BGH 23. November 2023
V ZR 59/23
ZPO §§ 398 Abs. 1, 529 Abs. 1, 544 Abs. 9

Wiederholung einer Zeugenvernehmung durch das Berufungsgericht

letzte Aktualisierung: 7.3.2024
BGH, Beschl. v. 23.11.2023 – V ZR 59/23

ZPO §§ 398 Abs. 1, 529 Abs. 1, 544 Abs. 9
Wiederholung einer Zeugenvernehmung durch das Berufungsgericht

Das Berufungsgericht ist grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges
gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen
Feststellungen ist aber eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht
die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen gem. § 398 Abs. 1 ZPO nochmals vernehmen,
wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

(Leitsatz der DNotI-Redaktion)

Gründe:

I.
Mit notariellem Vertrag vom 28. November 2018 verkauften die Beklagten
an die Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel
betrieben hatten. Nach Besitzübergabe am 15. Februar 2019 führte die Klägerin
den Hotelbetrieb weiter fort. § 5 des notariellen Vertrages, der am Beurkundungstag
noch gegenüber einem vorherigen Entwurf geändert worden war, lautet
u.a. wie folgt:

eine Verbindlichkeiten des Verkäufers 1,
die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang
entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich
der Verkäufer 1. Der Verkäufer 1 wird den Käufer auf erstes
Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund
einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers 1 gegen den Käufer
geltend gemacht werden, freistellen. Der Käufer übernimmt weiter
keine Debitoren, Kreditoren und keine Kassenbestände.

Vom Verkäufer 1 bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für
Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag
stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Glei-
Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine
in Höhe eines Betrages von 335.725,21 nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten.
Das Landgericht hat der Klage bis auf einen geringfügigen Teil der
Zinsen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht
das Urteil des Landgerichts teilweise geändert und die Klage bis auf einen Betrag
von 50.023,20 abgewiesen. Die Revision gegen seine Entscheidung
hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde,
deren Zurückweisung die Beklagten beantragen.

II.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages dahingehend
auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen
kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer
entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch - so die Auffassung
des Landgerichts - für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag
(15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung
i.H.v. 50.023,20
gleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Die Beklagten
seien nach Betriebsübergang nicht mehr in der Lage gewesen, die eingegangenen
Verbindlichkeiten für bereits gebuchte Veranstaltungen zu erfüllen
und Hotelleistungen für die ausgegebenen Gutscheine zu erbringen. Sie seien
deshalb darauf angewiesen gewesen, dass die Klägerin die verabredeten Veranstaltungen
nach Betriebsübergang durchführte sowie die Gutscheine gegen sich
gelten ließ und die entsprechenden Leistungen erbrachte. Deshalb sehe der Verernachtungen
lungsverpflichtung der Beklagten vor, sondern gehe von einer gegenseitigen Verpflichtung
im Sinne eines Synallagmas aus, wenn dort eine Erstattungspflicht des
Verkäufers voraussetze, dass die entsprechend
Übergabetag stattgefunden haben
nen sei die Interessenlage ähnlich, so dass insoweit im Hinblick auf die in der
rden
müsse. Aus der Vertragshistorie ergebe sich nichts Anderes.

Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme
nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht,
eine eigene Interpretation dafür kund zu tun, was die Parteien angeblich
entspräche. Er habe jedoch
keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation
tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation, der das
Landgericht gefolgt sei, eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage
der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung
nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen
gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz
gleich ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man
die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke.
Auch die Angaben des Zeugen V. als ehemaligem Hotelleiter der Klägerin
stützten das Vertragsverständnis des Landgerichts nicht, auch wenn der Zeuge
bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen, und
über eine Verjährung sei nicht gesprochen worden. Ein Anspruch auf Erstattung
vorprozessualer Rechtsanwaltskosten scheide mangels Verzuges der Beklagten
aus.

III.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat ganz überwiegend Erfolg. Das angefochtene
Urteil ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf
Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Die Klägerin rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen
Zeugen nicht erneut vernommen hat.

1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an
die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an
der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen
ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht
die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398
Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die
Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben,
wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die
weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe
des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage
betreffen. Liegt ein solcher Ausnahmefall nicht vor, verletzt die unterbliebene erneute
Vernehmung der Zeugen den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör
nach Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09,
NJW-RR 2009, 1291 Rn. 4 f.; Urteil vom 28. Februar 2023 - VI ZR 98/22, NJWRR
2023, 700 Rn. 6 f.).

2. Hier hat das Berufungsgericht die Zeugenaussagen anders als das
Landgericht gewürdigt.

a) Das Landgericht ist in dem Urteil zu dem Ergebnis gekommen, dass
nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung
für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine
zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden
sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen
Notars gestützt. Dieser habe sich
gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann
noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung
treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet
oder ausgeglichen werden sollen. Die dahingehende Änderung des ursprünglichen
Vertragsentwurfs sei übereinstimmend gewollt gewesen, um einen klaren
Schnitt zu machen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die
Aussagen des Zeugen V. gestützt. Hiernach habe sich die Erstattungsfähigkeit
vollumfänglich auf sämtliche Gutscheine erstrecken sollen.

b) Demgegenüber geht das Berufungsgericht davon aus, der Notar habe
eine von dem Landgericht abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars
vor. Das Landgericht hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne
einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den
Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt
für die Aussage des Zeugen V. . Abweichend von der Würdigung des
Landgerichts soll sich nach dem Verständnis des Berufungsgerichts aus den Angaben
dieses Zeugen nicht ergeben, dass sich die Erstattungsfähigkeit auf sämtliche
Gutscheine erstrecken sollte.

3. Der Verstoß gegen den Anspruch auf das rechtliche Gehör ist ganz
überwiegend auch entscheidungserheblich.

a) Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der
Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung
verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die
Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien
(§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche
bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die
von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer
nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.
Gäbe es einen solchen Willen der Parteien, hätte er in § 5 Nr. 4 des notariellen
Vertrages auch einen ausreichenden Ausdruck gefunden (vgl. zu dieser Voraussetzung
Senat, Urteil vom 23. Juni 2023 - V ZR 89/22, NJW 2023, 2942 Rn. 15
mwN).

b) Auf die Unbegründetheit des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs
auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten hat die unterbliebene erneute Vernehmung
der Zeugen hingegen keinen Einfluss. Das Berufungsgericht verneint
einen solchen Anspruch der Klägerin bereits dem Grunde nach, weil sich die Beklagten
nicht im Verzug befunden hätten. Insoweit fehlt es deshalb an der Entscheidungserheblichkeit
der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Dass die Ausführungen
des Berufungsgerichts an einem sonstigen zulassungsrelevanten
Rechtsfehler leiden, zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde nicht auf.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

23.11.2023

Aktenzeichen:

V ZR 59/23

Rechtsgebiete:

Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Normen in Titel:

ZPO §§ 398 Abs. 1, 529 Abs. 1, 544 Abs. 9