BGH 09. Oktober 2024
XII ZB 289/24
BGB §§ 104 Abs. 2, 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1; FamFG § 26

Vorrang einer Vorsorgevollmacht vor der Betreuerbestellung; Prüfung der Geschäftsfähigkeit des Vollmachtgebers im Zeitpunkt der Vollmachtserteilung durch das Gericht von Amts wegen

letzte Aktualisierung: 6.2.2025
BGH, Beschl. v. 9.10.2024 – XII ZB 289/24

BGB §§ 104 Abs. 2, 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1; FamFG § 26
Vorrang einer Vorsorgevollmacht vor der Betreuerbestellung; Prüfung der Geschäftsfähigkeit
des Vollmachtgebers im Zeitpunkt der Vollmachtserteilung durch das Gericht von
Amts wegen

Die Frage, ob der Betroffene im Zeitpunkt der Vollmachterteilung nach § 104 Nr. 2 BGB
geschäftsunfähig war, hat das Gericht nach § 26 FamFG von Amts wegen aufzuklären.
Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen hat es von Amts wegen nachzugehen (im Anschluss an
Senatsbeschluss vom 22. Juni 2022 – XII ZB 544/21 – FamRZ 2022, 1556).

Gründe:

I.
Der Betroffene wendet sich gegen die Bestellung eines beruflichen Betreuers.
Der im Jahr 1939 geborene Betroffene, der an einer Demenz vom Alzheimer
Typ leidet, hatte im Jahr 2019 seiner Nichte eine Generalvollmacht erteilt.
Am 27. November 2022 erteilte er Herrn A. eine schriftliche Vorsorgevollmacht,
die am 29. November 2022 notariell beglaubigt wurde und in der der Vollmachtnehmer
hinsichtlich der Aufgabenbereiche Gesundheitssorge und Postangelegenheiten
bevollmächtigt wurde. Mit notarieller Urkunde vom 11. Mai 2023 erteilte
er Herrn A. eine Generalvollmacht, in der auch die Regelung enthalten ist,
dass der Bevollmächtigte zum Betreuer bestellt werden soll, wenn dies trotz der
Erteilung der Vollmacht erforderlich werden sollte. Am 26. April 2023 widerrief
der Betroffene die seiner Nichte im Jahr 2019 erteilte Generalvollmacht.
Auf Anregung des Gesundheitsamts der Stadt D. hat das Amtsgericht den
Beteiligten zu 1 zum beruflichen Betreuer mit umfassendem Aufgabenkreis bestellt
und einen Einwilligungsvorbehalt für den Bereich der Vermögensangelegenheiten
angeordnet. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde des Betroffenen
zurückgewiesen. Hiergegen wendet er sich mit der Rechtsbeschwerde.

II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Der Betroffene komme wegen seiner Erkrankung nicht ohne Hilfe einer
anderen Person im täglichen Leben zurecht. Die vom Betroffenen zu Gunsten
von Herrn A. erteilte notarielle Vollmacht vom 11. Mai 2023 sei unwirksam. Zum
Zeitpunkt der Ausstellung der Vollmacht sei der Betroffene bereits geschäftsunfähig
gewesen. Aussagekräftige ärztliche Atteste, die dieser Annahme des Sachverständigen
entgegenstehen würden, habe der Betroffene auch nach einem entsprechenden
richterlichen Hinweis nicht eingereicht. Gleiches gelte für die durch
den Betroffenen ausgestellte Vollmacht vom 27. November 2022. Zwar habe der
Sachverständige ein genaues Datum, zu dem der Betroffene geschäftsunfähig
gewesen sei, nicht angeben können. Er habe aber festgestellt, dass die Geschäftsunfähigkeit
mit Sicherheit Ende des Jahres 2022 bereits bestanden habe.

Wo genau die zeitliche Grenze zum Ende des Jahres verlaufe, könne dahinstehen.
Denn umfasst sei zumindest auch der 27. November 2022, da die Erkrankung
des Betroffenen nicht plötzlich aufgetreten sei, sondern schleichend in ihrer
Intensität zunehme. Daher komme es für die Beurteilung der Geschäftsunfähigkeit
des Betroffenen auf wenige Tage nicht an. Ob Herr A. auf Antrag des Betroffenen
die Betreuung zukünftig werde übernehmen können, sei nicht Gegenstand
des jetzigen Verfahrens.

