Zuwendungsverzicht: keine Erstreckung auf Abkömmlinge als Ersatzerben des Verzichtenden
letzte Aktualisierung: 15.5.2023
OLG Celle, Beschl. v. 17.4.2023 – 6 W 37/23
BGB §§ 2349, 2352 S. 3
Zuwendungsverzicht: keine Erstreckung auf Abkömmlinge als Ersatzerben des
Verzichtenden
Keine Erstreckung des Zuwendungsverzichts auf den Abkömmling des Verzichtenden, wenn der
Abkömmling ausdrücklich als Ersatzerbe des Verzichtenden bestimmt ist, der Verzichtende weder
ein Abkömmling noch ein Seitenverwandter des Erblassers ist und der Zuwendungsverzicht nicht
mit einer vollständigen Abfindung des Verzichtenden verbunden war.
Gründe
A.
Die Beteiligte zu 3 wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Feststellung des Amtsgerichts, es
sei der gemeinschaftliche Erbschein zu erteilen, der als Miterben zu je 1/2 die Beteiligten zu 1
und 2 ausweist, die ehemaligen Nachbarn der Erblasserin.
Seit dem 22. Mai 1970 war die am 15. September 1920 geborene und am 24. Februar 2021
verstorbene Erblasserin in zweiter Ehe mit dem am 15. Dezember 1911 geborenen und am 20.
Juli 1982 verstorbenen J. W. verheiratet. Die am 31. Dezember 1939 geborene Beteiligte zu 3 ist
dessen Tochter aus erster Ehe und die Mutter der am 24. Oktober 1966 ehelich geborenen
Beteiligten zu 4 (Geburtsurkunde vom 28. Oktober 1966, Bl. 12 d. A.).
Die Erblasserin und ihr zweiter Ehemann schlossen den notariellen Ehe- und Erbvertrag vom
23. Juni 1970 (Bl. 55-58 der Testamentsakten 6 IV 1008/19 Amtsgericht Syke). Die Eheleute
vereinbarten Gütertrennung. Der Ehemann setzte die Erblasserin und die Beteiligte zu 3 zu
gleichen Teilen als Erben ein. Als Vorausvermächtnis wandte er der Erblasserin das - wenn sie
nicht wiederheiratet lebenslängliche - Nießbrauchsrecht an dem Grundstück in B. zu. Die
Erblasserin setzte den Ehemann als Alleinerben ein. Der Überlebende der Ehegatten setzte
jeweils die Beteiligte zu 3 als "Alleinerbin" ein und bestimmte:
"Ersatzerben sind deren ehelichen Abkömmlinge stammesweise zu gleichen Teilen."
Der Ehemann der Erblasserin verstarb am 20. Juli 1982.
Die Erblasserin und die Beteiligte zu 3 schlossen den notariellen Vertrag zur
"Erbauseinandersetzung mit Erbverzicht" vom 16. September 2019 (Bl. 38-44 der
Testamentsakten). In der Urkunde ist festgestellt, dass die Erblasserin und die Beteiligte zu 3
Erben des Ehemanns der Erblasserin zu je 1/2-Anteil sind und zum Nachlass nur noch der
Grundbesitz in B. mit einem Verkehrswert von ca. 250.000 € gehört. Diese Erbengemeinschaft
setzten die Vertragsbeteiligten dahin auseinander, dass die Beteiligte zu 3 alleinige Eigentümerin
wird und die Erblasserin auf ihren Nießbrauch verzichtet. Weiter heißt es im Vertrag:
"§ 3 Ausgleichszahlungen/Gegenleistungen
3.1.1 Ausgleichszahlungen zwischen den Beteiligten werden nicht vereinbart.
3.1.2 Gemäß Erbvertrag zwischen J. W. und (der Erblasserin) vom 23. Juni 1970 ... ist
Schlusserbe nach dem Tode des Längerlebenden von ihnen die (Beteiligte zu 3). (Der Ehemann
der Erblasserin) ist bereits verstorben, sodass (die Beteiligte zu 3) Alleinerbin nach der
(Erblasserin) werden würde. (Die Erblasserin) möchte jedoch neu über ihren Nachlass verfügen.
