Verzicht auf den Zusatzpflichtteil; Vermächtnis zugunsten des Pflichtteilsberechtigten
letzte Aktualisierung: 14.10.2024
OLG Celle, Urt. v. 29.7.2024 – 6 U 51/23
Verzicht auf den Zusatzpflichtteil; Vermächtnis zugunsten des Pflichtteilsberechtigten
1. An die Feststellung, der Erbe habe mit dem Pflichtteilsberechtigten, der mit einem Vermächtnis
bedacht ist, durch schlüssiges Verhalten einen Verzicht auf den Zusatzpflichtteil nach § 2307 Abs. 1
Satz 2 BGB vereinbart, sind strenge Anforderungen zu stellen.
2. Aus
des Pflichtteilsberechtigten, sich bei Annahme des Vermächtnisses vorzubehalten, den Zusatzpflichtteil
noch geltend zu machen.
Gründe
A.
Die Kläger haben in erster Instanz Wertermittlung für Nachlassgrundstücke verlangt und im
Wege der Klagerweiterung in zweiter Instanz (Stufenklage) Zahlung von jeweils 1/16 als
Zusatzpflichtteil.
Der am ... 1940 geborene und am ... 2020 verstorbene Erblasser G. S. war seit dem ... 1978 in
zweiter Ehe mit der Beklagten verheiratet. Der Kläger hatte vier Kinder:
aus erster Ehe:
1. die am ... 1961 geborene Klägerin zu 1,
2. den am ... 1964 geborenen Kläger zu 2 und
3. den am ... 1968 geborenen C. M., geb. S.,
aus zweiter Ehe:
4. den am ...1982 geborenen Mx. S..
Mit notariellem Testament vom 17. November 2017 (Anlage B 1 Anlagenband Beklagte) setzte
der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein und bestimmte:
„§ 3 Vermächtnisse
(1) Mein Sohn Mx. S. erhält ...
(2) Ferner erhält mein Sohn Mx. S. ...
(3) Meine sämtlichen Depotanteile an dem bei der Cx. bestehenden Wertpapierdepots, die
wirtschaftlich mir und meiner Ehefrau jeweils hälftig zustehen, sollen dadurch versilbert werden,
dass jeweils 50 % der Anteile veräußert werden. Der entstehende Erlös soll meinen Kindern B.,
Tz. und C. zu je 1/3 ausgezahlt werden. ... Das Vermächtnis ist spätestens nach sechs Monaten
nach meinem Ableben zur Erfüllung fällig. Die Kosten der Vermächtniserfüllung tragen die
Vermächtnisnehmer. Sollte das Depot nicht mehr im Bestand sein, so entfällt dieses
Vermächtnis ersatzlos.
(4) ...
(5) Meinen ideellen Miteigentumsanteil von 1/2 an der Immobilie I. 61, ... L., nebst anteiligen
Darlehen sollen meine Kinder B. und Tz. zu je 1/2 erhalten. ... Das Vermächtnis ist mit meinem
Ableben zur Erfüllung fällig. Die Kosten der Vermächtniserfüllung trägt der
Vermächtnisnehmer. Sollte das Objekt nicht mehr im Bestand sein, so entfällt das Vermächtnis
ersatzlos. ...“
Das Grundstück I. 61 in L. wurde im Dezember 2019 verkauft. Aus dem Erlös erhielten die
beiden Kläger und C. M. jeweils 200.000 €. Zuvor unterzeichneten der Erblasser, dessen
Ehefrau und die drei Kinder des Erblassers aus erster Ehe am 5. Januar 2020 folgende
maschinenschriftliche Erklärung (Anlage B 3):
„Vereinbarung über vorgezogene Erbschaft
für B. ..., Tz. ..., C. ...
als Erbnehmer
G. und E. S.
als Erbgeber
G. und E. S. geben den unter Erbnehmer genannten Kindern aus dem Erlös des Hausverkaufs
in L. jeweils ein vorgezogenes Erbe von jeweils 200.000 € Wert.
