Ergänzende Testamentsauslegung bei Änderung der Rechtslage
letzte Aktualisierung: 31.10.2019
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.9.2019 – 11 W 114/17 (Wx)
BGB §§ 133, 138 Abs. 1, 1937, 2082 Abs. 3, 2195; TestG § 48 Abs. 2;
Ergänzende Testamentsauslegung bei Änderung der Rechtslage
Bei der Auslegung eines durch einen jüdischen Erblasser in der Zeit des Nationalsozialismus
errichteten Testaments kann die nicht vorhergesehene Änderung der Rechtslage durch den Wegfall
diskriminierender gesetzlicher Regelungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine für eine
ergänzende Testamentsauslegung hinreichende Lücke darstellen.
Gründe
I.
Der Erblasser errichtete am 18. Mai 1939 das folgende handschriftliche Testament:
„Mein Testament
Hierdurch widerrufe ich alle früheren letztwilligen Verfügungen und bestimme folgendes:
I.
Zum Alleinerben bestimme ich meinen Neffen, Dr. H. G. in Breslau, ... und im Falle seines Ablebens dessen
Abkömmlinge zu gleichen Teilen untereinander.
II.
E. A. in Breslau ist auf jeden Fall von der Erbschaft ausgeschlossen.
III.
An Vermächtnissen sollen erhalten:
1. meine Schwester, Frau C. G. in Breslau: Zehn Prozent des Reinnachlasses ...
2. Fräulein W. F. B.-B.: Meine Haushälterin soll 8.000.- RM Achttausend Reichsmark erhalten für ihre
aufopfernde Pflege während meiner langen Krankheitsdauer, für welche eine Entschädigung in Lohn nicht
enthalten war.
3. Fräulein C. F., B.-B. ... 2000.- RM Zweitausend Reichsmark - für geleistete Dienste.
4. Fräulein M. S., B.-B. ... 5000.- RM Fünftausend Reichsmark - für geleistete Dienste.
5. Fräulein A. S., B.-B. ... 5000.- RM Fünftausend Reichsmark - für geleistete Dienste.
IV.
...
V.
Zu meinem Testamentsvollstrecker ernenne ich hierdurch Herrn Konsulent H. H. in B.-B. gegen eine
angemessene Vergütung aus dem Nachlass. ...“
Am 15. Juli 1939 verfasste der Erblasser folgenden handschriftlichen Nachtrag zu seinem Testament vom 18.
Mai 1939:
„Da mein Neffe, Dr. H. G., nach New York ausgewandert ist, bestimme ich zu meinem Alleinerben meine
Schwester C. G. ... . Sollte diese nicht mehr am Leben sein, so soll mein Vermögen nach Berücksichtigung
der Vermächtnisse an die J. Gemeinde B.-B. übergehen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Juden. ...“
Frau C. G. verstarb am 11. November 1939. Der Erblasser verstarb am 21. Juli 1940. Das Testament und der
Nachtrag wurden am 31. Juli 1940 eröffnet. Herrn Konsulent Dr. H. H. wurde am 13. August 1940 ein
Testamentsvollstreckerzeugnis erteilt. Der Wert des Nachlasses wurde durch ihn im August 1940 mit 285.000
bis 290.000 RM veranschlagt.
Der Polizeidirektor in Baden-Baden richtete am 5. September 1940 ein Schreiben an das Notariat Baden-
Baden als Nachlassgericht. Darin wies er darauf hin, dass das Badische Landesmuseum Interesse an einer in
der Erbmasse befindlichen größeren Sammlung von Kunstgegenständen bekundet habe, und bat, die
Beschlagnahme näher bezeichneter Kunstgegenstände zu Gunsten des Reichspropagandaamts
auszusprechen sowie die Überführung an das Badische Landesmuseum in Karlsruhe durchführen zu lassen.
