BGH 09. Januar 2024
II ZB 20/22
AktG §§ 103 Abs. 1 u. 3, 104 Abs. 1

Boykottierendes Aufsichtsratsmitglied; Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats; gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats

letzte Aktualisierung: 27.5.2024
BGH, Beschl. v. 9.1.2024 – II ZB 20/22

AktG §§ 103 Abs. 1 u. 3, 104 Abs. 1
Boykottierendes Aufsichtsratsmitglied; Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats; gerichtliche Ergänzung
des Aufsichtsrats

Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig
ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG ergänzt werden.

Gründe:

I.
Die Antragsteller zu 1 und 2 sind Vorstandsmitglieder, die Antragsteller
zu 3 und 4 sind Aufsichtsratsmitglieder der P. AG, deren
Aufsichtsrat nach § 9 Abs. 2 ihrer Satzung aus drei Mitgliedern besteht. Nach
§ 11 Abs. 3 Satz 1 der Satzung ist der Aufsichtsrat nur beschlussfähig, wenn
drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht E.
(1 HK O 56/21) traten die beiden Aktionäre der P.

AG, die H. KG, deren Gesellschafter die Töchter
der weiteren Beteiligten sind, und die B. KG unter Verzicht
auf alle Form- und Fristvorschriften zu einer außerordentlichen Hauptversammlung
zusammen und bestellten die weitere Beteiligte für die Dauer bis
zum Ablauf derjenigen Hauptversammlung, die über den Jahresabschluss und
die Entlastung für das vierte Jahr nach der Bestellung beschließt, zum Mitglied
des Aufsichtsrats.

Die Antragsteller beantragten mit Schriftsatz vom 9. Februar 2022,
Rechtsanwalt Prof. Dr. L. gemäß § 104 Abs. 1 AktG für die Dauer
bis zur Bestellung eines neuen Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung
als Ersatzaufsichtsratsmitglied der P. AG für die weitere
Beteiligte zu bestellen, da diese ihre Mitwirkung im Aufsichtsrat verweigere und
dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführe.

Das Amtsgericht - Registergericht - hat den Antrag zurückgewiesen. Die
dagegen gerichtete Beschwerde hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen.
Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die
Antragsteller ihr Begehren weiter.

II.
Das Beschwerdegericht (Thüringer OLG, BeckRS 2022, 53394) hat
seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds
nach § 104 Abs. 1 AktG lägen nicht vor. Der Aufsichtsrat der P.
AG bestehe nach § 9 Abs. 2 der Satzung, § 95 Satz 1, 2 AktG aus
drei Aufsichtsratsmitgliedern und sei zahlenmäßig nicht unterbesetzt, da ihm die
weitere Beteiligte sowie die Antragsteller zu 3 und 4 angehörten.
Dem Fehlen eines Mitglieds gemäß § 104 Abs. 1 AktG sei die dauernde
Amtsverhinderung gleichgestellt. Der auf Sicherung der Handlungs- und
Funktionsfähigkeit gerichtete Zweck des § 104 Abs. 1 AktG gebiete die Anwendung
der Vorschrift immer dann, wenn die Verhinderung so beschaffen sei,
dass das Aufsichtsratsmitglied längerfristig nicht in der Lage sei, seiner Überwachungsaufgabe
nachzukommen und bei Beschlussfassungen seine Stimme
zumindest schriftlich abzugeben. Ein Aufsichtsratsmitglied sei aber nicht dauerhaft
verhindert iSd § 104 Abs. 1 AktG, wenn es zur Verfolgung von Eigeninteressen
die Mitwirkung an den Beschlussfassungen des Aufsichtsrats verweigere.
Das Amt des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds erlösche nicht, sondern
ruhe nur bis zur Beendigung des Amts des ersatzweise gerichtlich bestellten
Aufsichtsratsmitglieds. Nach § 104 Abs. 6 AktG erlösche das Amt des gerichtlich
bestellten Aufsichtsratsmitglieds wiederum kraft Gesetzes, sobald der Mangel
behoben sei. Die Mitwirkung an den erforderlichen Beschlussfassungen in
den Fällen der Obstruktion hänge deshalb ausschließlich vom entsprechenden
WiIIen des Aufsichtsratsmitglieds ab. Hingegen erlösche das Amt des bestellten
Ersatzmitglieds mit der zwischenzeitlichen Mitwirkung des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds
nach der gerichtlichen Entscheidung. Scheide die Einberufung
einer Hauptversammlung aus, sei der Antrag auf Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds
nach § 103 Abs. 3 AktG mit dem Antrag auf Ersatzbestellung
nach § 104 Abs. 1 AktG zu kombinieren. Das betroffene Aufsichtsratsmitglied
sei dabei nicht stimmberechtigt. Die Durchführung und Wirksamkeit der
Beschlussfassung nach § 103 Abs. 3 AktG könne entweder dadurch gesichert
werden, dass die Beschlussfassung durch die verbleibenden Aufsichtsratsmit-
glieder als wirksam angesehen oder eine Ergänzungsbestellung nur für die anstehende
Beschlussfassung beantragt werde.