Als Gegenleistung verzichten die Erbnehmer auf ihren gesetzlichen Erbteil für das Grundstück
in ... Sx. ...
Weiter bestätigen die Erbnehmer, in den Jahren 2019 jeweils 200.000 € als vorgezogenes Erbe
erhalten zu haben, sodass insgesamt jetzt die Erbnehmer als vorgezogenes Erbe von 400.000 €
im Falle des Todes von G. S. anrechenbar ist.“
Am ... 2020 verstarb der Erblasser.
Mit nicht vorgelegtem Schreiben vom 3. August 2020 wandten die Kläger sich an die Beklagte,
um Auskunft über das Depot zu erhalten, das Gegenstand des Vermächtnisses gemäß § 3 Abs. 3
des Testaments war. Die Beklagte übermittelte mit nicht vorgelegtem Schreiben vom
20. August 2020 eine Saldenbestätigung vom 5. Juni 2020 und kehrte an die drei Kinder des
Erblassers aus erster Ehe jeweils 105.556,95 € aus dem Depot aus (= 1/3 von 316.670,85 €,
Bl. 17 R d. A.).
Die Kläger erklärten gegenüber der Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 25. August 2020
(Anlage K 4, Bl. 18 Anlagenband Kläger), dass die Auskünfte aus dem Schreiben vom
20. August 2020 unzureichend seien und verlangten weitere Auskünfte über eine separate
Anlage zum Depot, weitere 2 Seiten zu einer Übersicht der Depotbank und sämtliche
Depotauszüge seit dem 6. März 2020 sowie eine aktuelle Liste aller sich im Depot befindlichen
Wertpapiere sowie Anleihen nebst Nennwert mit aktuellem Veräußerungswert. Abschließend
wiesen sie darauf hin, dass sie die vorgenannten Auskünfte fristgerecht erwarten und die
Zahlung von jeweils 105.556,95 € als Teilzahlung ansehen. Nach fruchtlosem Fristablauf werde
Auskunftsklage gegen die Beklagte erhoben.
Die Kläger erhobenen Klage gegen die Beklagte vor dem Amtsgericht Hannover zu 417 C
10659/20 und verlangten mit vier Anträgen weitere Angaben zum Depot. Das Amtsgericht wies
die Klage mit Urteil vom 30. April 2021 ab (Anlage B 2). Zur Begründung führte es im
Wesentlichen aus, die Beklagte habe hinreichend Auskunft über das Depot erteilt. Es sei nicht
ersichtlich, dass Anhaltspunkte bestünden, dass noch weitere Konten des Erblassers dort
existierten. Die Kläger hätten keine Verdachtsmomente aufgeführt.
Die Kläger forderten die Beklagte mit Anwaltsschreiben vom 19. Oktober 2021 (Bl. 3
Anlagenband Kläger) auf, für ihren Pflichtteilsanspruch gemäß den gesetzlichen Bestimmungen
durch ein notarielles Nachlassverzeichnis über den Umfang des Nachlasses Auskunft zu erteilen.
Die Beklagte antwortete mit Anwaltsschreiben vom 8. November 2021 (Bl. 4 Anlagenband
Kläger), dass sie den Auskunftsanspruch vollumfänglich anerkenne.
Im Auftrag der Beklagten erstellte der Notar Dr. J. K. das notarielle Nachlassverzeichnis vom