Mit Schreiben vom 13. September 1940 teilte der Polizeidirektor in Baden-Baden mit, dass eine
Beschlagnahme durch das Notariat nicht möglich sei und er den Sachverhalt dem Innenministerium in
Karlsruhe vorgelegt habe. Am 3. Oktober 1940 informierte der Polizeidirektor in Baden-Baden darüber, dass es
Sache des Badischen Landesmuseums sei, ein Vorkaufsrecht nach § 14 der Verordnung über den Einsatz
jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 (RGBl. 1938 I S. 1709) durch die öffentliche Ankaufstelle
durchführen zu lassen. Mit Schreiben vom 17. Oktober 1940 wurde der Testamentsvollstrecker darauf
hingewiesen, dass die Kunstgegenstände insbesondere Porzellansammlung aus dem Nachlass unter § 14 der
Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens fielen; gleichzeitig wurde der Testamentsvollstrecker
aufgefordert, sich umgehend mit dem Direktor des Badischen Landesmuseums „wegen der Verwertung der
Sammlung“ in Verbindung zu setzen.
Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden über 6.500 badische, pfälzische und saarländische Juden festgenommen
und in das Internierungslager Gurs am Fuße der südfranzösischen Pyrenäen verschleppt (zur Deportation der
Juden aus Baden: Teschner, Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940,
Frankfurt a.M. 2002, S. 71 ff.; Landeszentrale für politische Bildung, Die Deportation der badischen und
saarpfälzer Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen, Stuttgart 2010, S. 16 ff. m.w.N.). Zu den
Deportierten gehörte auch Herr Dr. H. H. (Verzeichnis der am 22. Oktober aus Baden ausgewiesenen Juden,
Stadtkreis Baden-Baden, abgedruckt in: Landeszentrale für politische Bildung, Die Deportation der badischen
und saarpfälzer Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen, Stuttgart 2010, S. 29). Das
Nachlassgericht vermerkte am 25. Oktober 1940, dass sich Herr Konsulent Dr. H. H. seit 23. Oktober 1940
„nicht mehr im Reichsgebiet befindet“ und ernannte als seinen Nachfolger als Testamentsvollstrecker Herrn
Bankkaufmann V. . Ihm wurde unter dem 26. Oktober 1940 ein Testamentsvollstreckerzeugnis erteilt.
Mit Schriftsatz vom 17. September 1940 erklärte Herr Konsulent Dr. K. M. für Herrn E. A. die Anfechtung nach §
48 des Testamentsgesetzes vom 31. Juli 1938, da Herr E. A. das einzig überlebende Kind der Schwester des
Erblassers M. A. sei, er infolge einer Kriegsverletzung eine Hilfsbedürftigkeit aufweise und unter diesen
Umständen die Zurücksetzung des leiblichen Verwandten „in einer dem gesunden Volksempfinden gröblich
widersprechenden Weise“ zur Nichtigkeit des Testaments führe. Herr Konsulent Dr. K. M. erklärte mit
Schriftsatz vom 27. September 1940 auch für Herrn A. B. und Frau E. B. als Urenkel des Großvaters des
Erblassers die Anfechtung nach § 48 des Testamentsgesetzes. Das Landgericht Karlsruhe lehnte durch
Beschluss vom 19. Dezember 1940 ein Armenrechtsgesuch für eine auf § 48 Absatz 2 des
Testamentsgesetzes gestützte Klage ab, da diese Bestimmung - so wortwörtlich - „nur die deutsche
Volksgemeinschaft“ erfasse.
Der Testamentsvollstrecker V. berichtete am 16. Dezember 1940 an das Nachlassgericht u.a.:
„... Im Testament des Herrn Dr. E. G. war die J. Gemeinde B.-B. zur Unterstützung hilfsbedürftiger Juden als
Erbe bestellt, nachdem die zuerst bedachten Dr. H. G. infolge Auswanderung nach New York und Frau C. G.
Wwe., infolge Ableben ausgeschieden sind. Zur Erteilung der Annahme fraglicher Erbschaft durch die J.
Gemeinde war die Staatsgenehmigung gemäß § 1 Abs. 2 des Stiftungsgesetzes erforderlich. Nachdem das
Land Baden von Juden frei gemacht wurde, hat der Minister des Kultus- und Unterrichts mit Schreiben vom
28. Nov. 1940 diese Staatsgenehmigung versagt. Als gesetzliche Erben kämen nun folgende Personen in
Frage: ...“
Mit Schreiben vom 17. Februar 1941 wandte sich der Testamentsvollstrecker in Bezug auf die Abwicklung des
Nachlasses an das Nachlassgericht. Darin heißt es u.a.:
„... Es wäre nun sehr angenehm, wenn Sie es gemäß der mit Ihnen gehabten telefonischen Unterredung
ermöglichen könnten, dass diese Woche die Besprechung mit Herrn Reg. Direktor S. stattfinden würde. ...