2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Feststellungen des Beschwerdegerichts
verfahrensfehlerhaft getroffen worden sind, weil im Beschwerdeverfahren
von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen abgesehen
worden ist.

aa) Vor der Bestellung eines Betreuers hat das Gericht gemäß § 278
Abs. 1 FamFG den Betroffenen persönlich anzuhören und sich einen persönlichen
Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des
Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren.
Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht
auch im Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung
des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung
des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne
Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von
einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu
erwarten sind.

bb) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht von einer Anhörung des
Betroffenen absehen, weil die vom Amtsgericht durchgeführte Anhörung verfahrensfehlerhaft
war.

(1) Wird der Betroffene vor dem Amtsgericht angehört, ohne dass ihm zuvor
das Sachverständigengutachten in ausreichender Weise bekanntgegeben
wurde, leidet diese Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Denn
die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage
erfordert nach § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit
zur Stellungnahme eingeräumt hat. Dies erfordert nach ständiger Rechtsprechung
des Senats, der der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 278 Abs. 2
Satz 1 FamFG durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts
vom 4. Mai 2021 (BGBl I S. 882) Rechnung getragen hat, dass der
Betroffene vor der Entscheidung im Besitz des vollständigen Gutachtens ist und
ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich zu äußern.
Holt das Gericht nach Eingang eines schriftlichen Sachverständigengutachtens
eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen ein, die inhaltlich
über das bereits vorliegende Gutachten hinausgeht, ist es verfahrensfehlerhaft,
wenn dem Betroffenen vor der persönlichen Anhörung allein das erste Sachverständigengutachten
übermittelt wird. Denn dadurch wird dem Betroffenen hinsichtlich
der ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen jede Möglichkeit
genommen, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch
die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen
eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. Senatsbeschluss vom 22. September
2021 - XII ZB 146/21 - FamRZ 2022, 56 Rn. 8 f. mwN).

(2) So liegen die Dinge hier. Das Amtsgericht hat zwar vor der persönlichen
Anhörung des Betroffenen dessen Verfahrensbevollmächtigten das Sachverständigengutachten
vom 24. Mai 2023 übersandt. Dass auch die ergänzende
Stellungnahme des Sachverständigen vom 17. Juli 2023 zu der Frage, ab wann
von der Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen auszugehen ist, dem Betroffenen
oder dessen Verfahrensbevollmächtigten übermittelt worden wäre, ist hingegen
weder festgestellt noch sonst ersichtlich.

b) Wie die Rechtsbeschwerde ebenfalls zutreffend rügt, beruht die Feststellung
des Landgerichts, der Betroffene sei bei Erteilung der Vorsorgevollmacht
vom 27. November 2022 geschäftsunfähig gewesen, auf einer unzureichenden,
§ 26 FamFG nicht genügenden Sachaufklärung.

aa) Nach § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden,
soweit die Betreuerbestellung erforderlich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit
die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen
wie durch einen Betreuer besorgt werden können (§ 1814 Abs. 3 Satz 2
Nr. 1 BGB). Eine Vorsorgevollmacht steht daher der Bestellung eines Betreuers
grundsätzlich entgegen. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Erteilung der
Vollmacht unwirksam war, weil der Betroffene zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig
i.S.v. § 104 Nr. 2 BGB war, steht die erteilte Vollmacht einer Betreuerbestellung
nur dann nicht entgegen, wenn die Unwirksamkeit der Vorsorgevollmacht
positiv festgestellt werden kann (Senatsbeschluss vom 22. Juni 2022
- XII ZB 544/21 - FamRZ 2022, 1556 Rn. 17 mwN).