27. Juni 2022 (Bl. 12 bis 17 Anlagenband Kläger).
Die Kläger waren mit der Bewertung der Nachlassimmobilien in der Auskunft nicht
einverstanden und nahmen mit Anwaltsschreiben vom 22. Juli 2022 (Bl. 1 f. Anlagenband
Kläger) gegenüber der Beklagten eine eigene Bewertung und Berechnung vor. Die Klägerin zu 1
bezifferte ihren Pflichtteilsergänzungsanspruch auf 154.434, 54 € (= 4.139.993,06 €
Nachlasswert x 12,5 % Pflichtteilsquote -363.064,50 € anrechenbarer Beträge). Der Kläger zu 2
bezifferte seinen Pflichtteilsergänzungsanspruch auf 124.999,13 €, weil er sich einen Betrag von
392.500,00 € anrechnete. Bei Nichtzahlung sei eine Begutachtung der Immobilien auf Kosten
des Nachlasses einzuholen (
Mit der Klage haben die Kläger von der Beklagten verlangt, die fünf im Klagantrag genannten
Nachlassimmobilien durch ein Wertgutachten eines unparteiischen Sachverständigen ermitteln
zu lassen.
Sie haben geltend gemacht, weder ausdrücklich noch konkludent mit der Forderung eines
Vermächtnisses und/oder Annahme der Zahlung der Beklagten auf das Vermächtnis auf ihren
Pflichtteilsanspruch verzichtet zu haben. Zum Zeitpunkt der Forderung und Zahlung sei die
Höhe des Depots unklar gewesen. Darüber hinaus sei der Wert des Nachlasses insgesamt nach
wie vor unklar. Aus dem Schreiben vom 25. August 2020 ergebe sich, dass die Kläger weitere
Auskünfte über die Depots gefordert hätten. Letztlich habe die Beklagte selbst mit anwaltlichem
Schreiben vom 8. November 2021 einen Auskunftsanspruch der Kläger anerkannt und das
notarielle Nachlassverzeichnis vom 27. Juni 2022 vorgelegt. Auf einen konkludenten
Pflichtteilsverzicht könne sie sich daher nicht berufen.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und vorgetragen,
ein Anspruch auf Wertermittlung bestehe nicht. Die Kläger hätten ein Wahlrecht auf § 2307
BGB gehabt, ob sie das Vermächtnis annehmen oder es ausschlagen und den Pflichtteil geltend
machen. Dieses Wahlrecht hätten sie vorbehaltlos ausgeübt, indem sie ihren Anteil am
Wertpapierdepot gefordert und erhalten hätten. Damit stünde allenfalls noch ein möglicher
Zusatzpflichtteil im Raum. Mit der vorbehaltlosen Forderung und Annahme des Vermächtnisses
hätten sie jedoch konkludent den Verzicht auf einen vermeintlichen Zusatzpflichtteil erklärt. Ein
solcher bestünde bei einer Pflichtteilsquote von 1/16 auch deshalb nicht, weil die Kläger
entsprechend der Vereinbarung vom 5. Januar 2020 bereits ein vorgezogenes Erbe in Höhe von
je 400.000 € erhalten hätten und die Zahlung in Höhe von 105.556,09 € auf das Vermächtnis.
Rechtsanwalt Ka. habe für die Kläger im Beurkundungstermin Einverständnis damit erklärt,
dass die Wertermittlung für die in den Nachlass fallenden Immobilien auf der Grundlage der
Angaben des Gutachterausschusses für Vergleichsobjekte aus den Kaufverträgen der letzten drei
Jahre erfolgen solle. Unabhängig von einem Verzicht auf den Zusatzpflichtteil verstoße damit
die Forderung nach der Vorlage von Wertermittlungsgutachten gegen Treu und Glauben und
das Schikaneverbot aus
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger könnten
keine Wertermittlung nach
Zusatzpflichtteil nach
13. Dezember 2022 (Bl. 38 d. A.) lasse sich ein Vorbehalt für den Zusatzpflichtteil weder dem
Vortrag der Beklagten im Schriftsatz vom 29. Dezember 2022 noch dem Schreiben vom
25. August 2020 noch den Ausführungen im Termin vom 24. Mai 2023 entnehmen.
Gegen dieses Urteil, auf dessen Einzelheiten der Senat zur näheren Sachdarstellung verweist,
wenden die Kläger sich mit der Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Ziel weiterverfolgen.