Den Ministerien kommt es lediglich darauf an, in den Besitz der bereits im Landesmuseum Karlsruhe
sichergestellten Sachen (Porzellansammlung, 3 Gobelins und 4 Gemälde) zu kommen. ... Jedenfalls muß
aber ... mit dem Erben eine Einigung wegen eines unentgeltlichen Übergangs fraglicher Gegenstände an den
Staat erzielt werden. Ich glaube mit Sicherheit jetzt schon sagen zu können, dass einem diesbezüglichen
Vorschlag meinerseits Herr Amtsgerichtsrat Dr. G. G. zustimmen wird. Für den jüdischen Teil der Erben werde
dann eben ich als Testamentsvollstrecker die Zustimmung erklären, da dieser doch kaum noch in den Besitz
ihres Erbteils kommen wird und wenn, dann nur auf Sperrkonto. Es dürfte dies der einfachste und legalste
Weg sein die Angelegenheit zu bereinigen und den mißlichen Zuständen ein Ende zu machen.“
Am 19. Februar 1941 vermerkte der zuständige Nachlassrichter beim Notariat Baden-Baden:
„Auf Ersuchen des Herrn Reg. Direktors S. im Bad. Finanz- und Wirtschaftsministerium begab ich mich heute
nach Karlsruhe zu einer Besprechung, an der die Herren Dr. W. und Dr. M. vom Bad. Landesmuseum
teilnahmen.
Die seinerzeitige Versagung der Genehmigung an die Jüdische Kultusgemeinde zur Annahme der Stiftung G.
fußte auf Voraussetzungen, die durch die Maßnahmen in Baden im Oktober 1940 eine völlige Veränderung
erfahren haben. Es kommt entscheidend darauf an, die bisher mit einem Wert von 40.000,- RM versteuerte
Kunstsammlung mit Gobelin und Bildern für das Bad. Landesmuseum zu erhalten. Das Finanz- und
Wirtschaftsministerium würde die bisher ausgesprochene Beschlagnahme des übrigen Nachlasses aufheben,
wenn der Testamentsvollstrecker durch Verhandlung mit den Erben erreicht, daß die fragliche Sammlung
ohne Entschädigung dem Bad. Landesmuseum verbleibt. Diese Lösung würde wahrscheinlich die
Aufrechterhaltung der Stiftungsversagung zur Folge haben und weitere Interventionen von staatlicher Seite
vermeiden.“
Auf Antrag des Testamentsvollstreckers vom 15. März 1941 erteilte das Nachlassgericht einen Teilerbschein zu
Gunsten näher genannter gesetzlicher Erben mütterlicherseits. Die Anhörung von Herrn Dr. H. G. wurde vom
Nachlassgericht laut Aktenvermerk als „untunlich“ bewertet und unterlassen. Der Testamentsvollstrecker teilte
dem Nachlassgericht mit Schreiben vom 27. März 1941 mit, dass die gesetzlichen Erben väterlicherseits
unbekannt seien, und beantragte die Bestellung eines Nachlasspflegers zur Abgabe der für eine Übereignung
an das Badische Landesmuseum erforderlichen Erklärungen. Zum Nachlasspfleger wurde am 28. März 1941
Herr Justizsekretar B. ausgewählt, der das Amt annahm und am 7. Mai 1941 eine Einverständniserklärung
abgab, wonach näher bezeichnete Kunstgegenstände als Stiftung des Erblassers in das Eigentum des
Badischen Staats übergehen. Die nachlassgerichtliche Genehmigung erfolgte am gleichen Tag. Eine
entsprechende Erklärung hatten für die bereits ermittelten Erben zuvor schon Herr Dr. G. G. und der
Testamentsvollstrecker abgegeben. In seinem Bericht vom 7. Mai 1941 erläuterte der Testamentsvollstrecker,
dass inzwischen eine Porzellansammlung im Wert von 40.000 RM, vier Gobelins im Wert von 14.000 RM, vier
Ölgemälde im Wert von 2.010 RM und diverse Miniaturen im Wert von 1.118 RM als Stiftung an den Badischen
Staat übergegangen seien. Auf Nachfrage der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe erklärte das Nachlassgericht
mit Schreiben vom 30. Oktober 1941:
„Der Testamentsvollstrecker hat die Übertragung vorgenommen. Da es sich um eine unentgeltliche Verfügung
