Pflicht zur Duldung herüberragender Äste
letzte Aktualisierung: 8.11.2019
BGH, Urt. v. 14.6.2019 – V ZR 102/18
BGB §§ 906, 910 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 2, 1004 Abs. 1 u. 2
Pflicht zur Duldung herüberragender Äste
Ob der Eigentümer eines Grundstücks vom Nachbargrundstück herüberragende Zweige
ausnahmsweise dulden muss, bestimmt sich – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen
eines Rückschnitts – allein nach § 910 Abs. 2 BGB. Der Maßstab des
dann nicht, wenn die von den herüberragenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung in einem
Laub-, Nadel- und Zapfenabfall besteht.
Entscheidungsgründe:
I.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts, dessen Urteil u.a. in ZMR 2018,
818 veröffentlicht ist, steht der Klägerin ein Anspruch auf Beseitigung der überhängenden
Äste der Douglasie aus
Vorschrift des
Ästen ausgehende Beeinträchtigung. Die Klägerin berufe sich hingegen auf den
durch den Überwuchs verursachten erhöhten Nadel- und Zapfenbefall ihres
Grundstücks. Bei solchen mittelbaren Folgen des Überwuchses gelte der Maßstab
des
regele. Danach müsse, damit die Klägerin den Rückschnitt herüberragender
Äste verlangen könne, der Laubabfall wesentlich und nicht ortsüblich
sein. Jedenfalls am letzterem fehle es.
II.
Das hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der von dem
Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich der Anspruch der Klägerin
auf Rückschnitt aus § 1004 Abs. 1 BGB nicht verneinen. Die Annahme, die
Vorschrift des
Äste Maßstab für die Duldungspflicht (§ 1004 Abs. 2 BGB), wenn die Störung
allein in einem Laub-, Nadel- oder Zapfenabfall bestehe, ist rechtsfehlerhaft.
1. Nach § 910 Abs.1 Satz 2 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks
herüberragende Zweige abscheiden, wenn er dem Besitzer des Nachbargrundstücks
eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die
Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt. Er kann auch nach § 1004 Abs. 1
BGB von dem Nachbarn die Beseitigung der Zweige verlangen. Das Selbsthilferecht
des Eigentümers aus § 910 Abs. 1 Satz 2 BGB schließt einen solchen
Beseitigungsanspruch nicht aus; beide bestehen gleichrangig nebeneinander
(Senat, Urteil vom 23. Februar 1973 - V ZR 109/71,
vom 7. März 1986 - V ZR 92/85,
2003 - V ZR 99/03,
2. Das Selbsthilferecht ist, wie auch der Beseitigungsanspruch, nach
dem Wortlaut des § 910 Abs. 2 BGB nur ausgeschlossen, wenn die Zweige die
Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen (zur Anwendbarkeit von
§ 910 Abs. 2 BGB auf den Beseitigungsanspruch vgl. Senat, Urteil vom 14. November
2003 - V ZR 102/03,
- V ZR 99/03,
Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04,
22. Februar 2019 - V ZR 136/18,
a) Die Vorschrift erfasst entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
nicht nur die unmittelbar durch den Überhang hervorgerufene Beeinträchtigung
der Grundstücksnutzung, wie sie in der Berührung des Wohnhauses (vgl. Senat,
Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04,
Gefahr des Abbruchs (vgl. dazu OLG Koblenz,
BGB [2016], § 910 Rn. 20) liegen kann. Zwar wird das teilweise vertreten (so
OLG Köln,
unterscheidet nicht nach der Art der Beeinträchtigung. Weder aus dem Wortlaut
noch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Nachbarn vor der Beeinträchtigung
der Grundstücksnutzung durch Überhang zu schützen, lässt sich
entnehmen, dass das Selbsthilferecht und der Beseitigungsanspruch sich nur
auf den unmittelbar beeinträchtigenden Überwuchs beziehen und bei einer mittelbaren
Beeinträchtigung ausgeschlossen sein sollen (vgl. Mugdan, Die gesammten
Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. III S. 593). Maßgebend
ist allein die objektive Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung (vgl. Senat,
Urteil vom
14. November 2003 - V ZR 102/03,
7. Aufl., § 910 Rn. 8; Staudinger/Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 18; zur Darlegungs-
und Beweislast vgl. Senat, Urteil vom 14. November 2003 - V ZR
102/03, aaO S. 39; Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04, aaO S. 319).
Damit ist auch die mittelbare Beeinträchtigung durch das Abfallen von Laub,
Nadeln und ähnlichem erfasst (vgl. Senat, Urteil vom 26. November 2004 -
V ZR 83/04, aaO für einen auf überhängende Äste gestützten Unterlassungsanspruch;
Staudinger/Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 20 mwN).
b) Entgegen einer teilweisen vertretenen Ansicht (LG Saarbrücken, NJWRR
1986, 1341; AG Frankfurt a.M.,
Berufungsgericht folgt, ist der Beseitigungsanspruch in einem solchen Fall der
mittelbaren Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen, wenn die über das Nachbargrundstück
hinausgewachsenen Äste auf dessen ortsüblichen Nutzung beruhen
(so zutreffend OLG Koblenz,
vom 23. August 2007 - 8 U 385/06, juris Rn. 20; AG Würzburg, NJW-RR 2001,
953; Lüke in Grziwotz/Lüke/Saller, Praxishandbuch Nachbarrecht, 2. Teil Rn.