Die Kläger beantragen,
1. 1.
die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils zu verurteilen, den Wert der im
Nachlassbestandsverzeichnis des Notars Dr. J. K. vom 27. Juni 2022 aufgeführten fünf
Immobilien des Nachlasses (siehe in der Urteilsformel zu a - e) durch ein Wertgutachten eines
unparteiischen Sachverständigen ermitteln zu lassen,
2. 2.
im Wege der Stufenklage gemäß Klagerweiterungen vom 23. und 30. Dezember 2023 (Bl. 129
und 132 d. A.) die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger eine Pflichtteilszusatzzahlung in Höhe
von jeweils 1/16 des sich aus der vorbehaltenen Wertermittlung ergebenden Nachlasswertes
nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der
Klage zu zahlen und
3. 3.
nach Hinweis des Senatsvorsitzenden mit Schreiben vom 17. Juni 2024 die Sache wegen des
Zahlungsantrags an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften verwiesen.
B.
Die Berufung ist hinsichtlich des Wertermittlungsanspruchs begründet und hat wegen der
Entscheidung über den Zahlungsantrag die Zurückverweisung an das Landgericht zur Folge.
I.
Die Kläger zu 1 und 2 können von der Beklagten gemäß
Wertermittlung für die genannten Grundstücke verlangen.
Nach § 2314 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte, der nicht Erbe ist, vom
Erben verlangen, dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird.
1. Pflichtteilsberechtigte im Sinn dieser Vorschrift sind die Kläger zu 1 und 2 als teilweise
enterbte Kinder des Erblassers.
2. Die Beklagte ist die Alleinerbin des Erblassers.
3. Der Pflichtteilsanspruch der Kläger zu 1 und 2 ist auf den Zusatzpflichtteil nach § 2307
Abs. 1 Satz 2 BGB beschränkt, weil der Erblasser sie mit einem Vermächtnis bedacht hat und
sie das Vermächtnis nicht ausgeschlagen haben.
Hierzu bestimmt
„(1) Ist ein Pflichtteilsberechtigter mit einem Vermächtnis bedacht, so kann er den Pflichtteil
verlangen, wenn er das Vermächtnis ausschlägt. Schlägt er nicht aus, so steht ihm ein Recht auf
den Pflichtteil nicht zu, soweit der Wert des Vermächtnisses reicht; bei der Berechnung des
Werts bleiben Beschränkungen und Beschwerungen der in § 2306 bezeichneten Art außer
Betracht.
(2) Der mit dem Vermächtnis beschwerte Erbe kann den Pflichtteilsberechtigten unter
Bestimmung einer angemessenen Frist zur Erklärung über die Annahme des Vermächtnisses
auffordern. Mit dem Ablauf der Frist gilt das Vermächtnis als ausgeschlagen, wenn nicht vorher
die Annahme erklärt wird.“
a) Der Erblasser hat die Kläger zu 1 und 2 durch notarielles Testament vom 17. November 2017
mit dem Vermächtnis bedacht, dass ihnen jeweils ein Drittel des Erlöses als Vermächtnis
auszuzahlen ist, das die Veräußerung des Anteils von 50 % erbringt, der dem Erblasser bei
Eintritt des Erbfalls an den genannten Depots zustand.
b) Dieses Vermächtnis haben die Kläger zu 1 und 2 nicht ausgeschlagen, sondern mit nicht
vorgelegtem Schreiben vom 3. August 2020 von der Beklagten Auskunft über das Depot
verlangt, das Gegenstand des vorgenannten Vermächtnisses war. Die Beklagte übermittelte mit
nicht vorgelegtem Schreiben vom 20. August 2020 eine Saldenbestätigung vom 5. Juni 2020 und
kehrte an die drei Kinder des Erblassers aus erster Ehe jeweils 105.556,95 € aus dem Erlös der
Depotveräußerung aus (= 1/3 von 316.670,85 €, Bl. 17 R. d. A.).
