BGH 15. März 2023
XII ZB 232/21
BGB § 1827 Abs. 1; BayMRVG Art. 6

Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten; Bedeutung einer Patientenverfügung

letzte Aktualisierung: 5.6.2023
BGH, Beschl. v. 15.3.2023 – XII ZB 232/21

BGB § 1827 Abs. 1; BayMRVG Art. 6
Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten; Bedeutung einer
Patientenverfügung

a) Eine Patientenverfügung eines gemäß §§ 20, 63 StGB im Maßregelvollzug Untergebrachten steht
einer zwangsweisen Behandlung gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 des Bayerischen
Maßregelvollzugsgesetzes (BayMRVG) nur dann gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG
entgegen, wenn sie Regelungen zur Zwangsbehandlung beinhaltet und erkennen lässt, dass sie in der
konkreten Behandlungssituation der geschlossenen Unterbringung Geltung beanspruchen soll (im
Anschluss an Senatsbeschlüsse BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 und vom 14. November 2018 –
XII ZB 107/18, FamRZ 2019, 236). Daher ist zu prüfen, ob die in der Patientenverfügung in Bezug
genommene Situation auch die etwaigen Konsequenzen einer ausbleibenden Behandlung, wie den
Eintritt schwerster, gar irreversibler Schäden oder einer Chronifizierung des Krankheitsbildes mit
den entsprechenden Folgen für die Fortdauer der freiheitsentziehenden Maßnahme, erfasst (im
Anschluss an BVerfG vom 8. Juni 2021 – 2 BvR 1866/17, BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021,
1564).
b) Gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG ist eine Zwangsbehandlung zulässig, um eine konkrete
Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung abzuwenden.
Der Umstand, dass von der Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB
untergebrachte Personen betroffen sind, führt zu keiner einschränkenden Auslegung des
Gefahrenbegriffs.
c) Ob besondere Sicherungsmaßnahmen nach Art. 25 BayMRVG das gegenüber einer Zwangsbehandlung
mildere Mittel im Sinne des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 BayMRVG darstellen, ist aus der
Sicht der betroffenen Person zu beantworten.

Gründe:

I.
Der Betroffene, der an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie leidet,
befindet sich aufgrund eines rechtskräftigen Strafurteils seit dem Jahr 2017
in einer von dem Beteiligten zu 3 betriebenen forensisch-psychiatrischen Klinik
im Maßregelvollzug nach § 63 StGB. Er lehnte von Anfang an im Vollzug der
Maßregel jegliche neuroleptische Medikation ab.

Am 4. Januar 2015 hatte der Betroffene seiner Mutter, der Beteiligten zu 2,
sowie seinem Bruder, dem Beteiligten zu 1, eine Vorsorgevollmacht erteilt, die er
Schriftstück vom 11. Januar 2015 ergänzt hatte. Darin findet sich unter anderem
folgende Regelung verbiete jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) mir
Neuroleptika in irgendeiner Form gegen meinen Willen zu verabreichen oder
mich dazu zu drängen .

Das Amtsgericht hat auf Antrag des Leiters der Forensisch-Psychiatrischen
Klinik des Bezirkskrankenhauses in S. die zwangsweise neuroleptische
Behandlung des Betroffenen mit Xeplion-Depot (Wirkstoff Paliperidol) intramuskulär
in näher bezeichneter Dosierung für die Dauer von sechs Wochen genehmigt
und hierbei weitere Anordnungen zur Entnahme von Blutproben, zur Durchführung
von EKGs und zum Abbruch der Behandlung bei Gegenindikationen getroffen.
Darüber hinaus hat es die Fixierung des Betroffenen zur Durchführung
der Zwangsmedikation sowie der Blutentnahmen und der EKGs genehmigt. Auf
die hiergegen eingelegte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht den
Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und den Antrag auf Genehmigung der
Zwangsmedikation abgelehnt. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde
des Beteiligten zu 3, mit der er die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen
Entscheidung erstrebt.

