Von § 45b PStG vorausgesetzte Variante der Geschlechtsentwicklung nur bei Unmöglichkeit der eindeutigen Bestimmung des Geschlechts als weiblich oder männlich
letzte Aktualisierung: 08.10.2020
BGH, Beschl. v. 10.6.2020 – XII ZB 451/19
PStG §§ 9, 45b
Von § 45b PStG vorausgesetzte Variante der Geschlechtsentwicklung nur bei
Unmöglichkeit der eindeutigen Bestimmung des Geschlechts als weiblich oder männlich
a) Die von
wenn die Bestimmung des Geschlechts als weiblich oder männlich anhand angeborener körperlicher
Merkmale nicht eindeutig möglich ist. Auf Personen mit körperlich eindeutig weiblichem oder
eindeutig männlichem Geschlecht ist die Bestimmung daher nicht anzuwenden (im Anschluss an
Senatsbeschluss vom 22. April 2020 – XII ZB 383/19 –
BGHZ bestimmt).
b) Die von
Geschlechtsentwicklung vorgesehene Bescheinigung muss von einem approbierten, also mit
staatlicher Zulassung tätigen Arzt ausgestellt sein, ohne dass dieser einer bestimmten Fachrichtung
angehören oder über bestimmte berufliche Erfahrungen verfügen müsste, und hat im Übrigen keine
besonderen inhaltlichen Anforderungen zu erfüllen.
c) Bei Vorliegen einer diesen Vorgaben genügenden ärztlichen Bescheinigung ist dem
Standesbeamten nicht jede weitere Prüfung versagt; er hat vielmehr eigene Ermittlungen im Sinne
des
anderweitiger Erkenntnisse des Standesbeamten nicht die vom Gesetzgeber typisierend
angenommene, für die erforderliche Sachverhaltsermittlung ausreichende Nachweiswirkung
entfaltet.
Gründe:
A.
Die antragstellende Person begehrt die Änderung ihres Geschlechtseintrags
sowie ihres Vornamens im Geburtenregister.
Für die im Jahre 1963 geborene antragstellende Person sind in das Geburtenregister
die Geschlechtsangabe „männlich“ und der männliche Vorname
„N.“ eingetragen. Im April 2019 hat sie beim zuständigen Standesamt (Beteiligter
zu 1) beantragt, künftig im Geburtenregister unter der Geschlechtsangabe
„weiblich“ und mit dem Vornamen „S.“ geführt zu werden. Mit dem Antrag hat
sie das Attest einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vorgelegt. In
diesem wird der antragstellenden Person bescheinigt, dass „aus psychiatrischer
Sicht (…) eine Variante der Geschlechtsentwicklung“ vorliege. Es bestehe
„ausdrücklicher Wunsch fortan rechtlich unter der Geschlechtsangabe weiblich
und unter entsprechendem Vornamen (S.) geführt zu werden“. Zudem war dem
Antrag die Kopie eines sog. Ergänzungsausweises beigefügt, den die Deutsche
Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. der antragstellenden
Person im März 2013 ausgestellt hatte und in dem der weibliche „Zusatz-
/Vorname“ „S.“ eingetragen sowie Folgendes vermerkt ist: „Bei der benannten
Person liegt eine geschlechtliche Entwicklung von biologisch Mann zu Frau vor.
(…)“
Das Standesamt hat dieses Begehren über die Standesamtsaufsicht (Beteiligte
zu 2) als Zweifelsvorlage dem Amtsgericht mit dem Hinweis vorgelegt,
es sei kein Fall des
Fall einer Geschlechtsänderung gegeben und die begehrte Amtshandlung
werde daher abgelehnt. Das Amtsgericht hat das Standesamt angewiesen,
die Angaben im Geburtenregister nicht zu ändern. Die dagegen eingelegte Beschwerde
der antragstellenden Person hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der antragstellenden
Person, mit der sie weiterhin die begehrten Änderungen im Geburtenregister
erstrebt.
B.
Die nach
statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
I.