Diese Zahlung der Beklagten haben die Kläger zu 1 und 2 jeweils angenommen.
4. Diese Annahme hat zur Folge, dass ihnen "ein Recht auf den Pflichtteil nicht zu(steht), soweit
der Wert des Vermächtnisses reicht" (§ 2307 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BGB). Als Zusatzpflichtteil
können sie von der Beklagten den Betrag verlangen, der nach Abzug des Vermächtnisses als
restlicher Pflichtteil verbleibt.
5. Auf diesen Zahlungsanspruch und den vorgelagerten Wertermittlungsanspruch zur
Bezifferung des Anspruchs haben die Kläger zu 1 und 2 weder ausdrücklich noch konkludent
verzichtet.
a) Nach
durch Vertrag die Schuld erlässt, wobei ein solcher Erlass grundsätzlich formfrei möglich ist
(Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Aufl. 2024, § 397 Rn. 8).
Die Beweislast für den Erlass trägt der Schuldner (Grüneberg/Grüneberg, a. a. O., § 397 Rn. 13
m. w. N.).
„Ein Erlassvertrag (
übereinstimmende Willenserklärungen abgeben. ... Hierfür ist ... erforderlich, dass ... mit
hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, es solle eine materiell-rechtlich wirkende
Erklärung abgegeben werden. Insoweit kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalles
an. Das Angebot auf Abschluss eines Erlassvertrages muss unmissverständlich erklärt werden ...
An die Feststellung des Verzichtswillens sind strenge Anforderungen zu stellen, er darf nicht
vermutet werden ... Selbst bei einer eindeutig erscheinenden Erklärung des Gläubigers darf ein
Verzicht nicht angenommen werden, ohne dass bei der Feststellung zum erklärten
Vertragswillen sämtliche Begleitumstände berücksichtigt worden sind ... Darüber hinaus gilt der
Grundsatz, dass empfangsbedürftige Willenserklärungen möglichst nach beiden Seiten hin
interessengerecht auszulegen sind" (BGH, Urteil vom 7. März 2006 zu VI ZR 54/05, zitiert
nach juris, dort Rn. 9 f m. w. N., ebenso Urteil des BGH vom 3. Juni 2008 zu XI ZR 353/07,
zitiert nach juris, dort Rn. 20).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss gerade bei Erklärungen, die als
Verzicht, Erlass oder in ähnlicher Weise rechtsvernichtend gewertet werden sollen, das Gebot
einer interessengerechten Auslegung beachtet werden, wobei die der Erklärung zugrunde
liegenden Umstände besondere Bedeutung haben. Wenn feststeht oder davon auszugehen ist,
dass eine Forderung entstanden ist (hier die Entstehung des Pflichtteilsanspruchs mit Eintritt
des Erbfalls), verbietet dieser Umstand im allgemeinen die Annahme, der Gläubiger habe sein
Recht einfach wieder aufgegeben. Das bildet in solchen Fällen die Ausnahme. Selbst bei
eindeutig erscheinender Erklärung des Gläubigers darf ein Verzicht deshalb nicht angenommen
werden, ohne dass bei der Feststellung zum erklärten Vertragswillen sämtliche Begleitumstände
berücksichtigt worden sind. Es sind strenge Anforderungen zu stellen (Urteil des BGH vom
15. Januar 2022 zu X ZR 91/2000 zitiert nach juris, dort Rn. 25 m. w. N.).
Bei der Annahme eines stillschweigenden Verzichts auf den Pflichtteilsanspruch ist generell
Zurückhaltung geboten (Urteil des OLG Düsseldorf vom 9. Juli 2021 zu 7 U 110/20, zitiert
nach juris, dort Rn. 30 ff.).
b) Die Beklagte hat nicht schlüssig dargelegt und unter Beweis gestellt, dass die Parteien einen
solchen Verzichtsvertrag konkludent geschlossen haben.