3.1.3 Als Gegenleistung für die heutige Zuwendung und den Verzicht auf den Nießbrauch
verzichtet daher die (Beteiligte zu 3), hiermit für sich persönlich und für ihre Abkömmlinge auf
alle Erbansprüche beim Tode der (Erblasserin). Diese nimmt den Verzicht an.
3.1.4. Der Verzicht kann nur von den Erschienenen gemeinsam wieder aufgehoben oder
geändert werden.
3.1.5 Der Notar hat die Erschienenen ausdrücklich über die Folgen dieses Vertrages belehrt."
In seiner Kostenrechnung für diese Beurkundung vom 26. September 2019 setzte der Notar als
Geschäftswert 350.000 € an (Bl. 15 d. A.).
Mit notariell beurkundetem Testament vom 25. Oktober 2019 (Bl. 60-64 der Testamentsakten)
widerrief die Erblasserin unter Verweis auf die notariellen Urkunden vom 23. Juni 1970 und 16.
September 2019, "soweit rechtlich möglich", sämtliche früheren Verfügungen von Todes wegen,
setzte die am 21. Februar 1968 geborene Beteiligte zu 1 und die am 7. Februar 1947 geborene
Beteiligte zu 2 als Erben zu je 1/2 ein und ordnete Vermächtnisse an.
Am 24. Februar 2021 verstarb die Erblasserin.
Die Beteiligte zu 1 hat die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins beantragt, der die
Beteiligten zu 1 und 2 als Miterben zu je 1/2 ausweist.
Den Nachlasswert hat sie mit 923.000 € angegeben.
Die Beteiligte zu 3 hat der Erbscheinserteilung widersprochen und geltend gemacht, der
Zuwendungsverzicht sei unwirksam.
Das Amtsgericht hat Beweis erhoben in der Sitzung vom 19. Oktober 2022 (Bl. 90 ff. d. A.)
durch Vernehmung des Notars Dr. S. und der Beteiligten zu 4 als Zeugen.
Mit Beschluss vom 19. Dezember 2022 (Bl. 122 ff. d. A.) hat das Amtsgericht festgestellt, es sei
ein Erbschein zu erteilen, der die Beteiligten zu 1 und 2 als Miterben zu je 1/2 ausweist. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, das Testament der Erblasserin vom 25. Oktober
2019 sei wirksam, weil der notarielle Vertrag vom 16. September 2919 einen wirksamen
Zuwendungsverzicht der Beteiligten zu 3 für sich und ihre Abkömmlinge enthalte.
Gegen diesen Beschluss, auf dessen Einzelheiten der Senat zur näheren Sachdarstellung
verweist, wendet die Beteiligte zu 3 sich mit ihrer Beschwerde, mit der sie ihr erstinstanzliches
Ziel weiterverfolgt.
B.
Die Beschwerde ist begründet.
I.
Der Senat hat in vollem Umfang zu prüfen, ob der angekündigte Erbschein richtig ist.
Zwar hat die Beteiligte zu 4 bisher nicht geltend gemacht, Alleinerbin der Erblasserin geworden
zu sein.
Doch hat "im Erbscheinsverfahren ... das Beschwerdegericht die Richtigkeit des angekündigten
Erbscheins auch insoweit zu prüfen, als der Beschwerdeführer durch eine Unrichtigkeit des
Erbscheins nicht beschwert sein kann". "Gegenstand des Beschwerdeverfahrens im Falle eines
Feststellungsbeschlusses nach
Erbschein, für dessen Erlass es die Tatsache als festgestellt erachtet hat. Hierbei handelt es sich
... um einen unteilbaren Verfahrensgegenstand, über den der Beschwerdeführer nicht
disponieren kann und der deshalb unter allen erbrechtlichen Gesichtspunkten zu Überprüfung
durch das Beschwerdegericht gestellt ist." (Beschluss des BGH vom 16. Dezember 2015 zu IV
ZB 13/15, zitiert nach juris, dort Rn. 18).
II.
Es sind nicht die Tatsachen für festgestellt zu erachten (§ 352 e Abs. 1 Satz 1 FamFG), die
erforderlich sind, den von der Beteiligten zu 1 am 28. September 2021 beantragten
gemeinschaftlichen Erbschein zu erteilen, der die Beteiligten zu 1 und 2 als Miterben zu je 1/2
ausweist.