III.
Die durch das Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde ist
statthaft und auch im Übrigen zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die
Voraussetzungen für eine Ergänzung des Aufsichtsrats gemäß § 104 Abs. 1
Satz 1 AktG liegen nicht vor.

1. Dem Aufsichtsrat der P. AG gehört mit den Antragstellern
zu 3 und 4 und der weiteren Beteiligten die zur Beschlussfähigkeit nötige
Zahl von Mitgliedern an.

Nach § 104 Abs. 1 AktG sind der Vorstand, ein Mitglied des Aufsichtsrats
oder ein Aktionär berechtigt, bei Gericht einen Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrats
zu stellen, wenn dem Aufsichtsrat die zur Beschlussfassung erforderliche
Anzahl von Mitgliedern nicht angehört. Die Norm soll die Funktionsfähigkeit
des Aufsichtsrats sicherstellen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2002
- II ZR 296/01, ZIP 2002, 1619, 1621 mwN). Dem Fehlen eines Mitglieds wird
die dauerhafte Amtsverhinderung des Aufsichtsratsmitglieds gleichgesetzt, etwa
wegen rechtlicher, wie die Vertretung eines Vorstandsmitglieds nach § 105
Abs. 2 S. 1 AktG, oder tatsächlicher Verhinderung, etwa infolge Krankheit,
Unerreichbarkeit oder eines dauerhaften Interessenkonflikts (Drygala in
K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 104 Rn. 3; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104
Rn. 2; Simons in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 104 Rn. 7;
BeckOGKAktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 104 Rn. 12).

Die weitere Beteiligte ist weder rechtlich noch tatsächlich dauerhaft an
der Ausübung ihres Aufsichtsratsmandats gehindert. Das Beschwerdegericht
hat offengelassen, ob die weitere Beteiligte die Mitwirkung im Aufsichtsrat seit
September 2021 boykottiert und damit dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführt,
um so die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen der P.

AG gegen die Erbengemeinschaft nach H. , der neben
der weiteren Beteiligten auch ihre drei Töchter angehören, zu verhindern. Dies
ist deshalb für das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen. Dabei handelt
es sich aber nicht um einen dauerhaften, sondern lediglich um einen punktuellen
Interessenkonflikt der weiteren Beteiligten bei ihrer Aufsichtsratstätigkeit für
die P. AG, der auch nach den von der Rechtsbeschwerde
dazu angeführten Literaturstimmen (MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl.,
§ 104 Rn. 13; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104 Rn. 2; MünchHdbGesR VII/Lieder,
6. Aufl., § 26 Rn. 270) nicht vom Anwendungsbereich des § 104 Abs. 1 AktG
erfasst wird. Die von der Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang erhobene
Verfahrensrüge hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet
(§ 577 Abs. 6 Satz 2, § 564 Satz 1 ZPO).

2. Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds
beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1
Satz 1 AktG ergänzt werden.

a) Teilweise wird allerdings, insbesondere bei einem dreiköpfigen Aufsichtsrat,
eine entsprechende Anwendung der Norm befürwortet (BeckOGK
AktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 104 Rn. 13, § 108 Rn. 45; MünchKomm-
AktG/Habersack, 6. Aufl., § 104 Rn. 13; Jaeger in Hdb Aktiengesellschaft,
Lfg. 80, Rn. I 9.103; Adenauer, NZG 2019, 85, 86; Reichard, AG 2012, 359,
Dagegen liegt nach einer anderen Ansicht auch im Fall eines dauerhaf-
ten obstruktiven Verhaltens des Aufsichtsratsmitglieds keine Beschlussunfähigkeit
des Aufsichtsrats vor, die eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1
Satz 1 AktG erfordere. Vielmehr sei jeder Form von Obstruktion mit den üblichen
Rechtsbehelfen gegen unbotmäßiges Verhalten von Organmitgliedern zu
begegnen (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Henssler
in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 104 Rn. 5; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104
Rn. 2; MünchHdbGesR VII/Lieder, 6. Aufl., § 26 Rn. 270; Hopt/Roth in
GroßkommAktG, 5. Aufl., § 104 Rn. 27; Simons in Hölters/Weber, AktG,
4. Aufl., § 104 Rn. 7; Backhaus/Tielmann, Aufsichtsrat, 2. Aufl., § 104 Rn. 32;
E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl.,
Rn. 25.39).

b) Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Ansicht an. Eine
Analogie setzt voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist
und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem
Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen
werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung,
bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem
Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis
gekommen (BGH, Urteil vom 15. Februar 2022 - II ZR 235/20,
BGHZ 232, 375 Rn. 25 mwN). Das ist nicht der Fall.