II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Soweit nach den Maßregelvollzugsgesetzen der Länder eine Maßnahme
- wie hier gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 des Bayerischen Maßregelvollzugsgesetzes
(BayMRVG) - der vorherigen gerichtlichen Genehmigung bedarf, richtet sich
das gerichtliche Verfahren gemäß §§ 138 Abs. 4, 121 b Abs. 1 Satz 1 StVollzG
nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten
der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die für Unterbringungssachen nach § 312
Nr. 4 FamFG anzuwendenden Bestimmungen gelten entsprechend, sodass die
Rechtsbeschwerde gemäß § 121 b Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm § 70 Abs. 1
FamFG infolge der Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft ist.
Das Recht der Beschwerde steht dem Beteiligten zu 3 als zuständiger Behörde
gemäß § 121 b Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm §§ 59 Abs. 3, 335 Abs. 4
FamFG zu. Die sich nach Landesrecht bestimmende Zuständigkeit der Behörde
(Haußleiter/Heidebach FamFG 2. Aufl. § 315 Rn. 4) ergibt sich aus Art. 45 Abs. 1
Satz 1 BayMRVG, wonach für den Maßregelvollzug nach diesem Gesetz der Bezirk
und damit der Beteiligte zu 3 zuständig sind.

III.
Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung
der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an
das Beschwerdegericht.

1. Dieses hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Der Antrag der Vollzugsbehörde sei abzulehnen, weil die Voraussetzungen
des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG bei der gebotenen strengen Auslegung der
Vorschrift nicht vorlägen und eine Genehmigung der Zwangsmedikation nach
Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG zum Erreichen der Entlassungsfähigkeit oder
wegen Selbstgefährdung nicht in Betracht komme. Der Betroffene zeige zwar ein
selbstgefährdendes Verhalten, weil er trotz Voranschreitens seiner psychiatrischen
Erkrankung jegliche Medikation ablehne und damit eine irreversible Chro-
nifizierung zu erwarten sei. Der Anordnung einer Zwangsmedikation zum Erreichen
der Entlassungsfähigkeit oder wegen Selbstgefährdung gemäß Art. 6
Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG stehe jedoch nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b
BayMRVG der in der Patientenverfügung vom 11. Januar 2015 ausdrücklich erklärte
Wille entgegen, nicht mit Neuroleptika behandelt zu werden. Es bestünden
auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass diese Patientenverfügung
unwirksam wäre.

Für die Anordnung einer Zwangsmedikation nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 3
BayMRVG fehle es an einer konkreten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit
einer anderen Person in der Einrichtung, für deren Abwendung die Zwangsmedikation
erforderlich wäre. Dieser Gefahrenbegriff sei dahingehend eng auszulegen,
dass eine Sachlage gegeben sein müsse, bei der objektiv betrachtet angesichts
der konkreten Umstände des Einzelfalls ohne die Zwangsmedikation mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gravierende Gesundheitsschädigung anderer
untergebrachter Personen oder von Mitgliedern des Einrichtungspersonals
zu erwarten sei. Eine enge Auslegung der Vorschrift sei unerlässlich, weil es sich
bei der Zwangsbehandlung um einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff
handele. Zudem sei die Norm bei uneingeschränkter wortlautgetreuer
Auslegung nahezu uferlos, da auch zu erwartende Bagatellverletzungen Dritter
erfasst wären und zudem im Maßregelvollzug nach § 63 StGB immer nur für die
Allgemeinheit gefährliche Personen untergebracht seien. Vorliegend fehle es jedoch
an konkreten Umständen, die eine gravierende Gesundheitsschädigung anderer
Personen in der Einrichtung erwarten ließen. Die Zwangsmedikation sei
auch nicht erforderlich, da mit den besonderen Sicherungsmaßnahmen nach
Art. 25 BayMRVG mildere Mittel zur Verfügung stünden, mit denen eine erhebliche
Gefährdung Dritter ausgeschlossen werden könne. Dass dies zu einer möglicherweise
jahrzehntelangen Unterbringung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen
und in weitgehender Isolation führen könne, sei hinzunehmen.