Die Erblasserin ist allein von der Beteiligten zu 4 beerbt worden, weil die Beteiligte zu 3 durch
notariellen Vertrag mit der Erblasserin vom 16. September 2019 wirksam auf ihre Einsetzung als
alleinige Schlusserbin der Erblasserin aus dem notariellen Erbvertrag vom 23. Juni 1970
verzichtet hat, sodass die Erbschaft der Beteiligten zu 4 als Ersatzerbin angefallen und die
Erbeinsetzung der Beteiligten zu 1 und 2 aus dem notariellen Testament vom 25. Oktober 2019
gemäß
1. Für den eingetretenen Fall, dass ihr Ehemann vorverstirbt, hat die Erblasserin mit diesem
erbvertragsmäßig (
Ehemanns der Erblasserin aus dessen erster Ehe, ihre "Alleinerbin" wird und ferner:
"Ersatzerben sind deren ehelichen Abkömmlinge stammesweise zu gleichen Teilen".
2. Diese Erbeinsetzungen sind nicht nach § 7 des Erbvertrages entfallen, wonach ein
Abkömmling der Eheleute "mit seinem gesamten Stamm von allen ... Zuwendungen
ausgeschlossen und auf den Pflichtteil beschränkt sein" soll, wenn er "aus dem Nachlaß des
betreffenden Elternteils seinen Pflichtteil verlang(t)". Ein solches Pflichtteilsverlangen ist weder
vorgetragen noch sonst ersichtlich.
3. Der Ehemann der Erblasserin verstarb am 20. Juli 1982.
4. Auf diese Erbeinsetzung hat die Beteiligte zu 3 mit notariellem Vertrag vom 16. September
2019 gegenüber der Erblasserin wirksam verzichtet.
a) Nach
mit einem Vermächtnis bedacht ist, ... durch Vertrag mit dem Erblasser auf die Zuwendungen
verzichten".
Der Erbvertrag, den die Erblasserin mit dem Vater der Beteiligten zu 3 geschlossen hat, enthält
die Zuwendung der Erblasserin an die Beteiligte zu 3,
sie als Alleinerbin für den eingetretenen Fall einzusetzen, dass der Vater der Beteiligten zu 3
vorverstirbt.
b) § 3 des notariellen Vertrages vom 16. September 2019 enthält in wenigen, einfachen und für
alle Beteiligten klar verständlichen Worten die Erklärung, dass die Beteiligte zu 3 nach dem
"Erbvertrag ... vom 23. Juni 1970 ... Alleinerbin nach der (Erblasserin) werden würde (; diese) ...
jedoch neu über ihren Nachlass verfügen (möchte und die Beteiligte zu 3) hiermit für sich
persönlich und für ihre Abkömmlinge auf alle Erbansprüche beim Tode" der Erblasserin
"verzichtet".
Die Erklärung bringt klar und deutlich zum Ausdruck, dass die Beteiligte zu 3 "als
Gegenleistung für die heutige Zuwendung und den Verzicht auf den Nießbrauch" "auf alle
Erbansprüche beim Tode der Erblasserin" "verzichtet".
c) Die umfangreichen Schriftsätze der Beteiligten zu 3 enthalten nichts für die Feststellung, dass
sie bei Abschluss des Vertrages über dessen Inhalt im Unklaren war und die behaupteten
Belehrungs- oder Beurkundungsmängel für den Abschluss des Vertrages ursächlich geworden
sind.
Sinn und Zweck der Regelung in § 3 sind eindeutig.
Die Beteiligte zu 3, die nicht wissen konnte, ob sie die Erblasserin überlebt, wollte mit dem
notariellen Vertrag die Erbauseinandersetzung für den Nachlass ihres Vaters herbeiführen,
damit sie das Grundstück für sich nutzen oder verwerten kann. Durch den notariellen Vertrag
verschaffte sich die Beteiligte zu 3 die Möglichkeit, noch zu ihren Lebzeiten über den Nachlass
ihres Vaters verfügen zu können. Eine Unkenntnis oder ein Irrtum der Beteiligten zu 3 über den
Wert des sonstigen Vermögens der Erblasserin war insoweit unerheblich.
