BFH 19. November 2019
IX R 24/18
AO §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a; EStG 2002 § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 u. Abs. 3 S. 1; BGB § 738 Abs. 1

Anwachsungserwerb; private Veräußerungsgeschäfte bei Grundstücken als sonstige Einkünfte

letzte Aktualisierung: 23.04.2020
BFH, Urt. v. 19.11.2019 – IX R 24/18

AO §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a; EStG 2002 § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 u. Abs. 3
S. 1; BGB § 738 Abs. 1
Anwachsungserwerb; private Veräußerungsgeschäfte bei Grundstücken als sonstige
Einkünfte

1. Einkünfte, an denen i. S. von § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO mehrere beteiligt sind, liegen
– unter weiteren Voraussetzungen – nur dann vor, wenn mehrere Personen "gemeinsam" den
Tatbestand der Einkunftserzielung verwirklichen.

2. Gesellschafter einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft erfüllen den Tatbestand des
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nur dann "gemeinsam", wenn die den Tatbestand des "privaten
Veräußerungsgeschäfts" konstituierenden Teilakte – die "Anschaffung" und die "Veräußerung" –
jeweils in der "Einheit der Gesellschaft" verwirklicht werden.

3. Scheidet ein Gesellschafter aus einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft gegen Zahlung
einer Abfindung aus und wächst sein Anteil den verbleibenden Gesellschaftern nach § 738 Abs. 1
BGB an, wird dieser Anwachsungserwerb durch die verbleibenden Gesellschafter jeweils einzeln
und nicht in der Einheit der Gesellschaft verwirklicht.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist im Ergebnis begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Für eine gesonderte und einheitliche Feststellung und
Zurechnung von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
EStG im Bescheid vom 02.12.2011 fehlte die gesetzliche Grundlage.

1. Die Vorentscheidung verletzt §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO; sie ist schon aufgrund des
Verstoßes gegen die genannten verfahrensrechtlichen Normen, deren Einhaltung das Revisionsgericht auch ohne
Rüge im Revisionsverfahren zu prüfen hat, aufzuheben.

a) Nach § 179 Abs. 1 AO werden die Besteuerungsgrundlagen abweichend von § 157 Abs. 2 AO durch
Feststellungsbescheid gesondert festgestellt, soweit dies in diesem Gesetz oder sonst in den Steuergesetzen
bestimmt ist. Gemäß § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO sind Einkünfte gesondert und einheitlich festzustellen,
wenn daran mehrere Personen beteiligt sind und die Einkünfte diesen zuzurechnen sind; Einkünfte, an denen i.S. der
genannten Vorschrift "mehrere Personen beteiligt" sind, liegen --unter weiteren Voraussetzungen-- nur dann vor, wenn
diese Personen "gemeinsam" (d.h. in der "Einheit der Gesellschaft") den Tatbestand der Einkunftserzielung
verwirklichen (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10.11.2015 - IX R 10/15, BFH/NV 2016, 529; vom
21.01.2014 - IX R 9/13, BFHE 244, 225, BStBl II 2016, 515; vom 13.07.1994 - X R 7/91, BFH/NV 1995, 303, jeweils
m.w.N.; Klein/Ratschow, AO, 14. Aufl., § 180 Rz 8).

b) Veräußert eine grundstücksbesitzende (vermögensverwaltende) GbR eine in ihrem Gesamthandsvermögen
befindliche Immobilie, ist mithin über die Frage, ob durch das Veräußerungsgeschäft ein Einkünftetatbestand
verwirklicht worden ist, nur dann im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Feststellung zu entscheiden, wenn
die Tatbestandsmerkmale der maßgeblichen Norm gemeinsam in der Einheit der Gesellschaft verwirklicht werden (vgl.
BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 529; in BFHE 244, 225, BStBl II 2016, 515, und in BFH/NV 1995, 303, zu § 23 EStG).

2. Eine Personengesellschaft ist für die Einkommensteuer insoweit Steuerrechtssubjekt, als sie in der
gesamthänderischen Verbundenheit ihrer Gesellschafter Merkmale eines Besteuerungstatbestands verwirklicht,
welche den Gesellschaftern für deren Besteuerung zuzurechnen sind (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH
vom 25.06.1984 - GrS 4/82, BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751, unter C.III.3.a, beginnend Rz 135; BFH-Urteil vom
18.05.2004 - IX R 42/01, BFH/NV 2005, 168). Solche Merkmale sind insbesondere die Verwirklichung des
Tatbestands einer bestimmten Einkunftsart und das Erzielen von Gewinn oder Überschuss im Rahmen dieser
Einkunftsart. Zu den den Gesellschaftern einer grundbesitzenden Personengesellschaft zuzurechnenden sonstigen
Einkünften können auch die Anteile am Überschuss gehören, welche die Gesellschaft in Form eines Gewinns aus
privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 Abs. 3 EStG) durch den Verkauf einer im Gesamthandsvermögen
befindlichen Immobilie erzielt.

a) Zu den sonstigen Einkünften zählen u.a. solche aus privaten Veräußerungsgeschäften bei Grundstücken, soweit
der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als zehn Jahre beträgt (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
EStG). Die Anschaffung oder Veräußerung einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an einer
Personengesellschaft gilt als Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter (§ 23 Abs. 1 Satz 4
EStG).