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Soweit das Beschwerdegericht die Genehmigung einer Zwangsmedikation
zum Erreichen der Entlassungsfähigkeit oder wegen Selbstgefährdung gemäß
Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG abgelehnt hat, hat es keine hinreichenden
Feststellungen dazu getroffen, dass der nach § 1827 BGB zu beachtende
Wille der untergebrachten Person den Maßnahmen entgegensteht (Art. 6 Abs. 4
Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG).

aa) Gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG dürfen Behandlungsmaßnahmen,
die dem natürlichen Willen der untergebrachten Person widersprechen,
zur Erreichung der Entlassungsfähigkeit oder Verhinderung einer Eigengefährdung
nur angeordnet werden, wenn der nach § 1827 BGB zu beachtende
Wille der untergebrachten Person den Maßnahmen nicht entgegensteht. Durch
diese Formulierung sollte gegenüber der vorherigen Fassung der Vorschrift, nach
der eine
wirksamen Patientenverfügung der untergebrachten Person gestärkt werden
(LT-Drucks. 17/22590 S. 7 und LT-Drucks. 17/4944 S. 23). Ob eine Patientenverfügung
im Rahmen der Prüfung des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG
Bindungswirkung entfaltet, sollte sich nach dem Willen des Gesetzgebers bereits
für die frühere Fassung der Norm nach den Grundsätzen bestimmen, die in der
zivilgerichtlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellt wurden (vgl. LT-Drucks.
17/4944 S. 33). Für die nunmehr geltende Fassung der Vorschrift gilt nichts anderes,
was sich insbesondere aus dem in Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b
BayMRVG enthaltenen Verweis auf § 1827 BGB und der damit verbundenen Anknüpfung
an die zivilrechtlichen Regelungen zur Patientenverfügung in § 1827
Abs. 1 BGB ergibt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats entfaltet eine Patientenverfügung
(bis zum 31. Dezember 2022: § 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB; jetzt:
§ 1827 Abs. 1 Satz 1 BGB) nur dann unmittelbare Bindungswirkung, wenn
ihr konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung
in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen
entnommen werden können. Neben Erklärungen des Erstellers der Patientenverfügung
zu den ärztlichen Maßnahmen, in die er einwilligt oder die er
untersagt, verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz aber auch, dass die Patientenverfügung
erkennen lässt, ob sie in der konkreten Behandlungssituation Geltung
beanspruchen soll. Eine Patientenverfügung ist nur dann ausreichend bestimmt,
wenn sich feststellen lässt, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen
Maßnahmen durchgeführt werden bzw. unterbleiben sollen. Danach genügt eine
Patientenverfügung, die einerseits konkret die Behandlungssituation beschreibt,
in der die Verfügung gelten soll, und andererseits die ärztlichen Maßnahmen genau
bezeichnet, in die der Ersteller einwilligt oder die er untersagt, dem Bestimmtheitsgrundsatz.
Die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patientenverfügung
dürfen dabei jedoch nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden
kann nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten
Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht (vgl. Senatsbeschlüsse
BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 Rn. 17 f. mwN und vom 14. November 2018
- XII ZB 107/18 - FamRZ 2019, 236 Rn. 19 f. mwN).

Nach diesen Grundsätzen steht eine Patientenverfügung nur dann gemäß
Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG der Genehmigung einer Zwangsmaßnahme
entgegen, wenn sie eine Regelung zu Zwangsbehandlungen enthält
(LT-Drucks. 17/4944 S. 33 f.; vgl. auch OLG Nürnberg FamRZ 2018, 1542, 1543
zur alten Rechtslage) und auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung
beanspruchen soll. Dies erfordert auch die Prüfung, ob die vom Betroffenen in
der Patientenverfügung in Bezug genommene Behandlungssituation die aktuellen
Umstände und die damit verbundenen Konsequenzen einer ausbleibenden
Behandlung, wie den Eintritt schwerster, gar irreversibler Schäden oder einer
Chronifizierung des Krankheitsbildes mit den entsprechenden Folgen für die Fortdauer
einer freiheitsentziehenden Maßnahme, erfasst (vgl. BVerfGE 158, 131
= FamRZ 2021, 1564 Rn. 75).

Ob insoweit eine hinreichend konkrete Patientenverfügung vorliegt, ist
durch Auslegung der in der Verfügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln. Die
Auslegung von Patientenverfügungen ist grundsätzlich Sache des Tatrichters.
Dessen Auslegung ist für das Rechtsbeschwerdegericht bindend, wenn sie
rechtsfehlerfrei vorgenommen worden ist und zu einem vertretbaren Auslegungsergebnis
führt, auch wenn ein anderes Auslegungsergebnis möglich erscheint
(vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 2018 - XII ZB 107/18 - FamRZ 2019,
236 Rn. 21 und 27 mwN).

bb) Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde, dass die angegriffene Entscheidung
diesen Anforderungen nicht gerecht wird.