aa) Ein dauerhaftes, zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats führendes
Boykottverhalten des Aufsichtsratsmitglieds kann mit einer dauerhaften
rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung bereits deshalb nicht gleichgesetzt
werden, da es jederzeit beendet werden kann. Zudem ist eine gerichtliche Ergänzung
des Aufsichtsrats nicht geeignet, die durch das obstruierende Aufsichtsratsmitglied
herbeigeführte Situation rechtssicher aufzulösen. Gemäß
§ 104 Abs. 6 AktG erlischt das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds,
sobald der Mangel behoben ist. Das obstruktive Aufsichtsratsmitglied hat
es also in der Hand, durch sein Erscheinen zur Aufsichtsratssitzung nach der
gerichtlichen Ersatzbestellung die Beschlussfähigkeit des Gremiums wieder
herbeizuführen, was zum Amtsverlust des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds
führt. Es bedürfte dann einer erneuten gerichtlichen Ersatzbestellung,
wenn das Aufsichtsratsmitglied zu seinem obstruktiven Verhalten zurückkehrt
(Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Simons in
Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 104 Rn. 7 Fn. 27).

bb) Das Aktiengesetz eröffnet auch in der Konstellation eines dreiköpfigen
Aufsichtsrats die Möglichkeit, ein ohne Bindung an Wahlvorschläge
gewähltes, die Teilnahme an der Beschlussfassung boykottierendes Aufsichtsratsmitglied
abzurufen, ein neues Aufsichtsratsmitglied durch die Hauptversammlung
oder das Gericht zu bestellen und damit die Funktionsfähigkeit des
Aufsichtsrats sicherzustellen. Dem Schutzanliegen des § 104 AktG kann daher
auch ohne entsprechende Anwendung der Norm Rechnung getragen werden.

(1) Nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG können Aufsichtsratsmitglieder, die
von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge gewählt worden
sind, vor dem Ablauf ihrer Amtszeit abberufen werden. Der Möglichkeit der Abberufung
durch die Hauptversammlung kann die Rechtsbeschwerde nicht mit
Erfolg das Konfliktlösungspotential mit der Argumentation absprechen, die Abberufung
des obstruierenden Aufsichtsratsmitglieds und die Neuwahl eines
Nachfolgers durch einen Hauptversammlungsbeschluss sei schwerfällig und mit
Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagerisiken behaftet (so aber Reichard, AG 2012,
359, 360). Im Übrigen verfängt der Einwand gerade im vorliegenden Fall nicht,
wenn man berücksichtigt, dass die weitere Beteiligte anlässlich eines Gerichts-
termins ad hoc im Wege einer außerordentlichen Hauptversammlung in den
Aufsichtsrat der zweigliedrigen Aktiengesellschaft gewählt worden ist. Das zeigt
jedenfalls, dass das Argument gerade in Aktiengesellschaften mit geschlossenem
Aktionärskreis im Hinblick auf § 121 Abs. 6 AktG nicht überzeugt.

Etwas Anderes folgt auch nicht aus der Argumentation der Rechtsbeschwerde,
die weitere Beteiligte könne mit Hilfe der H. KG
als hälftiger Aktionärin ihre Abberufung dauerhaft verhindern, da sie als mittelbare
Anteilseignerin bei der Beschlussfassung in der Hauptversammlung über
ihre eigene Abberufung nicht ausgeschlossen sei (vgl. dazu Koch, AktG,
17. Aufl., § 103 Rn. 4 mwN). Es kann dahinstehen, ob eine solche Beherrschung
der H. KG durch die weitere Beteiligte, die ausweislich
des von den Antragstellern vorgelegten Handelsregisterauszugs der H.
KG vom 8. Februar 2022 am 1. Dezember 2021 als persönliche
Gesellschafterin ausgeschieden und auch nicht als Kommanditistin ausgewiesen
ist, über ihre Töchter als Gesellschafter vorliegt. Dies hätte zwar für den
konkreten Streitfall, in dem zwei Aktionäre zu gleichen Teilen an einer Aktiengesellschaft
beteiligt sind, zur Konsequenz, dass in einer Situation, in der nur
einer der Aktionäre die Abberufung wünscht, eine Abberufung nach § 103
Abs. 1 AktG nicht möglich ist. Das kann aber nicht zur Folge haben, dass der
abberufungswillige Aktionär, der das betreffende Aufsichtsratsmitglied selbst in
den Aufsichtsrat gewählt hat, aber nun nicht die Stimmrechtsmacht besitzt, sein
Abberufungsverlangen durchzusetzen, seinen Willen über die gerichtliche
Bestellung eines weiteren Aufsichtsratsmitglieds durch eine entsprechende Anwendung
des § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG durchzusetzen vermag. Mit derartigen
Einzelfallerwägungen lässt sich die analoge Anwendung einer Norm nicht begründen.