handelte, hat der eingesetzte Pfleger Justizsekretär B. eine Zustimmungserklärung hierzu am 7. Mai 1941
abgegeben. Mit Beschluß vom gleiche Tage wurde dem Pfleger die nachlassgerichtliche Genehmigung hierzu
erteilt. Sie erhalten angeschlossen Abschrift der Erklärung und des Genehmigungsbeschlusses. Damit ist die
Sammlung endgültig Eigentum des Badischen Staates geworden.“
In seinem Bericht an das Nachlassgericht vom 7. Mai 1941 erläuterte der Testamentsvollstrecker, dass noch
Vermögen im Wert von 188.651,66 RM verblieben sei. Die Hälfte wurde unter näherer Aufschlüsselung der
einzelnen Erbteile an vier Verwandte mütterlicherseits ausgezahlt. Dabei wurde für die in Paris wohnhafte
Miterbin Frau E. d. L. ein Abwesenheitspfleger bestellt und für diesen ein Konto eingerichtet. Die andere Hälfte
über 94.325,83 RM wurde für die Erben väterlicherseits auf ein Konto „Justizrat Dr. R. - Anderkonto Dr. E. G.
Erben (Stamm G.)“ gutgebracht. Die Erben dieses Stamms wurden vom Testamentsvollstrecker ermittelt. Am
27. September 1941 beantragte der Testamentsvollstrecker einen Teil-Erbschein für diesen Personenkreis
unter Aufschlüsselung der einzelnen Erbteile. Ein entsprechender Teil-Erbschein wurde durch das
Nachlassgericht am 29. September 1941 erteilt. Am 3. Dezember 1941 meldete Herr Justizrat Dr. R. dem
Oberfinanzpräsidenten in Berlin, dass aus der Erbmasse der gesetzlichen Erben väterlicherseits 31.178,90 RM
für im Ausland lebende gesetzliche Erben verwahrt seien und meldete diese Beträge „unter Bezugnahme auf §
1 und § 7 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ an. Das Finanzamt Baden-Baden veranlasste hierauf
die Überweisung dieses Betrages an die Finanzkasse.
Mit Beschluss vom 26. Juni 1959 wies das Nachlassgericht einen Antrag des Rechtsanwalts von Herrn Dr. H.
G., Herrn F. M. aus New York, auf Übersendung einer Kopie des Testaments des Erblassers mit der
Begründung zurück, dass Herr Dr. H. G. in den erteilten Erbscheinen nicht als Miterbe genannt sei.
Durch Beschluss vom 6. Dezember 1960 zog das Nachlassgericht den Teil-Erbschein vom 24. März 1941 zu
Gunsten der Erben mütterlicherseits ein, da die darin als Miterbin genannte Frau E. d. L. bereits am 14. Mai
1935 vorverstorben war. Nach Ermittlung ihrer Erben erteilte das Nachlassgericht auf Antrag vom 14. Januar
1966 unter dem 18. März 1966 einen gemeinschaftlichen Teilerbschein dahingehend, dass die zwei Kinder von
Frau E. de L. zu je 1/6 den Erblasser beerbt haben.
Im Januar 1982 starb Herr Dr. H. G. in den USA. Er hinterließ zwei Töchter, die Beteiligte zu 4 und Frau M. G. .
Frau M. G. verstarb im August 1998 und hinterließ den Beteiligten zu 3.
Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg teilte dem Nachlassgericht mit
Schreiben vom 27. Juli 2012 mit, dass im Hinblick auf eine seit längerem anhängige Restitutionsangelegenheit
betreffend den Nachlass Dr. E. G. die Erlangung eines Erbscheins von erheblicher Bedeutung wäre.
Die Beteiligte zu 2 ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, mit der Aufgabe, die Ausübung der jüdischen
Religion in den Gemeinden in Baden zu gewährleisten. Mit Schreiben vom 22. November 2013 wandte sie sich
an das Nachlassgericht und teilte mit, dass als Rechtsnachfolger der im Testamentsnachtrag des Erblassers
genannten J. Gemeinde B.-B. mehrere Institutionen in Betracht kämen. Es wurde die Einziehung der
widersprechenden Teil-Erbscheine und die Erteilung eines Erbscheins an den Rechtsnachfolger der J.
