Konkreter Bedarf für Bestellung eines Betreuers erforderlich
letzte Aktualisierung: 19.5.2022
BGH, Beschl. v. 2.3.2022 – XII ZB 558/21
Konkreter Bedarf für Bestellung eines Betreuers erforderlich
a) Sieht das Betreuungsgericht entsprechend
Gutachtens an den Betroffenen ab, kann durch die Bekanntgabe des Gutachtens an den
Verfahrenspfleger allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt
werden, wenn zusätzlich die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem
Betroffenen über das Gutachten spricht. Letzteres setzt in der Regel einen entsprechenden Hinweis
des Betreuungsgerichts an den Verfahrenspfleger voraus (im Anschluss an Senatsbeschluss vom
21. Oktober 2020 – XII ZB 153/20,
b) Die Erforderlichkeit einer Betreuung gemäß
der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können
(Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers.
Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der
konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein
Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (im Anschluss an
Senatsbeschluss vom 30. Juni 2021 – XII ZB 73/21,
Gründe:
Die Betroffene wendet sich gegen die für sie eingerichtete Betreuung.
Die Betroffene ist erstmals am 4. August 2021 angehört worden. An der
Anhörung haben auch die für sie bestellte Verfahrenspflegerin und eine Sachver-
ständige teilgenommen. Nach dem Anhörungstermin hat die Sachverständige ihr
Gutachten erstattet und darauf hingewiesen, dass das Gutachten der Betroffenen
aus gesundheitlichen Gründen nicht bekanntgegeben werden solle. Demgemäß
hat das Amtsgericht das Gutachten kommentarlos nur der Verfahrenspflegerin
und der Betreuungsstelle übersandt. Nach einem weiteren Anhörungstermin vom
9. September 2021 hat das Amtsgericht am gleichen Tag eine Betreuung mit fol-
gendem Aufgabenkreis eingerichtet: Befugnis zum Empfang und Öffnen von
Post, Regelung der Angelegenheiten betreffend den Miteigentumsanteil der Be-
troffenen an der Immobilie E., Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge, Ver-
mögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversiche-
rungsträgern und Wohnungsangelegenheiten.
Hiergegen hat die Betroffene Beschwerde eingelegt, die das Landgericht
ohne erneute Anhörung zurückgewiesen hat. Dagegen wendet sich die Be-
troffene mit der Rechtsbeschwerde.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des ange-
fochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landge-
richt.
Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Die Bestellung eines Betreuers für den genannten Aufgabenkreis sei zu
Recht erfolgt. Eine psychische Krankheit liege bei der Betroffenen nach dem Gut-
achten der Sachverständigen in Form einer anhaltenden wahnhaften Störung
vor. Die sich in der Akte befindlichen Äußerungen der Tochter der Betroffenen
sowie die Schreiben der Betroffenen und die Anhörungen zeigten mehr als deut-
lich, dass die Betroffene nicht in der Lage sei, ihre Angelegenheiten angemessen
zu regeln.
Von einer Wiederholung der Anhörung der Betroffenen werde wegen der
Besonderheiten des Falles abgesehen, da diese bereits im ersten Rechtszug er-
folgt sei und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu
erwarten seien. Das Amtsgericht habe die Betroffene zweimal angehört. Neue
entscheidungserhebliche Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte lägen nicht
vor und es sei nach dem Inhalt der Akte nicht zu erwarten, dass eine erneute
Anhörung der Betroffenen zusätzliche Erkenntnisse erbringen werde.
Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Landgericht nicht ohne
Anhörung entscheiden durfte.
aa) Vor der Bestellung eines Betreuers hat das Beschwerdegericht gemäß
sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persön-
lichen Anhörung des Betroffenen besteht nach
sätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt
dem Beschwerdegericht auch im Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von
einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach
ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ers-
ten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenom-
men worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine
neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 22. September
2021 - XII ZB 146/21 -
Sieht das Betreuungsgericht entsprechend
vorherigen Bekanntgabe eines Gutachtens an den Betroffenen – wie hier aus
gesundheitlichen Gründen – ab, kann durch die Bekanntgabe an den Verfahrens-
pfleger allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sicher-
gestellt werden, wenn zusätzlich die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Ver-
fahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht. Letzteres setzt
in der Regel einen entsprechenden Hinweis des Betreuungsgerichts an den Ver-
fahrenspfleger voraus (Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2020 - XII ZB 153/20 -
bb) Diese Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Anhörung der Be-
troffenen waren hier nicht erfüllt.
Das Amtsgericht hat das Gutachten kommentarlos an die Verfahrenspfle-
gerin übersandt. Am 9. September 2021 hat zwar ein Anhörungstermin stattge-
funden, in dem die Betroffene kein inhaltliches Gespräch führen wollte. Den Ge-
richtsakten lässt sich aber nicht entnehmen, dass die Verfahrenspflegerin vorab
mit der Betroffenen in Kontakt getreten ist und ihr den Inhalt des Gutachtens er-
läutert hätte. Der Hinweis des Amtsgerichts an die Betroffene, wonach die Sach-
verständige mitgeteilt habe, dass die Einrichtung einer Betreuung aus ärztlicher
Sicht wichtig und dringlich sei, genügt nicht, um die Betroffene hinreichend über
das Gutachten zu informieren.
b) Ebenso wenig hat das Landgericht festgestellt, dass die Anordnung des
umfangreichen Aufgabenkreises im Sinne von
derlich ist.
aa) Nach
soweit die Betreuung erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung
eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie – auch unter
Beachtung der Verhältnismäßigkeit – notwendig ist, weil der Betroffene auf ent-
sprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen
nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung kann sich dabei
nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine An-
gelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten
muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche
Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der kon-
kreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei ge-
nügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit
auftreten kann (Senatsbeschluss vom 30. Juni 2021 - XII ZB 73/21 - FamRZ
2021, 1737 Rn. 7 mwN).
bb) Dem genügt die Begründung des Landgerichts nicht. Eine etwaige Be-
zugnahme auf die amtsgerichtliche Entscheidung ist ebenfalls unbehelflich, weil
auch das Amtsgericht von einer ausreichenden Begründung abgesehen hat.
Weil die Sache noch nicht zur Endentscheidung reif ist, ist sie unter
Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen Behandlung und
Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen, § 74 Abs. 5 und 6 Satz 2
FamFG.
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil
sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeu-
tung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung beizutragen,
Entscheidung, Urteil
Gericht:BGH
Erscheinungsdatum:02.03.2022
Aktenzeichen:XII ZB 558/21
Rechtsgebiete:
Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
BGB § 1896 Abs. 2; FamFG §§ 34 Abs. 3, 37 Abs. 2, 68 Abs. 3 S. 2, 288 Abs. 1 S. 1