d) Der Wirksamkeit des Verzichts steht nicht entgegen, dass der Notar die Vertragsüberschrift
"Erbauseinandersetzung mit Erbverzicht" gewählt hat. § 3 des Vertrages enthält nicht den
Begriff "Erbverzicht", sondern die Begriffe "Verzicht" und "verzichtet". Der Oberbegriff
Verzicht gilt nicht nur für einen Erbverzicht im engeren Sinne des § 2346 BGB, sondern auch
für einen Zuwendungsverzicht im Sinne des
e) Dieser Zuwendungsverzicht der Beteiligten zu 3 hat zur Folge, dass ihr die Erbschaft nicht
angefallen ist.
Er entkleidet als abstraktes Verfügungsgeschäft die betreffende Verfügung von Todes wegen im
Umfang des Verzichts ihrer Wirkung, hebt sie aber nicht auf. Der Anfall der Zuwendung
unterbleibt, wie wenn der Bedachte den Erbfall nicht erlebt hätte (Grüneberg/Weidlich, BGB,
82. Aufl. 2023, § 2352 Rn. 4).
5. Mit dem Eintritt des Erbfalls am 24. Februar 2021 ist die Erbschaft der Beteiligten zu 4
angefallen, weil die Beteiligte zu 3 aufgrund ihres Verzichts als Erbe weggefallen ist (siehe oben)
und für einen solchen Wegfall die Erblasserin und der Vater der Beteiligten zu 3 im Erbvertrag
vom 23. Juli 1970 angeordnet haben, dass "Ersatzerben ... deren ehelichen Abkömmlinge
stammesweise zu gleichen Teilen" sind, hier allein die Beteiligte zu 4, das einzige Kind der
Beteiligten zu 3, das aus der Ehe mit dem Dipl.-Ing. H. S. stammt (Bl. 12 d. A.).
6. Der Zuwendungsverzicht der Beteiligten zu 3 aus dem notariellen Vertrag vom 16. September
2019 erstreckt sich nicht auf die Beteiligte zu 4, die an dem notariellen Vertrag nicht beteiligt
war.
Zwar enthält § 3 des notariellen Vertrages vom 16. September 2019 die Erklärung der
Beteiligten zu 3, "für sich persönlich und für ihre Abkömmlinge auf alle Erbansprüche" beim
Tod der Erblasserin zu verzichten.
Doch hat diese Erklärung nicht zur Folge, dass die Erbeinsetzung der Beteiligten zu 4 entfällt.
Denn § 2352 Satz 3 BGB bestimmt nur, "die Vorschriften der §§ 2347 bis 2349 (BGB) finden
Anwendung".
a) Die Voraussetzungen des
Diese Vorschrift lautet:
"Verzichtet ein Abkömmling oder ein Seitenverwandter des Erblassers auf das gesetzliche
Erbrecht, so erstreckt sich die Wirkung des Verzichts auf seine Abkömmlinge, sofern nicht ein
anderes bestimmt wird."
Die Beteiligte zu 3 ist aber weder ein "Abkömmling" noch ein "Seitenverwandter" der
Erblasserin, sondern nur deren Stieftochter. Auf die Stiefkinder eines Erblassers findet § 2349
BGB keine direkte Anwendung.
b) Im vorliegenden Fall kommt keine entsprechende Anwendung des
Beteiligte zu 4 als Abkömmling der "Stieftochter" in Betracht.
Bei der Frage, auf wen sich ein Zuwendungsverzicht erstreckt, sind mindestens drei Fälle zu
unterscheiden:
1. Der Verzichtende ist mit dem Erblasser, mit dem er den Zuwendungsverzichtsvertrag
schließt, im Sinne des
Erblassers"). Dann findet
Anwendung.
2. Der Verzichtende ist nicht mit dem Erblasser, sondern mit demjenigen, der die
erbvertragliche Bindung herbeigeführt hat (beim gemeinschaftlichen Testament der
vorverstorbene Ehegatte oder beim Erbvertrag die vorverstorbene Erbvertragspartei, die mit
dem Erblasser bindende letztwillige Verfügungen getroffen hat) als "Abkömmling" oder
"Seitenverwandter" verwandt (z. B. ein Kind aus erster Ehe des Vorverstorbenen).