Gemeinde B.-B. beantragt. Vorgelegt wurde ein Rechtsgutachten der Rechtsanwälte Dr. F. und Dr. Q. im
Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft Forschung und Kunst Baden-Württemberg vom 18. Januar 2013,
wonach sowohl das Testament des Erblassers als auch der Nachtrag gültig seien, so dass die J. Gemeinde B.-
B. als Alleinerbin zu betrachten sei. Ein weiter vorgelegtes Gutachten der Herren Rechtsanwälte Dr. S. und Dr.
F. im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft Forschung und Kunst Baden-Württemberg vom 30. Oktober
2008 hält die ursprüngliche J. Gemeinde B.-B. weiterhin für bestehend. Im weiteren Verfahren legte die
Beteiligte 2 ein weiteres Rechtsgutachten des Herrn Rechtsanwalt Dr. Q. im Auftrag des Ministeriums für
Wissenschaft Forschung und Kunst Baden-Württemberg vom 16. Juli 2014 vor, wonach die J. Gemeinde B.-B.
durch Mitgliederverlust untergegangen sei und dadurch ihre Erbfähigkeit eingebüßt habe. Die nach dem Krieg
neu gegründete i. K. B.-B. - die im vorliegenden Verfahren als Beteiligte zu 1 beteiligt ist - sei jedoch sinngemäß
als deren Nacherbe zu betrachten. Im weiteren Verfahren machte die Beteiligte zu 2 geltend, dass hinsichtlich
der Statusfrage jüdischer Gemeinden eine rein staatskirchenrechtliche Betrachtung geboten sei, so dass die
von den Alliierten für vermögensrechtliche Ansprüche eingerichtete Jewish Trust Corporation Branche
Française nicht als Rechtsnachfolgerin der J. Gemeinde B.-B. angesehen werden könne. Dies gelte
insbesondere deshalb, weil die J. Gemeinde B.-B. bei zutreffender staatskirchenrechtlicher Betrachtung
niemals untergegangen sei. Die Beteiligte zu 1 als heutige israelitische Kultusgemeinde sei keine
Neugründung, sondern die wiederaufgelebte jüdische Vorkriegsgemeinde in B.-B. .
Die Beteiligten zu 3 und 4 sind dem entgegengetreten. Der Nachtrag zum Testament vom 15. Juli 1939 beruhe
darauf, dass sich der Erblasser nach der Auswanderung von Herrn Dr. H. G. zu einer Änderung seiner
letztwilligen Verfügung genötigt gesehen habe. Diese beruhe offensichtlich auf einer durch die Herrschaft des
Nationalsozialismus hervorgerufenen Zwangslage und führe daher zur Nichtigkeit der im Nachtrag enthaltenen
Streichung des Herrn Dr. H. G. als Erben. Denn dem Erblasser sei unter den im Jahr 1939 herrschenden
Umständen klar gewesen, dass wegen der verschärften Repression gegen Juden wie die Reichsfluchtsteuer
und die Judenvermögensabgabe der ins Ausland emigrierte Dr. H. G. niemals hätte die Erbschaft in Besitz
nehmen können (AS. 659). Die diskriminierende Familienrechts-, Erbrechts- und Devisengesetzgebung habe
es nicht zugelassen, dass ein im Ausland lebender Erbe in den Genuss einer Erbschaft hätte kommen können.
Soweit in dem durch die Beteiligte zu 2 vorgelegten Rechtsgutachten die Beteiligte zu 1 als sinngemäße
Nacherbin der untergegangenen J. Gemeinde B.-B. bezeichnet werde, sei dem nicht zu folgen. Die
erbrechtlichen Voraussetzungen einer Nacherbschaft lägen nicht vor. Auch lasse das Gutachten außer
Betracht, dass durch die Alliierten Sonderregelungen für die Rückerstattung getroffen worden seien. Für
Ansprüche der J. Gemeinde B.-B. sei die Jewish Trust Corporation Branche Française als
anspruchsberechtigte Nachfolgeorganisation eingerichtet worden. Diese habe durch ein Globalabkommen im
Jahr 1951 (vgl. Württemberg-Badischer Landtag, Beilage 741 vom 8. Oktober 1951) ihre Ansprüche auf das
rückerstatte jüdische Vermögen gegen eine Zahlung von 10. Mio. Euro an das Land Württemberg-Baden
abgetreten. Am 28. Mai 2013 beantragten die Beteiligten zu 3 und 4 die Einziehung und Kraftloserklärung aller
bisher erteilten Erbscheine und die Erteilung eines Alleinerbscheins zu Gunsten von Herrn Dr. H. G. .