Das Beschwerdegericht hat seine in
Entscheidung wie folgt begründet:
Bei der antragstellenden Person liege keine Variante der Geschlechtsentwicklung
im Sinne von
des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte
sowie von Sinn und Zweck ergebe, dass mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“
nach dem objektiven Willen des Gesetzgebers nur intersexuelle
Menschen gemeint seien. Zu diesen gehöre die antragstellende Person
als Transsexueller nicht. Dies sei auch nicht verfassungswidrig, weil der
antragstellenden Person mit dem Transsexuellengesetz Wege offen stünden,
die neu empfundene weibliche Identität personenstandsrechtlich zur Geltung zu
bringen. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung habe unter diesen Umständen
keine Bedeutung. Denn die antragstellende Person behaupte keine Variante
der Geschlechtsentwicklung im Sinne einer Zugehörigkeit zu einem nicht binären
Geschlecht.
II.
Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Gemäß § 45 b Abs. 1 Satz 1 PStG können Personen mit Varianten der
Geschlechtsentwicklung gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe
zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag durch eine
andere in
weiblich, männlich
oder divers ersetzt
oder gestrichen werden soll. Dabei ist nach § 45 b Abs. 3
PStG durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nachzuweisen, dass eine
Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt. Letzteres gilt nicht für Personen,
die über keine ärztliche Bescheinigung einer erfolgten medizinischen Behandlung
verfügen und bei denen das Vorliegen der Variante der Geschlechtsentwicklung
wegen der Behandlung nicht mehr oder nur durch eine unzumutbare
Untersuchung nachgewiesen werden kann, sofern sie dies an Eides statt versichern.
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Beschwerdegericht zu
Recht verneint; ein Verfahren nach dem Transsexuellengesetz ist bislang nicht
durchgeführt worden.
1. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden
hat, ist die von
nur dann gegeben, wenn die Bestimmung des Geschlechts als weiblich
oder männlich anhand angeborener körperlicher Merkmale nicht eindeutig
möglich ist. Auf Personen mit körperlich eindeutig weiblichem oder eindeutig
männlichem Geschlecht ist die Bestimmung daher nicht anzuwenden. Dies entspricht
dem in der Norm zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des
Gesetzgebers, wie er sich aus der den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte,
den Sinn und Zweck der Norm sowie die Gesetzessystematik berücksichtigenden
Auslegung ergibt. Eine verfassungskonforme Auslegung des
dahingehend, dass er personenstandsrechtlich verbindliche Erklärungen zum
Geschlecht bei nur subjektiv abweichendem Geschlechtsempfinden eröffnet, ist
nicht zulässig (vgl. Senatsbeschluss vom 22. April 2020 - XII ZB 383/19 -
eine andere Gesetzesinterpretation gibt auch das von der Rechtsbeschwerde
vorgelegte „Rechtsgutachten zum Verständnis von `Varianten der Geschlechtsentwicklung
´ in § 45b Personenstandsgesetz“ vom 2. Dezember 2019 (Man-
gold/Markwald/Röhner, online abrufbar etwa auf der Homepage der Deutschen
Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. unter
https://www.dgti.org [Abrufdatum: 10. Juni 2020]) keinen Anlass.
Diese geltende Rechtslage ist mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben
noch vereinbar, weil Personen, deren empfundene Geschlechtsidentität nachhaltig
von ihrem eindeutigen - weiblichen oder männlichen - biologischen Geschlecht
abweicht, durch das Transsexuellengesetz die an zumutbare Voraussetzungen
geknüpfte, von der antragstellenden Person bislang nicht wahrgenommene
Möglichkeit eröffnet ist, die dieser empfundenen Geschlechtsidentität
entsprechende Eintragung im Geburtenregister zu erreichen (vgl. Senatsbeschluss
vom 22. April 2020 XII
ZB 383/19 NZFam
2020, 519 Rn. 28 ff. mwN,
zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).
2. Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde gegen die Auffassung
des Beschwerdegerichts, die antragstellende Person gehöre nicht zu dem von
also mit nicht eindeutig anhand angeborener körperlicher Merkmale als
weiblich oder männlich bestimmbarem Geschlecht.
a) Das Standesamt und die Tatsachengerichte waren anders
als die
Rechtsbeschwerde meint nicht
schon wegen des von der antragstellenden
Person vorgelegten ärztlichen Attests gehalten, vom Vorliegen einer Variante
der Geschlechtsentwicklung im Sinne des
aa) Allerdings sieht
Vorliegen einer Variante der Geschlechtsentwicklung durch Vorlage einer ärztlichen
Bescheinigung vor, ohne dass diese besondere Anforderungen erfüllen
muss.