3. Für den Verzichtenden besteht keine Verwandtschaft nach Nr. 1 oder 2 (z. B. das Patenkind
des vorverstorbenen Erblassers).
Für die Fallgruppe Nr. 3 ist unstreitig, dass
(Staudinger/Schotten, BGB, Neubearbeitung 2022, § 2352 Rn. 76 m. w. N., zitiert nach juris).
Für die Fallgruppe Nr. 2 wird eine analoge Anwendung teilweise für zulässig gehalten
(Staudinger/Schotten a. a. O. und Grüneberg/Weidlich, BGB, 82. Auflage 2023, § 2352 Rn. 5
m. w. N.).
Die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung des
Nr. 2 liegen zur Überzeugung des Senats nicht vor.
aa) Für die Analogie gelten folgende Grundsätze:
Sie ist die Übertragung der für einzelne bestimmte Tatbestände im Gesetz vorgesehene Regel
auf einen anderen, aber rechtsähnlichen Tatbestand, von dem angenommen werden kann, dass
der Gesetzgeber bei einer Interessenabwägung nach den Grundsätzen, von denen er sich bei
Erlass der herangezogenen Norm hat leiten lassen, zum gleichen Abwägungsergebnis
gekommen wäre (BGH,
Wortsinnes, die für die eigentliche, auch die extensive Auslegung eine Schranke darstellt und
setzt voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält (
Bei der Einzelanalogie wird die Rechtsfolge einer Norm auf einen vergleichbaren Fall
übertragen. Bei der Rechtsanalogie wird aus mehreren Rechtssätzen ein übergeordnetes Prinzip
herausgearbeitet und sodann auf ähnliche gelagerte Fälle angewendet (Grüneberg, BGB, 82.
Aufl. 2023 Einleitung vor § 1 Rn. 48 m. w. N.).
Eine Lücke im Gesetz liegt nicht schon vor, wenn es für eine bestimmte Fallgestaltung keine
Regelung enthält. Sie ist nur bei einer planwidrigen Unvollständigkeit gegeben. Dabei muss der
dem Gesetz zugrundeliegende Regelungsplan im Wege historischer und teleologischer
Auslegung ermittelt werden. Die Regelungslücke kann von Anfang an bestanden haben. Hier
sind zwei Unterarten zu unterscheiden, die bewusste und die unbewusste Regelungslücke. Die
erste liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine Frage offengelassen hat, um sie der Entscheidung
durch Rechtsprechung und Lehre zu überlassen, die zweite, wenn der Gesetzgeber ein
regelungsbedürftiges Problem übersehen oder nicht entsprechend den Vorgaben ranghöheren
Rechts geregelt hat. Eine nachträgliche Lücke kann durch wirtschaftliche oder technische
Änderungen entstehen. Sie kann auch dann zu bejahen sein, wenn das Recht zwar formell eine
Regelung enthält, diese aber wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse offensichtlich
nicht sachgerecht ist. Die Feststellung einer Lücke ist danach ein wertender Vorgang. Die
Ausfüllung der Regelungslücke muss entsprechend den allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen
in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht vorgenommen werden. Sie geschieht in der
Regel durch Analogie (Grüneberg, a. a. O., Rn. 55 f. m. w. N.).
bb) Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze gilt für den vorliegenden Fall:
Zu
vom 24.04.2008):
"Zu Nummer 31 (
Nach
Todes wegen beruhen, vereinbart werden. Ein solcher Zuwendungsverzicht erstreckt sich - im
Gegensatz zu einem Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht nach § 2346 BGB - nicht auf
Abkömmlinge des Verzichtenden.
In der Praxis kann aber der Erblasser bei Erbeinsetzungen oder Vermächtnissen, die in einem
gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag bindend angeordnet wurden, das Bedürfnis
haben, sich davon wieder zu lösen, weil er z. B. den Erben oder Vermächtnisnehmer bereits zu
Lebzeiten durch eine Zuwendung abfinden will. Der Erblasser kann hier einen
Zuwendungsverzicht mit dem Begünstigten vereinbaren. Dabei ist regelmäßig gewollt, dass sich
dieser Zuwendungsverzicht auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt. Andernfalls
kann dies zu ungerechten Ergebnissen führen, insbesondere wenn der Erbe für seinen Verzicht
vollständig abgefunden wird und danach seine Abkömmlinge an seiner Stelle erben
(Doppelbegünstigung des Stammes des Verzichtenden).