Dem vorgetragenen Sachverhalt kann nicht entnommen werden, dass die Kläger gegenüber der
Beklagten durch ihr Verlangen auf Vermächtniserfüllung und Annahme der Zahlung der
Beklagten dieser gegenüber zum Ausdruck gebracht haben, darüber hinaus keinen
Zusatzpflichtteil zu verlangen.
Ein solches Angebot zum Abschluss eines Erlassvertrages folgt nicht aus der Annahme des
Landgerichts und der Beklagten, die Kläger wären verpflichtet gewesen, sich bei Annahme des
Vermächtnisses die Geltendmachung des restlichen Pflichtteilsanspruchs vorzubehalten. Das
Gesetz enthält in
Zusatzpflichtteil vorzubehalten, sondern die gesetzliche Regelung beschränkt sich darauf, dass
der Pflichtteilsberechtigte, der mit einem Vermächtnis bedacht ist, den Pflichtteil verlangen
kann, wenn er das Vermächtnis ausschlägt, und dass für den Fall, dass er das Vermächtnis nicht
ausschlägt, ihm ein Recht auf den Pflichtteil nicht zusteht, soweit der Wert des Vermächtnisses
reicht. Eine Vorbehaltserklärung sieht das Gesetz nicht vor, sondern das Recht des "mit dem
Vermächtnis beschwerte(n) Erbe(n) ... den Pflichtteilsberechtigten unter Bestimmung einer
angemessenen Frist zur Erklärung über die Annahme des Vermächtnisses auf(zu)fordern" (§
2307 Abs. 2 BGB). Daher kann der These, in der vorbehaltlosen Forderung des Vermächtnisses
könne oft Verzicht auf den Zusatzanspruch gesehen werden, weil nach dem Erbfall Verzicht
formlos möglich sei (so aber Grüneberg/Weidlich a. a. O. § 2307 Rn. 2), in dieser Allgemeinheit
nicht gefolgt werden, sondern es sind die allgemeinen Grundsätze zur Feststellung eines
Verzichts zu berücksichtigen.
Auch ansonsten liegen keine besonderen Umstände vor, die die Annahme rechtfertigen
könnten, die Kläger hätten gegenüber der Beklagten zum Ausdruck gebracht, auf den
Zusatzpflichtteil zu verzichten. Das Testament des Erblassers enthält keine Angabe, dass der
Anspruch der Kläger auf das Vermächtnis nur besteht, wenn sie auf den Zusatzpflichtteil
verzichten, oder dass das Vermächtnis an die Stelle des Pflichtteils treten soll (vgl. auch
Staudinger/Otte (2021)
Ferner ist nicht vorgetragen, dass der Schriftwechsel der Parteien eine Angabe enthält, die die
Annahme eines Verzichtes rechtfertigt. Vielmehr war den Klägern zunächst sowohl der Wert
des Depots als auch der Wert des übrigen Nachlasses unbekannt, weil eine sachverständige
Bewertung des umfangreichen Grundbesitzes nicht erfolgt ist.
Der Zeitablauf zwischen der Annahme des Vermächtnisses und dem Pflichtteilsverlangen,
worauf die Beklagte vor dem Senat nochmals hingewiesen hat, reicht - wie bereits ausgeführt -
nicht aus, um einen stillschweigenden Verzicht anzunehmen.
c) Im Übrigen fehlt es nach dem vorgetragenen Sachverhalt an einer Annahmeerklärung der
Beklagten. Sie hat das Verhalten der Kläger weder als Angebot auf Abschluss eines
Verzichtsvertrages verstanden, noch ist sie von einem Zustandekommen eines solchen
Verzichtsvertrages ausgegangen, sondern hat auf die Aufforderung der Kläger vom
19. Oktober 2021 mit Anwaltsschreiben vom 8. November 2021 geantwortet, dass sie den
Auskunftsanspruch vollumfänglich anerkenne, also das notarielle Nachlassverzeichnis in Auftrag
geben werde.