Unter "Anschaffung" bzw. "Veräußerung" i.S. des § 23 EStG ist der entgeltliche Erwerb und die entgeltliche
Übertragung eines Wirtschaftsguts auf einen Dritten --d.h. auf eine andere Person-- zu verstehen. Beide Teilakte des
gestreckten Tatbestands eines steuerbaren privaten Veräußerungsgeschäfts --Anschaffung und Veräußerung--
müssen wesentlich vom Willen des Steuerpflichtigen abhängen und mithin Ausdruck einer "wirtschaftlichen
Betätigung" sein (BFH-Urteil vom 23.07.2019 - IX R 28/18, BFHE 265, 258, BStBl II 2019, 701, m.w.N.).

b) Nach § 23 Abs. 1 Satz 4 EStG können die Teilakte eines privaten Veräußerungsgeschäfts ("Anschaffung" und
"Veräußerung") in materiell-rechtlicher Hinsicht auch durch den Erwerb eines Gesellschaftsanteils verwirklicht werden;
denn nach der genannten Regelung gilt die Anschaffung oder Veräußerung einer unmittelbaren oder mittelbaren
Beteiligung an einer Personengesellschaft als Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter. Darüber
hinaus kann eine --von einer Personengesellschaft vorgenommene-- entgeltliche Übertragung einer Immobilie aus
dem Gesamthandsvermögen auf einen Dritten dem Gesellschafter nach § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO anteilig als
"Veräußerungsgeschäft" i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zuzurechnen sein (sog. Bruchteilsbetrachtung; s. BFHUrteil
in BFHE 244, 225, BStBl II 2016, 515).

c) In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist eine gesonderte und einheitliche Feststellung und Zurechnung von Einkünften
aus privaten Veräußerungsgeschäften nach §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO indes in Fällen, in
denen die Anschaffung oder Veräußerung einer Gesellschaftsbeteiligung als Anschaffung oder Veräußerung der
anteiligen Wirtschaftsgüter gilt (§ 23 Abs. 1 Satz 4 EStG), nach den oben genannten Maßstäben (s. die Ausführungen
unter II.1.b) regelmäßig nicht zulässig, weil der rechtliche Vorgang, welcher nur über die Fiktions- oder
Zurechnungsnorm zur Annahme eines "Anschaffungs-" oder "Veräußerungsgeschäfts" führt, nicht gemeinsam und in
der Einheit der Gesellschaft, sondern individuell durch den Gesellschafter verwirklicht wird (BFH-Urteile in BFH/NV
2016, 529; in BFHE 244, 225, BStBl II 2016, 515, und in BFH/NV 1995, 303).

3. Nach diesen Maßstäben ist im Streitfall die vom FA vorgenommene gesonderte und einheitliche Feststellung der
sonstigen Einkünfte aus der Veräußerung der maßgeblichen Immobilie schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil die
Voraussetzungen einer gemeinschaftlichen Erzielung von sonstigen Einkünften nicht vorliegen und es deshalb für die
gesonderte und einheitliche Feststellung eines Gewinns aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des § 23 Abs. 3
Satz 1 EStG an einer gesetzlichen Grundlage fehlt.

a) Durch das Ausscheiden des Gesellschafters B aus der vermögensverwaltenden GbR gegen Zahlung einer
Abfindung ist sein Anteil den verbleibenden Gesellschaftern C, D, F und G angewachsen. Jenseits der Frage, ob es
sich hierbei für die verbleibenden Gesellschafter C, D, F und G um ein "Anschaffungsgeschäft" i.S. des § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 4 EStG gehandelt hat, haben diese den --durch die (gesetzliche)
Rechtsfolge des § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgelösten-- Anwachsungserwerb jeweils einzeln und nicht in der Einheit
der Gesellschaft verwirklicht. Denn dieser Erwerb wurde nicht durch die das Personengesellschaftsverhältnis
bestimmende gesamthänderische Bindung (s. § 719 Abs. 1 BGB) geprägt, sondern beruhte auf einer
gesellschaftsvertraglichen Regelung, mit der die Gründungsgesellschafter für den Fall des Ausscheidens eines
Gesellschafters vorab eine individuelle, d.h. personenbezogene künftige Zuordnung des Anteils des Ausgeschiedenen
vereinbart hatten.

Vor diesem Hintergrund ist die Anwachsung in abgabenrechtlicher Hinsicht ein gesellschafterbezogener, kein
gesellschaftsbezogener Vorgang; denn der Anwachsungserwerb ist ein Fall des Anteilserwerbs. Dieser rechtliche
Befund wird auch nicht durch den Umstand infrage gestellt, dass die gesellschaftsvertragliche Regelung von allen
Gesellschaftern getragen und in derselben Urkunde vereinbart wurde und der Anwachsungserwerb für alle
verbliebenen Gesellschafter sodann zum gleichen Zeitpunkt stattgefunden hat (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2016, 529).

b) Die Sache ist spruchreif. Der angefochtene Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von
Besteuerungsgrundlagen ist insoweit rechtswidrig, als darin Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG festgestellt werden. Auf die von der Klägerin im Revisionsverfahren weiter
aufgeworfenen Fragen --etwa zur Teilentgeltlichkeit des Anschaffungsvorgangs-- kommt es mithin nicht mehr an.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BFH

Erscheinungsdatum:

19.11.2019

Aktenzeichen:

IX R 24/18

Rechtsgebiete:

Einkommens- und Körperschaftssteuer
Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR)
Sonstiges Steuerrecht

Normen in Titel:

AO §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a; EStG 2002 § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 u. Abs. 3 S. 1; BGB § 738 Abs. 1