Zwar hat das Beschwerdegericht die Patientenverfügung in rechtlich nicht
zu beanstandender Weise als wirksam behandelt, da die Rechtsbeschwerde die
Annahme, es lasse sich nicht feststellen, dass der Betroffene bereits im Januar
2015 an einer die Einwilligungsfähigkeit ausschließenden akuten Psychose gelitten
habe, nicht angreift. Daher ist von der Wirksamkeit der Patientenverfügung
auszugehen (vgl. BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564 Rn. 74).
Es hat sich jedoch nicht die Frage vorgelegt, ob die Patientenverfügung
auch für die nunmehr zu beurteilende Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen
Geltung beansprucht, was unter den konkreten Umständen des vorlie-
genden Falls angezeigt gewesen wäre. Zum einen enthält die Patientenverfügung
keine Umschreibung der Situation, für die sie gelten soll. Der Krankheitszustand
des Betroffenen hat sich jedoch erheblich verschlechtert, da er nach den
Feststellungen des Beschwerdegerichts bei der Abfassung der Patientenverfügung
lediglich an gelegentlichen Verhaltensauffälligkeiten litt. Zum anderen hat
sich seine Lebens- und Behandlungssituation dadurch gravierend verändert,
dass er nunmehr aufgrund der neun Monate nach der Abfassung der Patientenverfügung
begangenen Anlasstat gemäß § 63 StGB geschlossen untergebracht
ist. Es ist derzeit weder dargetan noch ersichtlich, dass der Betroffene in absehbarer
Zeit ohne eine medikamentöse Behandlung aus der Unterbringung entlassen
oder auch nur innerhalb der Unterbringung ohne weitgehende Isolation oder
engmaschige Bewachung geführt werden kann. Anhaltspunkte, dass der Betroffene
bei der Abfassung seiner Patientenverfügung deren Geltung auch in dieser
Situation wollte, stellt das Beschwerdegericht nicht fest und sind auch
nicht anderweitig ersichtlich. Im Gegenteil wurden nach den Feststellungen des
Beschwerdegerichts bei der Errichtung der Patientenverfügung keine aggressiven
Verhaltensweisen beobachtet, sodass es näherer Darlegungen bedurft hätte,
warum der Betroffene auch die Situation einer Unterbringung gemäß §§ 20, 63
StGB bedacht haben soll. Die sich hieraus ergebenden Zweifel, ob der Betroffene
diese Festlegung trotz der gravierenden Folgen einer gegebenenfalls lebenslangen
freiheitsentziehenden Maßnahme in der konkreten Situation tatsächlich gewollt
hätte (vgl. BeckOGK/Diener [Stand: 1. Januar 2023] BGB § 1827 Rn. 61),
sind vom Beschwerdegericht nicht ausgeräumt worden.

b) Auch die Ausführungen des Beschwerdegerichts zu der vom Betroffenen
ausgehenden konkreten Gefahr für das Leben und die Gesundheit einer anderen
Person im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG halten einer rechtlichen
Überprüfung nicht stand.

aa) Gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG ist eine Zwangsbehandlung zulässig,
um eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen
Person in der Einrichtung abzuwenden. Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne
liegt dann vor, wenn im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht,
dass in absehbarer Zeit ein Schaden an Leben oder Gesundheit der genannten
Personen eintreten wird (vgl. allgemein zum Gefahrenbegriff BVerwGE 45, 51
= NJW 1974, 807, 809 und BVerfGE 120, 274 = NJW 2008, 822, 831; vgl. auch
Senatsbeschluss BGHZ 220, 333 = FamRZ 2019, 641 Rn. 13 f.). Andere Personen,
die sich in der Einrichtung befinden, sind hierbei etwa Ärzte, Pflegekräfte,
sonstige in der Einrichtung beschäftigte Personen, andere untergebrachte Personen,
Besucher oder Besucherinnen (LT-Drucks. 17/21573 S. 45).