4. Der weitere Einwand der Beklagten, die Kläger hätten vorgerichtlich auf die Wertermittlung
„konkludent verzichtet“ (Bl. 127 d. A. i. V. m. Bl. 36 f. d. A.), ist unerheblich.
Der Vortrag der Beklagten beschränkt sich auf die von den Klägern bestrittene (Bl. 59 R d. A.)
Behauptung, beim Termin vom 8. Juni 2022 in der Kanzlei des Notars K. habe Rechtsanwalt
Ka. im Rahmen des Vorgesprächs hinsichtlich der aufzunehmenden Immobilienwerte
bestätigend geäußert, er wolle der Beklagten die Einholung von teuren
Sachverständigengutachten ersparen. Sie hat aber nicht vorgetragen, dass die Parteien einen
Verzichtsvertrag geschlossen haben. An einen solchen Verzicht sind strenge Anforderungen zu
stellen (s. o.). Eine Annahmeerklärung der Beklagten wird nicht behauptet.
In der notariellen Urkunde vom 27. Juni 2022 sind der Termin vom 8. Juni 2022 und die
Beteiligung des Rechtsanwalts Ka. dargestellt, nicht aber eine Einigung auf einen Verzicht.
5. Ein Wertermittlungsanspruch für das Grundstück in Sx. entfällt nicht aus dem Grund, dass
die Vereinbarung vom 5. Januar 2020 (Anlage B 3) die Erklärung enthält:
„Als Gegenleistung verzichten die Erbnehmer auf ihren gesetzlichen Erbteil für das Grundstück
in ... Sx. ...“
Es fehlt an der notariellen Beurkundung (
II.
Die im Berufungsverfahren erfolgte Klageerweiterung ist zulässig.
1. Es liegt keine Klagänderung, sondern nur eine Klagerweiterung vor, weil die Kläger den
vorbereitenden Wertermittlungsanspruch erster Instanz im Wege der Stufenklage mit dem
unbezifferten Zahlungsantrag verbunden haben.
Für die prozessuale Zulässigkeit gilt (Urteil des BGH vom 9. Oktober 1974 zu IV ZR 164/73,
bei juris Rn. 33 - 35):
„Entgegen der Ansicht der Revision bedurfte es bei dem Zahlungsanspruch weder eines
bestimmten Klageantrages noch handelte es sich um eine Klageänderung. Eine Stufenklage, wie
sie nunmehr vorlag, erlaubt als Ausnahme zu
zunächst unbestimmten Antrag. ...
Der Anspruch auf Rechnungslegung soll den Leistungsanspruch im allgemeinen nur
vorbereiten. Wenn die Klägerin daher auf derselben tatsächlichen und rechtlichen Grundlage
vom Rechnungslegungs- auch zum Zahlungsanspruch überging, so strebte sie nunmehr
unmittelbar das Ziel an, das sie bisher mittelbar zu erreichen versucht hatte. Daher kann der
Übergang von der Rechnungslegungs- zur Zahlungsklage nur als bloße Klageerweiterung
angesehen werden, die sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug zulässig ist (BGH NJW
1969, 1486).“
2. Aber selbst wenn man eine Klagänderung annimmt, hält es der Senat für sachdienlich (§ 533
Nr. 1 ZPO), dass die Frage des Zusatzpflichtteils abschließend im vorliegenden Rechtsstreit
geklärt und keine Zahlungsklage der Kläger in einem weiteren Rechtsstreit erforderlich wird. Die
Stufenklage ist für diese Fallkonstellation angemessen.
Die Formulierung des unbezifferten Zahlungsantrags („Pflichtteilszusatzzahlung“) bringt
hinreichend zum Ausdruck, dass nicht Zahlung von 1/16 des Nachlasswertes, sondern nur 1/16
als Zusatzpflichtteil, also nach Abzug der erhaltenen Vermächtniszahlung verlangt wird.