Die Frage, ob der Betroffene im Zeitpunkt der Vollmachterteilung nach
§ 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähig war, hat das Gericht nach § 26 FamFG von
Amts wegen aufzuklären. Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen hat es von
Amts wegen nachzugehen. Dabei entscheidet der Tatrichter über Art und Umfang
seiner Ermittlungen grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen. Dem
Rechtsbeschwerdegericht obliegt lediglich die Kontrolle auf Rechtsfehler, insbe-
sondere die Prüfung, ob die Tatsachengerichte alle maßgeblichen Gesichtspunkte
in Betracht gezogen haben und die Würdigung auf einer ausreichenden
Sachaufklärung beruht (Senatsbeschluss vom 22. Juni 2022 - XII ZB 544/21
- FamRZ 2022, 1556 Rn. 18 f. mwN).

bb) Nach diesen Maßstäben hat das Beschwerdegericht die Frage der Geschäftsfähigkeit
des Betroffenen jedenfalls zum Zeitpunkt der Vollmachterteilung
im November 2022 nicht hinreichend ausermittelt.

Das Beschwerdegericht hat sich zur Begründung seiner Annahme, der Betroffene
sei bei der Erteilung der Vollmachten vom 27. November 2022 und
11. Mai 2023 geschäftsunfähig gewesen, allein auf die ergänzende Stellungnahme
des Sachverständigen vom 17. Juli 2023 gestützt. Darin hat dieser auf
die Frage des Amtsgerichts, ab wann der Betroffene geschäftsunfähig gewesen
sei, ausgeführt, dass er dies aufgrund der ihm vorliegenden aktuellen Informationen
nicht beantworten könne. Aufgrund der Art der Erkrankung und der aktuel-
Betroffenen seit Ende des Jahres 2022, Anfang des Jahres 2023 keine Geesen
sei.

Mit dieser Aussage des Sachverständigen lässt sich nicht die sichere positive
Feststellung treffen, dass die am 27. November 2022 vom Betroffenen erteilte
Vollmacht unwirksam ist. Bei Wirksamkeit dieser Vollmacht wäre die Bestellung
eines Betreuers jedenfalls für die Aufgabenbereiche der Gesundheitssorge
und der damit zusammenhängenden Postangelegenheiten nicht erforderlich
(§ 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB).

3. Die angefochtene Entscheidung kann somit keinen Bestand haben. Der
Senat kann insoweit nicht abschließend in der Sache entscheiden, da diese nicht
zur Endentscheidung reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Die Sache ist daher
gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG zur Nachholung der notwendigen Feststellungen
an das Landgericht zurückzuverweisen.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Für den Fall, dass das Landgericht nach Durchführung der erforderlichen
Ermittlungen weiterhin die Einrichtung einer Betreuung für erforderlich i.S.v.
§§ 1814 Abs. 3 Satz 1, 1815 Abs. 1 Satz 3 BGB hält, wird es im Wege der dann
zu treffenden Einheitsentscheidung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. April 2022
- XII ZB 451/21 - FamRZ 2022, 1130 Rn. 14 mwN und vom 20. Juni 2018 - XII ZB
39/18 - FamRZ 2018, 1533 Rn. 8 mwN) selbst über die Betreuerauswahl zu befinden
haben. Dabei wird es zu prüfen haben, ob der Betroffene einen nach
§ 1816 Abs. 2 Satz 1 BGB beachtlichen Betreuerwunsch geäußert hat, nachdem
in der Generalvollmacht vom 11. Mai 2023 eine Betreuungsverfügung zugunsten
Herrn A. enthalten ist und der Betroffene - worauf die Rechtsbeschwerde zu
Recht hinweist - im Verfahren mehrfach den Wunsch geäußert hat, dass sich
Herr A. um seine Angelegenheiten kümmern soll. Ein solcher Betreuerwunsch
erfordert weder Geschäftsfähigkeit noch natürliche Einsichtsfähigkeit. Vielmehr
genügt, dass der Betroffene seinen Willen oder Wunsch kundtut, eine bestimmte
Person solle sein Betreuer werden (Senatsbeschluss vom 4. Mai 2022 - XII ZB
118/21 - FamRZ 2022, 1559 Rn. 8).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7
FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen
grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

09.10.2024

Aktenzeichen:

XII ZB 289/24

Rechtsgebiete:

Vormundschaft, Pflegschaft (familien- und vormundschaftsgerichtliche Genehmigung)
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Normen in Titel:

BGB §§ 104 Abs. 2, 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1; FamFG § 26