380; Staudinger/Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 18). Ob der Eigentümer eines
Grundstücks vom Nachbargrundstück herüberragende Zweige ausnahmsweise
dulden muss, bestimmt sich - vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen
eines Rückschnitts (vgl. dazu unten III.1.b) aa) - allein nach § 910 Abs.
2 BGB. Der Maßstab des
den herüberragenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung in einem Lauboder
- wie hier - Nadel- und Zapfenabfall besteht. Die Vorschrift des
stellt für die Beseitigung des Überhangs eine spezialgesetzliche und abschließende
Regelung dar. Sie kennt das Kriterium der Ortsüblichkeit nicht. Dieses ist
für die Frage, ob der Überhang geduldet werden muss, unerheblich.
c) Das führt, anders als das Berufungsgericht meint, nicht zu einem Wertungswiderspruch.
Dass für Laub und Nadeln, die von herüberragenden Zweigen
abfallen, mit § 910 Abs. 2 BGB ein strengerer Maßstab gilt als für Laubund
Nadelabfall, der von einem auf dem Nachbargrundstück stehenden Baum
ausgeht, findet seine Rechtfertigung darin, dass der Nachbar die Äste über die
Grenzen seines Grundstücks herauswachsen lässt. Damit entspricht die Nutzung
des Grundstücks nicht ordnungsgemäßer Bewirtschaftung (vgl. Senat,
Urteil
vom 28. November 2003 - V ZR 99/03,
12. Dezember 2003 - V ZR 98/03,
3. Der Senat kann die am Maßstab des § 910 Abs. 2 BGB vorzunehmende
Prüfung, ob der von den herüberragenden Zweigen der Douglasie ausgehende
Nadel- und Zapfenabfall die Klägerin in der Grundstücksnutzung objektiv
beeinträchtigt, selbst vornehmen, weil weitere Feststellungen nicht zu erwarten
und auch nicht notwendig sind. Von den herüberragenden Ästen der
Douglasie fallen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Nadeln und
Zapfen in einem Umfang von ca. 480 l pro Jahr auf die Garageneinfahrt der
Klägerin und verunreinigen diese. Das stellt eine objektive Beeinträchtigung der
Grundstücksnutzung dar (vgl. dazu BeckOGK/Vollkommer, BGB [1.6.2019], §
910 Rn. 20.3; Lüke in Grziwotz/Lüke/Saller, Praxishandbuch Nachbarrecht,
2. Aufl., 2. Teil Rn. 379; Staudinger/Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 20). Sie kann
nicht als gänzlich unerheblich angesehen werden, so dass es keiner Entscheidung
bedarf, ob - was der Senat bislang offen gelassen hat - in einem solchen
Fall eine Duldungspflicht bestünde (vgl. Senat, Urteil vom 14. November 2003 -
V ZR 102/03,
136/18,
III.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen
Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).
1. a) Es fehlt nach den bisherigen Feststellungen nicht an der Störereigenschaft
des Beklagten. Dieser ist Störer i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB, weil er es
zugelassen hat, dass Zweige der Douglasie über die Grundstücksgrenze hinübergewachsen
sind und zu den benannten Beeinträchtigungen führen. Der
Eigentümer muss nämlich dafür Sorge tragen, dass die Zweige eines Baumes
oder eines Strauches nicht über die Grenzen seines Grundstücks hinauswachsen
(vgl. Senat, Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04,
zu Baumwurzeln vgl. Urteil vom 28. November 2003 - V ZR 99/03, NJW 2004,
603, 604; Urteil vom 12. Dezember 2003 - V ZR 98/03,
b) Die Störereigenschaft des Beklagten entfällt nicht deshalb, weil er, wie
er geltend macht, durch die Vorschriften der Baumschutzverordnung der Stadt
K. rechtlich gehindert sein könnte, den von der Klägerin erstrebten Rückschnitt
der Äste der Douglasie vorzunehmen.