Das Nachlassgericht hat durch Beschluss vom 27. November 2014 seine Absicht mitgeteilt, die bestehenden
Teil-Erbscheine einzuziehen und einen neuen Erbschein zu erlassen. Im Hinblick auf das Versterben der in den
Teil-Erbscheinen genannten Personen hat das Nachlassgericht eine Nachlasspflegschaft für die unbekannten
Erben eingerichtet und den Beteiligten zu 5 als Nachlasspfleger bestimmt. Mit Beschluss vom 10. Juli 2015 hat
das Nachlassgericht Beweis erhoben zur Rechtsfähigkeit der J. Gemeinde B.-B. nach dem 1. April 1938 und für
den Fall ihres Untergangs zu ihrer Rechtsnachfolge. Bezüglich der Einzelheiten wird auf den Beweisbeschluss
vom 10. Juli 2015 Bezug genommen. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten von Herrn
Prof. Dr. M. vom 5. Dezember 2016 verwiesen.
Durch Beschluss vom 12. Juni 2017 hat das Nachlassgericht die Teil-Erbscheine des Notariats I Baden-Baden
vom 29. September 1941 und vom 18. März 1966 wegen offensichtlicher Unrichtigkeit eingezogen und für
kraftlos erklärt, da die seinerzeit erteilten Ausfertigungen nicht mehr zu erhalten seien; eine öffentliche
Bekanntgabe erfolgte nicht. Weiterhin hat es einen Feststellungsbeschluss erlassen, wonach der Erblasser
durch Herrn Dr. H. G. beerbt worden ist. Die im Nachtrag zum Testament vom 18. Mai 1939 verfügte
Erbeinsetzung der J. Gemeinde B.-B. sei nach
facto spätestens seit 1943 aufgehört habe zu existieren und daher die Erfüllung der Auflage, hilfsbedürftige
Juden zu unterstützen, nicht mehr möglich gewesen sei. Auf die Gründe, wieso die Auflage nicht mehr habe
erfüllt werden können, komme es nicht an. Eine wohlwollende Auslegung unter Berücksichtigung der
Verfolgungssituation im Jahr 1939 und unter Ermittlung des hypothetischen Willens des Erblassers ergebe,
dass der Erblasser Herrn Dr. H. G. als weiteren Ersatzerben eingesetzt hätte.
Gegen den bei den Beteiligten zu 1 und 2 am 3. Juli 2017 eingegangenen Beschluss haben diese mit am 17.
Juli 2017 beim Nachlassgericht eingegangenem Schriftsatz vom 14. Juli 2017 Beschwerde eingelegt. Für die
erbrechtliche Beurteilung seien restitutionsrechtliche Regelungen wie der Vertrag zwischen der Jewish Trust
Corporation Branche Française und dem Land Baden-Württemberg ohne Belang. Staatskirchenrechtlich
entscheide allein die öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft mit Bindungswirkung auch gegenüber der
bürgerlichen Gesellschaft über ihre Auflösung oder ihren Fortbestand. Bei der erbrechtlichen Auslegung gebe
es keine Hinweise darauf, dass der Erblasser die Unterstützung hilfsbedürftiger Juden auf das Gebiet von B.-B.
beschränkt wissen wollte, so dass von einer fehlenden Erfüllbarkeit der Auflage nicht ausgegangen werden
könne. Für eine Nichtigkeit des Testamentsnachtrags gebe es keine Anhaltspunkte. Die Testierfreiheit des
Erblassers sei gewahrt gewesen. Von einer NS-unrechtsbedingten oder verfolgungsbedingten Enterbung des
Herrn Dr. H. G. könne nicht die Rede sein. Den Beteiligten zu 3 und 4 sei der Nachweis nicht gelungen, dass
Dr. H. G. nach dem Willen des Erblassers weiter hätte begünstigt werden sollen, schon gar nicht sei dies im
Testament angedeutet. Selbst wenn es der Wille des Erblassers gewesen wäre, Herrn Dr. H. G. nach seiner
Emigration zu begünstigen, so „konnten Vermögensgenstände bei der Auswanderung durchaus mitgenommen
werden. Umzugsgut auch mit „kostbaren Kunstwerken“ ... [sei] z.B. in liftvans verpackt und verschifft [worden]“.