Es kann zurzeit nicht festgestellt werden, dass den Klägern trotz dieser Vermächtniszahlung und
trotz der anzurechnenden Leistung des Erblassers zu Lebzeiten kein Zusatzpflichtteil verbleibt,
weil dies von der Bewertung der Grundstücke abhängt, also von der ausstehenden
Wertermittlung.
III.
Nach Hinweis des Senatsvorsitzenden mit Schreiben vom 17. Juni 2024 haben die Kläger die
Zurückverweisung der Sache an das Landgericht beantragt.
IV.
Daher war die Sache in entsprechender Anwendung des
der Entscheidung über den Zahlungsantrag an das Landgericht zurückzuverweisen, das über die
Zahlungsstufe zu entscheiden hat, weil die Sachlage dem Grundurteil vergleichbar ist (vgl.
Zöller/Heßler, ZPO, 35. Auflage 2024, Rn. 47 f. m. w. N. und Urteil des BGH vom
9. Oktober 1974 zu IV ZR 164/73, zitiert nach juris, dort Rn. 36):
„... Denn rechtshängig wurde der Zahlungsanspruch hier erst beim Berufungsgericht und dieses
mußte sich mit ihm befassen. Sachlich aber konnte das Berufungsgericht über diesen Anspruch
nicht entscheiden. Denn wenn auch mit der Klage auf Rechnungslegung die Zahlungsklage
verbunden werden kann, so ist eine Entscheidung über den Zahlungsanspruch immer erst
möglich, wenn Rechnung gelegt ist. Daher muß bei der Stufenklage über die Ansprüche getrennt
und nacheinander verhandelt und entschieden werden (vgl.
Verurteilung zur Leistung des Offenbarungseides). Mit Recht hat daher das Berufungsgericht in
entsprechender Anwendung des
wenn der Rechtsstreit wegen des Zahlungsanspruches in erster Instanz rechtshängig geblieben
wäre und das Landgericht ein Teilurteil über den Rechnungslegungsanspruch erlassen hätte.
Zwar sieht
nur für den Fall eines nach Grund und Betrag streitigen Anspruches vor. Die Übertragung
dieser Bestimmung auf die Stufenklage ist jedoch aus Gründen der Rechtsähnlichkeit geboten.
Denn bei dem noch ausstehenden Zahlungsanspruch handelt es sich in Wirklichkeit um ein
Betragsverfahren nach Art der
heraus der
durch den Erstrichter die Zurückverweisung an ihn vorsieht, auch hier durchgreift. Das
entspricht nicht nur einer verfahrensrechtlichen Zweckmäßigkeit, sondern vermeidet auch eine
für die Klägerin durch den Verlust eines Rechtszuges für ihren Zahlungsanspruch verbundene
Unbilligkeit (
87/60]; Stein/Jonas Komm. zur ZPO 19. Aufl., § 254 Anm. III.6.; Baumbach/Hartmann ZPO
32. Aufl., § 254 Anm. 3) B; Rosenberg, Lehrbuch 10. Aufl., § 141 IV c. a.E. S 741).“
V.
Über die Kosten des Rechtsstreits hat das Landgericht zu entscheiden, weil diese Entscheidung
vom Ergebnis der Zahlungsstufe abhängt.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf
Der Streitwert für das Berufungsverfahren war aufgrund der von den Klägern in der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat am 25. Juni 2024 genannten Zahlungserwartung auf 200.000 €
festzusetzen.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen (§ 543 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO).
Entscheidung, Urteil
Gericht:OLG Celle
Erscheinungsdatum:29.07.2024
Aktenzeichen:6 U 51/23
Rechtsgebiete:
Allgemeines Schuldrecht
Erbverzicht
Pflichtteil
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
Zwangsvollstreckung (insbes. vollstreckbare Urkunde und Vollstreckungsklausel)
BGB § 2307