bb) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist der Begriff der konkreten
Gefahr in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG nicht einschränkend auszulegen.
Der Wortlaut der Vorschrift setzt für eine Zwangsbehandlung unter anderem
voraus. Aus dem systematischen Verhältnis zu Art. 6 Abs. 3 Nr. 2
BayMRVG ergibt sich, dass in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG bewusst keine gesteigerten
Anforderungen an die Gefahr gestellt werden. Denn nach Art. 6 Abs. 3
Nr. 2 BayMRVG setzt nur die Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Eigengefährdung
das Vorliegen einer konkreten schwerwiegenden Gefahr voraus. Damit
trifft das Gesetz eine bewusste Unterscheidung zwischen den einzelnen Gefahrenstufen.
Das tatbestandliche Erfordernis einer schwerwiegenden Gesundheitsgefahr
bzw. einer Gefahr einer gravierenden Gesundheitsschädigung ergibt sich
auch nicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (so aber zum allgemeinen
Strafvollzugsrecht Laubenthal Strafvollzug 8. Aufl. S. 630 in Fn. 129). Der bei
Zwangsbehandlungen ohnehin strikt zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
(vgl. Senatsbeschlüsse BGHZ 224, 224 = FamRZ 2020, 534 Rn. 17 und vom
30. Juni 2021 - XII ZB 191/21 - FamRZ 2021, 1739 Rn. 8 jeweils zu § 1906 a
BGB aF) erlangt im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 bis 6 BayMRVG hinreichend Geltung und führt nicht zu einer Einengung
des Gefahrenbegriffs auf Tatbestandsebene.

Auch aus dem Umstand, dass im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB untergebrachte
Personen für die Allgemeinheit gefährlich sind, folgen entgegen der
Auffassung des Beschwerdegerichts keine gesteigerten Anforderungen an die
Gefahr im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG (in diese Richtung aber
OLG Frankfurt Beschluss vom 12. Mai 2016 - 3 Ws 51/16 - juris Rn. 17 zu § 7 a
Abs. 2 HMRVG). Die beiden Vorschriften unterscheiden sich nämlich hinsichtlich
ihres jeweiligen Schutzguts. Die Unterbringung gemäß § 63 StGB dient dem
Schutz der Allgemeinheit vor der untergebrachten Person. Demgegenüber dienen
die landesrechtlichen Regelungen dem Schutz Dritter im Vollzug im Wege
des ne Maßregelvollzugsrecht
4. Aufl. A 83 zu Besonderen Sicherungsmaßnahmen). Dem entspricht
die Regelung in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG, die spezifisch auf die Gefahr für
eine die Zwangsbehandlung rechtfertigende Fremdgefährdung noch nicht aus
der zur Unterbringung gemäß § 63 StGB führenden Gefährlichkeit des Betroffenen
für die Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 128, 282 = FamRZ 2011, 1128 Rn. 46
und BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564 Rn. 61). Umgekehrt führt aber der
Umstand, dass der Betroffene zum Schutz der Allgemeinheit geschlossen untergebracht
ist, nicht zu einer gesteigerten Duldungspflicht derjenigen Personen, die
vom Betroffenen innerhalb der Unterbringungseinrichtung gefährdet werden (vgl.
auch BVerfGE 116, 69 = FamRZ 2006, 1089, 1094 zum grundrechtlich gebotenen
Schutz der Mitgefangenen vor körperlichen Angriffen).

Schließlich ergibt sich auch aus den Gesetzgebungsmaterialien kein Anhaltspunkt
für eine einschränkende Auslegung. Im Gegenteil wird dort für eine
Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Fremdgefährdung ausdrücklich lediglich
eine konkrete Gefahr verlangt und dies den höheren Anforderungen an
eine Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Selbstgefährdung gegenübergestellt
(LT-Drucks. 17/22590 S. 8 iVm LT-Drucks. 17/21573 S. 45). Dass in
der Gesetzesbegründung in anderem Zusammenhang und auch nur exemplarisch
ei
(LT-Drucks. 17/21573 S. 46), vermag - entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts
- kein anderes Ergebnis zu begründen.

cc) Danach hält auch die Annahme des Beschwerdegerichts, vom Betroffenen
gehe keine eine Zwangsbehandlung rechtfertigende Gefahr für Personen
innerhalb der Einrichtung aus, einer Überprüfung nicht stand. Zwar ist
die Gefahrprognose grundsätzlich vom Tatrichter in eigener Verantwortung zu
treffen. Das Rechtsbeschwerdegericht kann die Prognoseentscheidung nur daraufhin
überprüfen, ob der Tatrichter seiner Entscheidung unzutreffende rechtliche
Maßstäbe zugrunde gelegt, Verfahrensregeln verletzt, insbesondere entscheidungserhebliche
Umstände unberücksichtigt gelassen, oder gegen Denkgesetze
oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 220,
333 = FamRZ 2019, 641 Rn. 22).

Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde jedoch insoweit, dass das Beschwerdegericht
für eine konkrete vom Betroffenen ausgehende Gefahr sprechende
Umstände außer Acht gelassen oder in ihrer Bedeutung verkannt hat.
Nach den Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses sei es wiederholt zu Körperverletzungen
zum Nachteil von Mitarbeitern gekommen. Im Einzelnen werden
eine Oberschenkelprellung infolge eines Tritts, ein Hämatom sowie eine Schürfwunde
nach Schlägen sowie Angriffe mit Fäusten geschildert. Im Jahr 2019 habe
der Betroffene versucht, eine Mitarbeiterin durch die Kontaktklappe der Tür in
sein Zimmer zu ziehen. Mehrfach habe er das Sichtfenster seiner Tür zerstört
und Gegenstände nach Mitarbeitern geworfen. Im Jahr 2019 habe er auf einen
Mitarbeiter eingeschlagen und diesem gezielt mit beiden Daumen in die Augen
gedrückt, worauf diese sich stark gerötet und getränt hätten. Darüber hinaus
habe er zahlreiche Todesdrohungen ausgesprochen. Wäre er im Stationsalltag
unbeaufsichtigt, würden vom Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere
Gewaltstraftaten begangen werden und es sei jederzeit mit einer unkalkulierbaren
Fremdgefährdung zu rechnen.

Diese Umstände sind grundsätzlich geeignet, eine die Zwangsbehandlung
rechtfertigende Gefahr für die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung
zu begründen.

dd) Auch die weitere Annahme des Beschwerdegerichts, dem Werfen von
Gegenständen und dem Ziehen einer Mitarbeiterin am Arm bei der Essensübergabe
könne durch besondere Sicherungsmaßnahmen nach Art. 25 BayMRVG
begegnet werden, hält jedenfalls mit der gegebenen Begründung einer rechtlichen
Nachprüfung nicht stand.

Die gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 BayMRVG zu prüfende Frage, ob
mildere Mittel keinen Erfolg versprechen und alternative Maßnahmen die betroffene
Person weniger belasten, ist aus der Sicht der betroffenen Person zu
beantworten (LT-Drucks. 17/21573 S. 45; BVerfGE 89, 315 = FamRZ 1994, 496,
497; aA zur hessischen Rechtslage OLG Frankfurt Beschluss vom 12. Mai 2016
- 3 Ws 51/16 - juris Rn. 18 f.). Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht geprüft,
ob Isolation und Handfesselung für den konkreten Betroffenen und unter der Annahme,
dass diese Maßnahmen möglicherweise lebenslang anzuwenden wären
(vgl. BVerfG Beschluss vom 7. September 2017 - 2 BvR 1866/17 - juris Rn. 4;
LG Osnabrück NJW 2020, 1687, 1688), mildere Maßnahmen darstellen, sondern
lediglich eine abstrakte Betrachtung vorgenommen.
Bei der Abwägung wäre auch das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse
des gemäß §§ 20, 63 StGB untergebrachten Betroffenen (Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG) zu berücksichtigen, sofern er zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge
krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist (vgl. BVerfGE
128, 282 = FamRZ 2011, 1128 Rn. 47).
3. Die angefochtene Entscheidung ist daher gemäß § 121 b Abs. 1
StVollzG iVm § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 121 b
Abs. 1 StVollzG iVm § 74 Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG an das Beschwerdegericht
zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7
FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen
grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

15.03.2023

Aktenzeichen:

XII ZB 232/21

Rechtsgebiete:

Vormundschaft, Pflegschaft (familien- und vormundschaftsgerichtliche Genehmigung)
Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Normen in Titel:

BGB § 1827 Abs. 1; BayMRVG Art. 6