Hierfür wurde Sachverständigenbeweis angeboten. Es habe überdies keine gesetzlichen Hindernisse gegeben,
Herrn Dr. H. G. bei dessen Emigration die wertvolle Kunstsammlung mitzugeben, wofür ebenfalls
Sachverständigenbeweis angetreten wurde.
Die Beteiligten zu 3 und 4 verteidigen die nachlassgerichtliche Entscheidung unter Wiederholung und
Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags. Es sei bedauerlich, dass die Beschwerdeführerin als Vertreterin
jüdischer Religionsgemeinschaften das Verfolgungsschicksal der Familie G. relativiere. Die
nationalsozialistische Judenverfolgung durch zahlreiche diskriminierende Regelungen auf dem Gebiet des
Erbrechts habe sehr wohl unmittelbaren Einfluss auf die Testamentsgestaltung gehabt.
Das Nachlassgericht hat durch Beschluss vom 7. November 2017 der Beschwerde nicht abgeholfen und die
Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 und 2 ist in der Weise auszulegen, dass sie sich ausschließlich dagegen
richtet, dass das Nachlassgericht das Vorliegen der erforderlichen Tatsachen zur Begründung des von den
Beteiligten zu 3 und 4 gestellten Antrags für festgestellt erachtet hat, nicht jedoch gegen die Kraftloserklärung
der bereits erteilten Erbscheine. Denn die Beteiligten zu 1 und 2 sind der Auffassung, dass eine von der
gesetzlichen Erbfolge abweichende testamentarische Erbeinsetzung zu ihren Gunsten besteht, und haben die
Kraftloserklärung der bereits erteilten Erbscheine selbst angeregt.
Die Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Im Ergebnis zutreffend geht das
Nachlassgericht davon aus, dass der Erblasser testamentarisch von Herrn Dr. H. G. beerbt worden ist. Daher
ist der angegriffene Feststellungsbeschluss zu Gunsten des Herrn Dr. H. G. nicht zu beanstanden.
Die Erbeinsetzung von Herrn Dr. H. G. im Testament vom 18. Mai 1939 ist nicht wegen eines Verstoßes gegen
das TestG nichtig (dazu unter 1.). Die Herrn Dr. H. G. von der Erbenstellung ausschließende Verfügung im
Nachtrag vom 15. Juli 1939 ist zwar entgegen der Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. M.
nicht als sittenwidrig zu qualifizieren (dazu unter 2.). Eine ergänzende Testamentsauslegung ergibt jedoch,
dass die Änderung der Erbeinsetzung im Nachtrag vom 15. Juli 1939 von der Vorstellung des Erblassers
geleitet war, dass Herr Dr. H. G. nach seiner Emigration nicht in den Genuss der Erbschaft kommen kann, und
der Erblasser bei Kenntnis des nach wenigen Jahren eintretenden Wegfalls der einschlägigen
diskriminierenden rechtlichen Regelungen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes keine Änderung der
Erbeinsetzung vorgenommen hätte, so dass Herr Dr. H. G. weiter als testamentarisch eingesetzter Erbe zu
betrachten ist (dazu unter 3.). Auf die zwischen den Beteiligten unterschiedlich beurteilten Fragen der
Weiterexistenz und der vermögensrechtlichen Nachfolge der J. Gemeinde B.-B. kommt es daher nicht an.