Der Gesetzeswortlaut enthält keine Vorgaben für den Inhalt der Bescheinigung
oder für die Qualifikation des ausstellenden Arztes. Solche lassen sich
auch den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Diese weisen im Gegenteil
ausdrücklich darauf hin, die Bescheinigung müsse keine genaue Diagnose enthalten;
vielmehr genüge das Attest des Arztes, dass die betroffene Person eine
Variante der Geschlechtsentwicklung aufweise (vgl. BT-Drucks. 19/4669 S. 11).
Bei dem Nachweis mit einer ärztlichen Bescheinigung könnten die Betroffenen
auch auf eine ältere, regelmäßig bereits vorhandene Bescheinigung zurückgreifen.
Ausreichend könne auch die Vorlage eines entsprechenden Vermerks über
eine Vorsorgeuntersuchung im Kinder-Untersuchungsheft, einer Chromosomenanalyse
oder eines (auch älteren) Arztbriefes sein, in dem die Variante der
Geschlechtsentwicklung bescheinigt werde (vgl. BT-Drucks. 19/6467 S. 13). Da
es für die Anwendbarkeit des
allein auf den Nachweis von körperlichen Gegebenheiten ankommt (dies bei
seiner Kritik verkennend etwa Jäschke
Erstellung der Bescheinigung keiner psychologischen Untersuchung (vgl. BTDrucks.
19/6467 S. 13).
Mithin ist grundsätzlich ausreichend, dass die Bescheinigung von einem
approbierten, also mit staatlicher Zulassung tätigen Arzt ausgestellt ist (vgl. das
Rundschreiben des BMI vom 10. April 2019,
oder über bestimmte berufliche Erfahrungen verfügen müsste (so aber
Berndt-Benecke
Bescheinigung, mit der das Vorliegen einer Variante der Geschlechtsentwicklung
im Sinne einer nicht eindeutigen Bestimmbarkeit des Geschlechts als
weiblich oder männlich anhand angeborener körperlicher Merkmale bestätigt
wird, liegt in der Verantwortung des Arztes (Bruns
ke
Unrichtigkeit der Bescheinigung gegebenenfalls auch nach § 278 StGB strafrechtlich
einzustehen.
bb) Das hat aber nicht die - von der Rechtsbeschwerde abgeleitete - Folge,
dass dem Standesbeamten bei Vorliegen einer diesen niederschwelligen
Anforderungen genügenden Bescheinigung jede weitere Prüfung versagt ist
(vgl. Rundschreiben BMI vom 10. April 2019,
Bruns
ihm nach
erst vorgenommen werden dürfen, wenn der zugrundeliegende Sachverhalt
ermittelt und abschließend geprüft worden ist, die Sachverhaltsermittlung
(vgl. etwa Senatsbeschluss
die ärztliche Bescheinigung wegen besonderer Umstände oder anderweitiger
Erkenntnisse des Standesbeamten nicht die vom Gesetzgeber typisierend angenommene,
für die erforderliche Sachverhaltsermittlung ausreichende Nachweiswirkung
entfalten, hat der Standesbeamte daher eigene Ermittlungen im
Sinne des
4. Aufl. § 9 Rn. 32).
Im gerichtlichen Verfahren trifft diese Ermittlungspflicht gemäß § 51
Abs. 1 Satz 1 PStG,
durchzuführen, die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen
erforderlich sind (vgl. etwa Senatsbeschluss
2010, 720 Rn. 28 mwN). Das Verfahren muss geeignet sein, eine möglichst
zuverlässige Grundlage für die zu treffende Entscheidung zu erlangen, wobei
seine Ausgestaltung dem Grundrechtsschutz des Betroffenen Rechnung zu
tragen hat. Der Umfang der gebotenen Ermittlungen bestimmt sich nach der
Eigenart des jeweiligen Verfahrensgegenstands. Dabei sind auch vom Gesetz
für das dem Gerichtsverfahren vorausgehende behördliche Verfahren vorgeschriebene
Beweisanforderungen zu beachten (Senatsbeschluss vom 17. Mai
2017 XII
ZB 126/15 FamRZ
2017, 1337 Rn. 16 f.).
cc) Nach diesen Maßgaben haben das Standesamt und die Tatsachengerichte
der von der antragstellenden Person vorgelegten ärztlichen Bescheinigung
zu Recht eine ausreichende Nachweiswirkung für das Vorliegen einer Variante
der Geschlechtsentwicklung im Sinne des
Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Attests, wonach der antragstellenden
Person bestätigt wird, „aus psychiatrischer Sicht“ liege bei ihr eine Variante
der Geschlechtsentwicklung vor. Damit gibt die ausstellende Ärztin zu erkennen,
dass die Diagnose nicht darauf beruht, dass eine eindeutige Geschlechtszuordnung
als weiblich oder männlich aufgrund angeborener körperlicher
Merkmale nicht erfolgen kann, sondern allein auf einer psychiatrischen und
damit das Empfinden der antragstellenden Person in den Blick nehmenden Betrachtungsweise.
