Einheimischenmodelle; Vereinbarkeit mit europäischen Grundfreiheiten
Einheimischenmodelle; Vereinbarkeit mit europäischen Grundfreiheiten
1. Die
und 63 AEUV sowie die Art. 22 und 24 der Richtlinie
2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten,
zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und
zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/
EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/
EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG stehen einer Regelung wie der in Buch 5 des Dekrets
der Flämischen Region vom 27. März 2009 über die
Grundstücks- und Immobilienpolitik vorgesehenen entgegen, die die Übertragung von Liegenschaften, die in
bestimmten, von der flämischen Regierung bezeichneten Gemeinden belegen sind, der Überprüfung des Bestehens einer „ausreichenden Bindung“ des potenziellen
Erwerbers oder Mieters zu diesen Gemeinden durch
eine provinziale Bewertungskommission unterwirft.
2.-4. […]
EuGH, Urt. v. 8.5.2013 – C-197/11, C-203/11
Abruf-Nr.: 11085R
Problem
Im belgischen Recht existiert ein Dekret der Flämischen
Region vom 27.3.2009 über die Grundstücks- und Immobilienpolitik, welches u. a. Regelungen über bezahlbare Wohnungen und hier speziell die Bestimmung des Art. 5.2.1
über das „Wohnen in der eigenen Region“ enthält. Darin ist
die Übertragung von Liegenschaften in bestimmten flämischen Gemeinden (sog. „Zielgemeinden“) an eine besondere Übertragungsbedingung geknüpft, wonach Grundstücke und darauf errichtete Bauten nur an Personen (weiter)
übertragen werden können, die nach dem Dafürhalten einer
provinzialen Bewertungskommission eine ausreichende
Bindung zur Gemeinde haben. Unter „Übertragen“ ist
dabei gem. Art. 5.2.1 § 1 Abs. 2 des Dekrets „Verkauf, Vermietung für mehr als neun Jahre oder Belastung mit einem
Erbpacht- oder Erbbaurecht“ zu verstehen.
Die provinziale Bewertungskommission stellt die geforderte Bindung zur Gemeinde anhand der in Art. 5.2.1
§ 2 des flämischen Dekrets beschriebenen Kriterien fest
(mindestens sechs Jahre wohnhaft in der Zielgemeinde,
Verrichtung von Tätigkeiten in der Gemeinde zum Zeitpunkt der Übertragung oder gesellschaftliche, familiäre,
soziale, wirtschaftliche Bindung des Kauf-/Mietwilligen an
die Gemeinde aufgrund eines wichtigen und dauerhaften
Umstands). Eine Person weist eine ausreichende Bindung
in diesem Sinne auf, wenn sie eine oder mehrere der Bedingungen erfüllt.
Beim belgischen Verfassungsgerichtshof waren mehrere
Klagen auf Nichtigerklärung des Dekrets anhängig. Neben
(vorliegend ausgeblendeten) Fragen des Beihilfe- und Vergaberechts warf der Verfassungsgerichtshof insbesondere
die Frage auf, ob das Dekret mit den Grundfreiheiten
und den Artt. 22 u. 24 der Richtlinie 2004/38/EG (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom
29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten) vereinbar ist.
Entscheidung
Nach Ansicht des EuGH verstößt das flämische Dekret
insbesondere hinsichtlich des Erfordernisses einer ausreichenden Bindung zu einer konkreten Gemeinde gegen
das Unionsrecht. So bejaht der EuGH eine Verletzung der
in
Richtlinie 2004/38/EG enthaltenen Bestimmungen. Die im
Dekret vorgesehene Prüfung hindere bestimmte Personen
ohne ausreichende Bindung zur Gemeinde daran, Grundstücke oder darauf errichtete Bauten zu erwerben oder zu
mieten. Zugleich halte sie Staatsbürger der Europäischen
Union, die in den Zielgemeinden eine Immobilie besäßen
oder mieteten, davon ab, diese Gemeinde zu verlassen,
um sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats
aufzuhalten oder dort einer Berufstätigkeit nachzugehen.
Demnach seien die im AEUV verbürgten Rechte der Freizügigkeit (
Niederlassungsfreiheit (
betroffen wie die in Artt. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38/
EG enthaltenen Bestimmungen über das EU-UnionsbürgerAufenthaltsrecht. Auch der freie Dienstleistungsverkehr
(
die entsprechenden Grundstücke in Zielgemeinden nicht an
jeden Staatsbürger der Union verkauft oder vermietet werden könnten. Da Gebietsfremde zugleich davon abgehalten
werden könnten, in einer der Zielgemeinden Immobilien zu
erwerben, liege schließlich eine Beschränkung des freien
Kapitalverkehrs i. S. d.