Daher hat die Rechtsprechung durch einen Rückgriff auf die allgemeinen Vermutungsregeln die
Möglichkeit geschaffen, eine solche Doppelbegünstigung des Stammes zu vermeiden, indem der
Zuwendungsverzicht unter bestimmten Voraussetzungen doch wieder auf Abkömmlinge
erstreckt wird:
Ist der Verzichtende für seinen Verzicht vollständig abgefunden worden und hat der Erblasser
keinen Ersatzerben ausdrücklich eingesetzt, kämen also die Abkömmlinge des Verzichtenden
aufgrund der Auslegungsregel des
Rechtsprechung eine Vermutung dahingehend, dass die Abkömmlinge von der Erbfolge
ausgeschlossen sein sollen (ausführlich dazu Schotten in Staudinger, 1997, § 2352 Rn. 31 ff.).
Dem bestehenden praktischen Bedürfnis, den Zuwendungsverzicht auch auf die Abkömmlinge
zu erstrecken, soll künftig durch eine ausdrückliche Regelung entsprochen werden. Die
Verweisung in
der Zuwendungsverzicht künftig auf die Abkömmlinge erstreckt, unabhängig davon, ob der
Verzichtende für seinen Verzicht abgefunden wird oder nicht. Will der Erblasser diese Folge
ausschließen, muss er künftig ausdrücklich bestimmen, dass diese vermutete Erstreckung nicht
gilt.
Die vorgeschlagene Reglung stärkt die Testierfreiheit des Erblassers."
Zum Gesetzgebungsverfahren gilt ferner:
"In der Gesetzesbegründung und bei den Beratungen zur Erbrechtsreform 2010 wurde - soweit
ersichtlich - das Problem nicht thematisiert; auch in der Sachverständigenanhörung vor dem
Rechtsausschuss wurde
Rechtsausschuss erörtert worden sein sollte ..., dürfte der Gesetzgeber die Vielschichtigkeit der
Probleme, die bei der Anwendung des allein auf die gesetzliche Erbfolge zugeschnittenen § 2349
BGB im Rahmen der gewillkürten Erbfolge entstehen, kaum in ausreichender Weise im Blick
gehabt haben; anderenfalls hätte er bemerken müssen, dass die gesetzliche Neuregelung bei
einer streng am Wortlaut ausgerichteten engen Auslegung in viel zu vielen Fällen ihren Zweck,
nämlich dem Zuwendungsverzicht endlich zu einem geeigneten Mittel der Rechtsgestaltung zu
machen, verfehlt hätte." (Staudinger/Schotten a. a. O., § 2352 Rn. 76 m. w. N.).
Die für die Analogie angeführten Gründe überzeugen den Senat nicht.
Die Annahme, ein sachlicher Grund, warum sich der Zuwendungsverzicht nur bei Verwandten
des Erblassers und nicht auch bei Verwandten des meist vorverstorbenen Ehegatten auf die
Abkömmlinge des Verzichtenden erstrecken soll, sei nicht ersichtlich (Staudinger/Schotten, a. a.
O., Rn. 75), ist nicht tragfähig, weil die Gründe für die erbvertragliche Bindung und die
ausdrücklich erfolgte Ersatzerbenanordnung auch aus Sicht des Vorverstorbenen zu beurteilen
ist, der an der Vereinbarung der erbvertraglichen Bindung beteiligt war.