aa) Zwar kann das öffentliche Naturschutzrecht, auch Landes- und Gemeinderecht,
dazu führen, dass die Ausübung des Selbsthilferechts aus § 910
Abs. 1 Satz 2 BGB gehindert bzw. der Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1
BGB nicht durchgesetzt werden kann. Die Verbote wirksamer Baumschutzsatzungen
sind auch von dem Nachbarn hinzunehmen (OLG Hamm, NJW 2008,
453; OLG Düsseldorf,
§ 910 Rn. 3; Staudinger/Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 22; Otto, NJW 1989,
1783; aA OLG Karlsruhe,
Senats stellen aber naturschutzrechtliche Verbote die Störereigenschaft eines
Grundstückseigentümers jedenfalls solange nicht in Frage, wie er mit Erfolg
eine Ausnahmegenehmigung für die Beseitigung der Störungsquelle beantragen
kann (vgl. Senat, Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04, NZM 2005,
318 f. zur Baumschutzsatzung; vgl. auch Urteil vom 20. November 1992 - V ZR
82/91
Ob das der Fall ist, müssen die Zivilgerichte, ebenso wie das Bestehen
des Verbots, selbständig prüfen. Ergibt die Prüfung, dass die verlangte Maßnahme
nach der Baumschutzsatzung grundsätzlich verboten und eine Befreiungsmöglichkeit
von dem Verbot nicht besteht, scheidet eine Verurteilung zur
Beseitigung aus (Senat, Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04, aaO; Urteil
vom 20. November 1992 - V ZR 82/91, aaO S. 247). In diesem Fall ist auch
das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 Satz 2 BGB ausgeschlossen (vgl. Staudinger/
Roth, BGB [2016], § 910 Rn. 21). Wird die Befreiungsmöglichkeit dagegen bejaht,
muss in den Tenor einer eventuellen Verurteilung der Vorbehalt einer Ausnahmegenehmigung
aufgenommen werden, auch wenn das nicht in dem Klageantrag
enthalten ist (Senat, Urteil vom 20. November 1992 - V ZR 82/91,
aaO; Urteil vom 26. November 2004 - V ZR 83/04, aaO; Vollstreckung des Urteils
auf bedingte Leistung gemäß
1977
- V ZR 131/75,
Rn. 2). Der Nachbar, der an der Durchsetzung eines ihm zustehenden privatrechtlichen
Anspruchs auf Rückschnitt der Äste eines Baums (§ 910 Abs. 1
BGB) durch dieses Recht überlagernde öffentlich-rechtliche Bestimmungen einer
Baumschutzsatzung gehindert wird, ist ebenso wie der Eigentümer des
Baums befugt, selbst eine Ausnahme von dem baumschutzrechtlichen Verbot
zu beantragen und im Streit darüber den Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten
(Senat, Urteil vom 20. November 1992 - V ZR 82/91,
31 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG aF; Beschluss vom 10. April 2014 - V ZB 168/13,
juris Rn. 8).
bb) Feststellungen dazu, ob die Baumschutzsatzung der Stadt K.
dem Rückschnitt der Äste der Douglasie entgegensteht, hat das Berufungsgericht
- aus seiner Sicht folgerichtig - nicht getroffen. Mit der Baumschutzsatzung
hat sich das Berufungsgericht, gestützt auf die Aussage des vom Amtsgericht
als Zeugen vernommen Mitarbeiters der Stadt, nur in Bezug auf einen anderen,
hier nicht streitgegenständlichen Baum befasst.
2. Soweit der Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben hat, führt
dies auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ebenfalls nicht zur Abwei-
sung der Klage. Der Anspruch des Grundstückseigentümers auf Zurückschneiden
herüberragender Äste aus § 1004 Abs. 1 BGB unterliegt im Gegensatz zu
dem Selbsthilferecht allerdings der regelmäßigen Verjährungsfrist nach §§ 195,
199 BGB (Senat, Urteil vom 8. Juni 1979 - V ZR 46/78,
vom 22. Februar 2019 - V ZR 136/18,
Äste über eine Grundstücksgrenze hinaus, handelt es sich weder um eine einheitliche
Dauerhandlung, die den rechtswidrigen Zustand fortlaufend aufrechterhält
und die die Verjährungsfrist deshalb gar nicht in Gang setzt, noch um
eine wiederholte Störung, die jeweils neue Ansprüche begründet (vgl. Senat,
Urteil vom 22. Februar 2019 - V ZR 136/18, aaO Rn. 15). Der Anspruch auf Beseitigung
der Störung entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Eigentumsbeeinträchtigung
(§ 910 Abs. 2 BGB) infolge des Wachstums der Äste einsetzt (vgl.
Senat, Urteil vom 8. Juni 1979 - V ZR 46/78,
Dezember 2003 - V ZR 98/03,
2019 - V ZR 136/18 aaO Rn. 15). Ob ein Anspruch der Klägerin aus § 1004
Abs. 1 BGB in Anwendung dieser Grundsätze verjährt ist, lässt sich mangels
entsprechender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilen.
IV.
Das Berufungsurteil kann deshalb keinen Bestand haben und ist gemäß
an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da der Senat in der
Sache nicht selbst entscheiden kann; vielmehr bedarf es weiterer Feststellungen
durch das Berufungsgericht (
Entscheidung, Urteil
Gericht:BGH
Erscheinungsdatum:14.06.2019
Aktenzeichen:V ZR 102/18
Rechtsgebiete:
Sachenrecht allgemein
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
Zwangsvollstreckung (insbes. vollstreckbare Urkunde und Vollstreckungsklausel)
ZNotP 2020, 80-82
NJW-RR 2019, 1356-1358
BGB §§ 906, 910 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 2, 1004 Abs. 1 u. 2