Die entsprechenden Beeinträchtigungen ließen sich im
vorliegenden Fall auch nicht rechtfertigen. Grundsätzlich
akzeptiert der EuGH zwar Beschränkungen der Grundfreiheiten mit dem Ziel, den Immobilienbedarf der am
wenigsten begüterten einheimischen Bevölkerung in
den Zielgemeinden zu befriedigen, wie dies die flämische
Regierung geltend gemacht hatte. Ein solches Ziel könne
nämlich einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der Beschränkungen der Grundfreiheiten zu
rechtfertigen vermöge. Da indes keines der drei alternativen Prüfkriterien des flämischen Dekrets in unmittelbarem Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Ziel
stehe, die am wenigsten begüterte einheimische Bevölkerung auf dem Immobilienmarkt zu schützen, gelinge eine
Rechtfertigung im konkreten Einzelfall nicht. Denn alle
diese Kriterien könnten nicht nur von der am wenigsten
begüterten Bevölkerung erfüllt werden, sondern auch von
Personen, die über ausreichende Mittel verfügten und folglich keinen besonderen Bedarf an sozialem Schutz auf dem
Immobilienmarkt hätten.
Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung des EuGH ist zu einem flämischen Einheimischenmodell ergangen. Die Parallelen zu den in deutschen Kommunen praktizierten Einheimischenmodellen
sind jedoch offensichtlich. Auch hier geht es schließlich
darum, den Wohnbedarf der ortsansässigen Bevölkerung
zu bezahlbaren, i. d. R. deutlich unter dem Verkehrswert
liegenden Preisen zu decken (vgl.
2003, 341 m. Anm. Grziwotz =
BGH
2007, 30; s. auch Krüger/Hertel, Der Grundstückskauf,
10. Aufl. 2012, Rn. 109 ff.; Krüger,
Vor dem Hintergrund der EuGH-Entscheidung wird künftig einerseits feststehen, dass das sozialpolitische Ziel, den
Wohnbedarf der ortsansässigen, am wenigsten begüterten
Bevölkerung durch Einheimischenmodelle zu decken, ein
auch im Unionsrecht grundsätzlich relevanter Allgemeinwohlbelang ist. Andererseits dürften nur solche Einheimischenmodelle den Vorgaben des Primär- und Sekundärrechts standhalten,
die mit Blick auf dieses legitime Ziel geeignete Auswahlkriterien aufstellen. Allein an die Dauer der
Ortsansässigkeit anzuknüpfen, sollte sich damit jedenfalls
fortan verbieten. Vielmehr muss gerade dem Kriterium
der Sozialauswahl signifikante Bedeutung zukommen.
Über den geförderten Personenkreis hinaus werden wohl
keine sonstigen „Einheimischen“ Grundstücke bevorzugt
erwerben dürfen (vgl. auch Grziwotz, Anm. zu EuGH, Urt.
v. 8.5.2013 – C-197/11, C-203/11, NotBZ 2013, i. E.).
Grundsätzlich binden die Grundfreiheiten zwar nur die
Politiken der Mitgliedstaaten (statt aller Calliess/Ruffert/
Kingreen, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 34-36 AEUV
Rn. 104 ff.). Der Begriff des Mitgliedstaats ist dabei aber
funktional zu verstehen. Die Grundfreiheiten verpflichten
also nicht nur die staatliche Zentralgewalt, sondern alle
mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Einrichtungen (Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 34-36 Rn. 105), insbesondere auch
die jeweiligen Gemeinden. Diese werden daher bei der Erstellung der Kriterienkataloge für die Grundstücksvergabe
die EuGH-Grundsätze zu beachten haben.
Rechtskonstruktiv ist derzeit noch unklar, ob und inwiefern
ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten unmittelbar auf die
einfach-rechtliche nationale Ebene der geschlossenen Verträge durchschlägt. Es könnte danach zu differenzieren
sein, ob die vertraglichen Abreden im Einzelfall selbst die
maßgeblichen Auswahlkriterien enthalten, wie dies etwa
beim klassischen „Weilheimer Modell“ der Fall ist (vgl.
BVerwG
scharfen Schwerts der gesetzlichen Nichtigkeitsfolge dürfte
die Annahme eines Gesetzesverstoßes i. S. v.
(i. V. m.
wird in der Literatur kontrovers diskutiert, ob und unter
welchen Voraussetzungen die Grundfreiheiten als Verbotsgesetze i. S. v.
Sack/Seibl, BGB, Neubearb. 2011, § 134 Rn. 43; MünchKommBGB/Armbrüster, 6. Aufl. 2012, § 134 Rn. 38). Im
Übrigen ist eine Vielzahl anderer Kontrollkonzepte denkbar: Neben
Armbrüster, § 134 Rn. 38) lässt sich für die Inhaltskontrolle
wohl namentlich
Blick auf letztgenannte Bestimmung hat der BGH bereits
angenommen, dass auf der Rechtsfolgenseite nicht stets die
Unwirksamkeit des gesamten Vertrags geboten ist, sondern
auch die durch die unwirksame Regelung geschaffenen Lücken im Wege ergänzender Vertragsauslegung geschlossen
werden können (vgl. hierzu nur BGH
3507).
Entscheidung, Urteil
Gericht:EuGH
Erscheinungsdatum:08.05.2013
Aktenzeichen:C-197/11, C-203/11
Rechtsgebiete:Öffentliches Baurecht
Erschienen in: Normen in Titel:AEUV Artt. 21, 45, 49, 56, 63; Artt. 22, 24 Richtlinie 2004/38/EG