Das weitere Argument, eine Differenzierung hinsichtlich der Person des Verzichtenden
zwischen eigenen Verwandten einerseits und den Verwandten des meist vorverstorbenen
Ehegatten bzw. eingetragenen Lebenspartners des Erblassers oder sonstiger Personen
andererseits hätte zur Folge, dass der Zweck der gesetzlichen Regelung, den
Zuwendungsverzicht zu einem geeigneten Mittel der Rechtsgestaltung zu machen, zu einem
wesentlichen Teil verfehlt würde, insbesondere würden Regelungen bei der immer öfter
anzutreffenden Patchworkfamilie erschwert oder sogar unmöglich gemacht
(Staudinger/Schotten a. a. O.), überzeugt nicht, weil der Wille des Vorverstorbenen übergangen
wird, der den Erblasserwillen durch wechselbezügliches gemeinschaftliches Testament oder
durch Erbvertrag gebunden hat. Bei der "Vielschichtigkeit der Probleme" ist eine Entscheidung
des Gesetzgebers erforderlich, die nicht vorliegt. Obwohl offensichtlich war, dass für die
Beantwortung der Frage, ob und inwieweit sich ein Zuwendungsverzicht auf Abkömmlinge des
Verzichtenden erstrecken soll, zwischen dem Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht im Sinne der
bestehen, hat der Gesetzgeber nur für die Fallgruppe Nr. 1 eine Entscheidung dahin getroffen,
dass allein auf den Willen des noch lebenden Erblassers abzustellen ist. Das kann gerechtfertigt
sein, weil es sich um seine eigenen Abkömmlinge oder Seitenverwandten handelt und hier eher
die Annahme gerechtfertigt ist, dass der vorverstorbene Ehegatte dem überlebenden Ehegatten
freie Hand lassen wollte.
Für die Fallgruppen zu Nrn. 2 und 3 hat der Gesetzgeber keine Entscheidung getroffen.
Insoweit enthält das Gesetz nicht die vom Amtsgericht angenommene "Systematik", ob und
wenn ja in welcher Weise insbesondere der Wille desjenigen zu berücksichtigen ist, der die
erbvertragliche Bindung mit herbeigeführt hat und vorverstorben ist.
Zum einen beschränkt sich § 2352 Satz 3 BGB darauf,
ohne anzuordnen, dass die Vorschrift entsprechende Anwendung findet. Es war offensichtlich,
dass diese Verweisung keine Personen erfasst, die nicht mit dem Erblasser, hier der Erblasserin,
verwandt sind. Das können Stiefkinder oder Dritte sein (z. B. das Patenkind des
vorverstorbenen Ehegatten als Ersatzerbe).
Bei Stiefkindern ist keine analoge Anwendung gerechtfertigt, weil nicht nur auf den Willen der
Parteien des Zuwendungsverzichtsvertrages, sondern auch auf denjenigen der vorverstorbenen
Partei des Erbvertrages abzustellen ist, die mit dem Erbvertrag eine erbvertragliche Bindung für
Personen herbeigeführt hat, die nicht mit der anderen Partei des Erbvertrages verwandt sind,
sondern nur mit ihr.
7. Im Übrigen spricht für die Entscheidung des Senats folgende ergänzende Auslegung.
a) Zum einen hat der Senatsbeschluss keine "Doppelbegünstigung des Stammes des
Verzichtenden" zur Folge. Die Beteiligte zu 3 ist nicht "vollständig" oder "vollwertig"
abgefunden worden (vgl. zu einer ergänzenden Auslegung des Erblasserwillens für den Fall, dass
eine analoge Anwendung des
Rn. 77 m. w. N.).
b) Zum anderen wird für den Fall der entsprechenden Anwendung des
vertreten, es gebiete die Testierfreiheit des Erblassers, dass dieser die Erstreckungswirkung in
der Verfügung von Todes wegen, auf der die Zuwendung beruht, als anderweitige Bestimmung
im Sinne des
durch ggfls. ergänzende Auslegung festzustellen ist (so Grüneberg/Weidlich, a. a. O., § 2352
Rn. 5, a. A. Staudinger/Schotten, a. a. O., Rn. 70 und 74).