(2) Daneben kann das Gericht ein boykottierendes Aufsichtsratsmitglied
nach § 103 Abs. 3 AktG abberufen.

(a) Nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG hat das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats
ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein
wichtiger Grund vorliegt. Ein wichtiger Grund im Sinne der Norm liegt bei einem
nachweisbaren Boykottverhalten vor (OLG München, Beschluss vom
28. August 2018 - 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932, 1933; Drygala in
K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 16; MünchKommAktG/Habersack,
6. Aufl., § 103 Rn. 41; Koch, AktG, 17. Aufl., § 103 Rn. 10).

(b) Der Aufsichtsrat beschließt über die Antragstellung mit einfacher
Mehrheit, § 103 Abs. 3 Satz 2 AktG. Ein solcher Beschluss kann auch in einem
dreiköpfigen Aufsichtsrat ohne Teilnahme des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds
an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder
wirksam gefasst werden.

Gemäß § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG müssen in jedem Fall drei Mitglieder
des Aufsichtsrats an der Beschlussfassung teilnehmen. Besteht ein Aufsichtsrat,
wie vorliegend, nur aus der gesetzlichen Mindestzahl von drei Mitgliedern
(§ 95 Satz 1 AktG), kann deshalb das obstruktive Aufsichtsratsmitglied durch
seine Nichtteilnahme nach dem Wortlaut der Norm eine wirksame Beschlussfassung
tatsächlich verhindern. Diesem ist es jedoch verwehrt, sich auf diese
formale Rechtsposition zu berufen, wonach der Aufsichtsrat als Organ aufgrund
seiner Nichtteilnahme beschlussunfähig sei.

Ein Aufsichtsratsmitglied, gegen das ein Abberufungsverfahren nach
§ 103 Abs. 3 AktG eingeleitet werden soll, unterliegt bei der Abstimmung einem
Stimmverbot (BayObLGZ 2003, 89, 92; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG,
5. Aufl., § 103 Rn. 13; Koch, AktG, 17. Aufl., § 103 Rn. 12; Mertens/Cahn in
KK-AktG, 3. Aufl., § 103 Rn. 30; MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 103
Rn. 35; Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 58; Simons in
Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 103 Rn. 31; BeckOGKAktG/Spindler,
Stand: 01.07.2023, § 103 Rn. 31) und kann die Einleitung des Abberufungsverfahrens
deshalb nicht verhindern. Der Stimmrechtsausschluss eines von drei
Aufsichtsratsmitgliedern führt nicht zur Beschlussunfähigkeit des Organs gemäß
§ 108 Abs. 2 Satz 2, 3 AktG. Vielmehr kann und muss das betreffende
Aufsichtsratsmitglied zur Vermeidung einer Beschlussunfähigkeit des Organs
an der Beschlussfassung teilnehmen, hat sich aber der Stimme zu enthalten
(BGH, Urteil vom 2. April 2007 - II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056 Rn. 13). Infolgedessen
missbraucht das betreffende Mitglied seine formale Rechtsposition,
wenn es sich auf die durch sein eigenes schuldhaftes Fernbleiben verursachte
Beschlussunfähigkeit beruft, um so den Beschluss über den erforderlichen Antrag
nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG zu vereiteln. § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG ist
deshalb in einem Fall des zielgerichteten Rechtsmissbrauchs dahingehend
teleologisch zu reduzieren, dass der Antrag nach § 103 Abs. 3 AktG auch dann
zulässig ist, wenn bei der Beschlussfassung nur die zwei übrigen Aufsichtsratsmitglieder
mitgewirkt haben, der Aufsichtsrat also an sich beschlussunfähig
war (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Hopt/Roth in
GroßkommAktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 59; BeckOGKAktG/Spindler,
Stand: 01.07.2023, § 103 Rn. 31, § 108 Rn. 44 f.; Stadler/Berner, NZG 2003,
49, 51 ff.; Stadler/Berner, AG 2004, 27, 29; aA MünchKommAktG/Habersack,
6. Aufl., § 103 Rn. 35; BayObLGZ 2003, 89, 94; Keusch/Rotter, NZG 2003, 671,
673).

Diese Rechtsauffassung hat sich der Aufsichtsrat der P.
AG auch in seinem Antrag vom 21. Juni 2022, die weitere Beteiligte
nach § 103 Abs. 3 AktG abzuberufen, zu eigen gemacht.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

09.01.2024

Aktenzeichen:

II ZB 20/22

Rechtsgebiete:

Aktiengesellschaft (AG)
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Erschienen in:

FGPrax 2024, 64-66

Normen in Titel:

AktG §§ 103 Abs. 1 u. 3, 104 Abs. 1