fehlte es dem Erblasser an einem Bleibewillen in Polen. Denn der demenzkranke
Erblasser wurde gegen oder zumindest ohne seinen Willen in dem polnischen Pflegeheim
untergebracht. Wie sich aus dem Vortrag der Beteiligten weiter ergibt, erfolgte die
Unterbringung des an Demenz erkrankten Erblassers in dem Pflegeheim in Polen (allein) aus
finanziellen Gründen und nicht, um einen neuen Lebensmittelpunkt zu begründen. Dies ist auch
in Ansehung der Umstände des vorliegenden Falles plausibel, denn der Erblasser hatte -
einschließlich des Pflegegeldes - monatlich etwa 2050 € zur Verfügung, mit denen sich ein
Aufenthalt in einem deutschen Pflegeheim nicht finanzieren ließ. Der Erblasser war zudem
deutscher Staatsangehöriger, lebte vorher durchweg in Deutschland und sein gesamtes
Vermögen war in Deutschland belegen. Er war der polnischen Sprache nicht mächtig und
aufgrund seiner (fortschreitenden) Erkrankung war auch nicht zu erwarten, dass er in Polen
soziale Bindungen eingehen wird. Damit hatte der Erblasser keinerlei persönlichen Bezug zu
Polen, eine über die Unterbringung in dem Pflegeheim hinausgehende Verbundenheit bestand
gerade nicht. Damit hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gerade
nicht im Sinne des
2. Das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen ist gemäß § 47 Nr. 2 IntErbRVG i. V. m. § 343
Abs. 2 FamFG örtlich zuständig.
a) Die EuErbVO enthält keine Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit. Maßgeblich sind die
Vorschriften des IntErbRVG zur Durchführung der EuErbVO. Sie enthalten allgemeine
Vorschriften für die örtliche Zuständigkeit in bürgerlich-rechtlichen Erbstreitigkeiten (§ 2
IntErbRVG) und für Verfahren in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie hier
(§ 47 IntErbRVG). Sie tragen Sorge dafür, dass stets ein Gericht der Bundesrepublik
Deutschland zuständig ist, wenn seine internationale Zuständigkeit nach
begründet ist (vgl. Dutta, in: Weber/Dutta, a. a. O., IntErbRVG, § 47 Rn. 1; Köhler, in:
Kroiß/Horn/Solomon, IntErbRVG, 3. Aufl. 2023, § 47 Rn. 2). § 47 Nr. 2 IntErbRVG erfasst -
wie die EuErbVO - Erbscheinsverfahren als Nachlasssachen im Sinne von § 342 Abs. 1 Nr. 6
FamFG (vgl. Dutta, in: Dutta/Weber, a. a. O., § 47 Rn. 7; KG, Beschluss vom 26.04.2016 - 1
AR 8/16, Rn. 13, juris).
Örtlich zuständig ist nach
Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
b) Die Voraussetzungen von
Aufenthalts ist wie in
FamFG, a. a. O., § 343 Rn. 5; Staudinger/Herzog, a. a. O., § 2353 Rn. 336 mwN). Danach hatte
der Erblasser - wie bereits dargelegt - seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt im
Todeszeitpunkt nach wie vor in Deutschland, namentlich in G, das im Bezirk des Amtsgerichts
Singen liegt. Der jeweils kurzfristige Aufenthalt in den deutschen Pflegeheimen vermochte
aufgrund der oben dargestellten Umstände keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt des
Erblassers zu begründen.
3. Da das Amtsgericht noch nicht in der Sache entschieden hat, ist der Beschluss vom
07.05.2024 aufzuheben und die Sache nach
III.
Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens unterbleibt, da noch ungewiss
ist, ob das Rechtsmittel Erfolg hat oder nicht (Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023,
Rn. 9, beck-online).
Ein Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren ist nicht festzusetzen, da in Folge der
Zurückverweisung das weitere Verfahren mit dem früheren Verfahren vor diesem Gericht
gemäß
Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Entscheidung, Urteil
Gericht:OLG Karlsruhe
Erscheinungsdatum:22.07.2024
Aktenzeichen:14 W 50/24 (Wx)
Rechtsgebiete:
Kostenrecht
Deutsches IPR (EGBGB)
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
EuErbVO Art. 4; IntErbRVG § 47 Nr. 2; FamFG § 343 Abs. 2