Hinzu kommt die mit dem Antrag ebenfalls eingereichte Kopie
des sog. Ergänzungsausweises, laut dem bei der antragstellenden Person „eine
geschlechtliche Entwicklung von biologisch Mann zu Frau“ und mithin eine
Mann-zu-Frau-Transsexualität gegeben ist. Schließlich hat die antragstellende
Person ihrem verfahrenseinleitenden Antrag eine allgemeine Abhandlung dazu
beigefügt, warum und wie Transsexuelle die Möglichkeit des
können. Hierfür hätte bei einer körperlichen Intersexualität kein Anlass bestanden.
Damit war die ärztliche Bescheinigung sowohl für sich genommen als
auch aufgrund der weiteren Umstände ungeeignet, den Nachweis für das Vorliegen
einer Variante der Geschlechtsentwicklung im Sinne des
erbringen.
b) Das Beschwerdegericht hat entgegen der von der Rechtsbeschwerde
erhobenen Rüge nicht gegen
indem es bei der antragstellenden Person eine transsexuelle Prägung angenommen
und daher eine Variante der Geschlechtsentwicklung im Sinne von
aa) Die Feststellungen des Beschwerdegerichts sind vom Rechtsbeschwerdegericht
nur daraufhin zu überprüfen, ob die maßgebenden Rechtsbegriffe
verkannt oder für die Einordnung unter diese Begriffe wesentliche Umstände
unberücksichtigt gelassen worden sind. Der rechtlichen Überprüfung
unterliegt insbesondere, ob der Tatrichter sich mit dem Verfahrensstoff und den
Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat,
seine Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen
Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (Senatsbeschluss vom 17. Mai
2017 XII
ZB 126/15 FamRZ
2017, 1337 Rn. 15 mwN).
bb) Die angefochtene Entscheidung trifft nicht auf derartige rechtsbeschwerderechtlich
relevante Bedenken.
Insbesondere hat das Beschwerdegericht zutreffend erkannt, dass die
antragstellende Person schon keine Variante der Geschlechtsentwicklung im
Sinne einer Uneindeutigkeit ihrer körperlichen Zuordnung zum weiblichen oder
männlichen Geschlecht behauptet hat. Vielmehr hat sie sich von Anfang an lediglich
darauf berufen, dass das ärztliche Attest ihr eine Variante der Geschlechtsentwicklung
bescheinige, und diesem Vorbringen erkennbar das
rechtlich
fehlerhafte Verständnis
zugrunde gelegt, die „Varianten der Geschlechtsentwicklung“
im Sinne des
körperlich eindeutigen Geschlechtszuordnung als abweichend empfundene Geschlechtsidentität
erfassen. Dem entspricht die zweitinstanzliche Beschwer-
debegründung, mit der die antragstellende Person geltend gemacht hat, es gehe
„um die Grundsatzfrage, ob
ist, bei denen die Geschlechtschromosomen, das Genitale oder die Gonaden
inkongruent sind oder auf alle Personen, die sich ernsthaft und dauerhaft nicht
dem für sie eingetragenen Geschlecht, sondern einem anderen oder keinem
Geschlecht als zugehörig empfinden, auch wenn sie keine körperlichen Abweichungen
aufweisen“. Auch im weiteren Fortgang des Beschwerdeverfahrens
hat sich die antragstellende Person allein darauf berufen, dass Transsexuelle
von der Regelung des
waren schon mangels Behauptung der antragstellenden Person, körperlich
intersexuell zu sein, keine weiteren Ermittlungen zur Frage des Vorliegens einer
Variante der Geschlechtsentwicklung veranlasst.
Entscheidung, Urteil
Gericht:BGH
Erscheinungsdatum:10.06.2020
Aktenzeichen:XII ZB 451/19
Rechtsgebiete:
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
Sonstiges Öffentliches Recht
PStG §§ 9, 45b