c) Die nach diesen beiden Meinungen erforderliche ergänzende Auslegung ergibt, dass die
Erblasserin und ihr Ehemann die Erstreckungswirkung des Zuwendungsverzichts auf die
Beteiligte zu 4 ausgeschlossen hätten, wenn sie bei Abschluss des Erbvertrages den
eingetretenen Fall bedacht hätten, dass die im Zuwendungsverzichtsvertrag vereinbarte
Abfindung sich nur auf die Vermögenswerte bezieht, die aus dem Nachlass des Ehemanns
stammen, aber nicht auf das sonstige Vermögen der Erblasserin. Denn der Ehemann der
Erblasserin hat das Erbrecht seiner Tochter, der Beteiligten zu 3, durch den Nießbrauch
zugunsten der Erblasserin an dem o. g. Grundstück und durch die Pflichtteilsklausel (§ 7 des
Erbvertrages) erheblich eingeschränkt und als Ausgleich dafür vorgesehen, dass beide Eheleute
("jeder von uns") die Beteiligte zu 3 als alleinige Schlusserbin einsetzen, was in der
Abfindungsvereinbarung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hat. Nach dem Willen
des Ehemannes der Erblasserin sollten seine Enkel erben, wenn die Beteiligte zu 3 vor Eintritt
des Erbfalls wegfällt. Diese ausdrückliche und nicht auf
sollte nicht dadurch umgangen werden, dass die Beteiligte zu 3 eine Abfindung erhält, die sich
auf die Vermögenswerte beschränkt, die aus dem Nachlass des Ehemanns der Erblasserin
stammen, sondern sollte das Vermögen der Erblasserin insgesamt umfassen, soweit keine
Vermächtnisanordnung eingreift.
Die vereinbarte Abfindung war als Gegenleistung nicht angemessen, weil unstreitig ist, dass das
Vermögen der Erblasserin mehr als 900.000 € betrug.
Der erbrechtliche Stamm der Beteiligten zu 3 wird nicht doppelt begünstigt, weil die Beteiligte
zu 3 ohne Verzichtsvertrag beim Schlusserbfall sowohl die darin vereinbarte Abfindung als auch
das restliche Vermögen der Erblasserin als Alleinerbin erhalten hätte.
8. Die Anordnung aus dem notariellen Testament der Erblasserin vom 25. Oktober 2019,
sämtliche früheren Verfügungen von Todes wegen zu widerrufen und die Beteiligten zu 1 und 2
als Erben zu je 1/2 einzusetzen, ist nach
Vorschrift ist "eine spätere Verfügung von Todes wegen unwirksam", "soweit sie das Recht des
vertragsmäßig Bedachten beeinträchtigen würde."
Wie bereits ausgeführt ist, ist die Beteiligte zu 4 durch den Erbvertrag vom 23. Juni 1970
vertragsmäßig als Ersatzerbin bedacht worden, sodass die Erblasserin diese Erbeinsetzung der
Beteiligten zu 4 nicht mehr einseitig widerrufen konnte und die abweichende Erbeinsetzung der
Beteiligten zu 1 und 2 das Erbrecht der Beteiligten zu 4 beeinträchtigen würde, weil sie dann den
Nachlass der Erblasserin nicht vollständig erhielte.
III.
Eine Kostenentscheidung war entbehrlich.
Für das erfolgreiche Beschwerdeverfahren fallen keine Gerichtsgebühren an.
Es war nicht anzuordnen, dass die Beteiligten zu 1 und 2 als Beschwerdegegner der Beteiligten
zu 3 als Beschwerdeführerin die zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen Kosten
erstattet. Eine solche Anordnung entspräche weder billigem Ermessen (
noch liegen die Voraussetzung für eine Kostenentscheidung nach § 81 Abs. 2 FamFG vor. Die
Entscheidung hing von einer schwierigen Auslegung der notariell beurkundeten Erklärungen
vom 23. Juni 1970 und 16. September 2019 ab.
Der Beschwerdewert wurde gem. § 36 Abs. 1, § 61 Abs. 1 Satz 1 GNotKG auf 615.333,33 €
festgesetzt (= 2/3 von 923.000 €). Das Interesse der Beteiligten zu 3 war darauf gerichtet, am
Nachlass der Erblasserin als Alleinerbin beteiligt zu werden. Dessen Wert hat die Beteiligte zu 1
mit 923.000 € angegeben (Bl. 2 d. A.). Ein Drittel war wegen der eingeschränkten Funktion des
Erbscheins (nur Legitimationswirkung) abzuziehen.
Entscheidung, Urteil
Gericht:OLG Celle
Erscheinungsdatum:17.04.2023
Aktenzeichen:6 W 37/23
Rechtsgebiete:
Erbvertrag
Erbeinsetzung, Vor- und Nacherbfolge
Erbverzicht
Kostenrecht
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
BGB §§ 2349, 2352 S. 3