1. Die Erbeinsetzung des Herrn Dr. H. G. im Testament vom 18. Mai 1939 ist nicht wegen Verstoßes gegen das
TestG nichtig. § 48 Absatz 2 TestG ist vorliegend nicht anzuwenden. Auf die nach dem Inhalt der Nachlassakte
von entfernteren gesetzlichen Erben geltend gemachte Nichtigkeit kommt es daher nicht an.
a) § 48 Absatz 2 TestG erklärte eine Verfügung von Todes wegen für nichtig, „soweit sie in einer gesundem
Volksempfinden gröblich widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstößt, die ein
verantwortungsbewußter Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat” (zur
Entstehungsgeschichte und Auslegung der Norm siehe Heller, Die Zivilrechtsgesetzgebung im Dritten Reich,
Münster 2015, S. 306 ff. m.w.N., zur diskriminierenden Anwendung dieser Bestimmung durch die Gerichte
siehe Hütte, Der Gemeinschaftsgedanke in den Erbrechtsreformen des Dritten Reichs, Frankfurt 1988, S. 256
ff.).
b) 48 Absatz 2 TestG ist durch Kontrollratsgesetz Nr. 37 vom 30. Oktober 1946 mit Wirkung ab 5. November
1946 aufgehoben worden (ABl. KR 1946 S. 220; vgl. BT-Drs. 1/3824 S. 19, 22; BayObLG, Beschluss vom 22.
Februar 1999, 1Z BR 105/98, juris Rn. 19 mit krit. Anm. Otte,
nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat, Tübingen 1992, S. 108 f.). Nach Art. 2 dieses
Gesetzes erstreckt sich die Anwendbarkeit „auf Erbfälle, die bei Verkündung dieses Gesetzes noch nicht
endgültig geregelt sind“. Hierbei handelt es sich um eine rückwirkende Regelung für alle noch nicht geregelten
Erbfälle, wobei das Gesetz keine Definition enthält, wann eine endgültige Regelung vorliegt (Bedau,
Entnazifizierung des Zivilrechts, Berlin 2004, S. 274 f.).
c) Jedenfalls im vorliegenden Fall kann von einer endgültigen Regelung des Erbfalls nicht ausgegangen
werden, da das Land Baden-Württemberg die Restitution der derzeit in Landesbesitz befindlichen
Kunstsammlung des Erblassers von der Klärung der Erbfolge nach dem Erblasser abhängig macht. Im Hinblick
auf das von Anfang an zum Nachteil des Herrn Dr. H. G. geführte Nachlassverfahren sind vorliegend keine
Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes ersichtlich, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Dr. H. G.
wurde am Nachlassverfahren bei Erlass der Erbscheine zu Gunsten der gesetzlichen Erben nicht beteiligt.
Weiterhin haben der Testamentsvollstrecker, das Nachlassgericht und die obersten Landesbehörden gezielt mit
dem Ziel der unentgeltlichen Übertragung der Kunstsammlung auf den badischen Staat zusammengewirkt. Der
Testamentsvollstrecker und das Nachlassgericht sind hinsichtlich der Bestimmung von jüdischen gesetzlichen
Erben davon ausgegangen, dass - in den Worten des Testamentsvollstreckers - „[diese] doch kaum noch in den
Besitz ihres Erbteils kommen [werden]“. Schließlich wurde Herrn Dr. H. G. im Jahr 1959, als eine
Testamentsanfechtung gemäß § 2082 Absatz 3 BGB noch möglich gewesen wäre, Akteneinsicht verweigert.
2. Die Herrn Dr. H. G. von der Erbenstellung ausschließende Verfügung im Nachtrag vom 15. Juli 1939 ist nicht
wegen Sittenwidrigkeit nichtig. Dabei folgt das Gericht nicht der Rechtauffassung des gerichtlichen
Sachverständigen Prof. Dr. M. in seinem Gutachten vom 5. Dezember 2016, dass die Änderung der
Erbeinsetzung durch den Erblasser als Ausdruck spezifischer Verfolgung sittenwidrig sei.
a) Auszugehen ist vom Prinzip der Testierfreiheit. Die Schranke des § 138 Absatz 1 BGB berechtigt den Richter
nicht, die Auswirkungen einer vom Erblasser getroffenen letztwilligen Verfügung an seinen eigenen
Gerechtigkeitsvorstellungen zu messen und den Willen des Erblassers danach zu korrigieren (BGH, Urteil vom
10. November 1982 - IVa ZR 83/81, juris Rn. 29). Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit der letztwilligen
Verfügung kann daher nur in besonders hervorstechenden Ausnahmefällen angenommen werden (BGH, Urteil
vom 10. November 1982 - IVa ZR 83/81, juris Rn. 29). Eine Einschränkung der Testierfreiheit durch Anwendung
der Generalklausel des § 138 Absatz 1 BGB ist nur in Betracht zu ziehen, wenn sich das Verdikt der
Sittenwidrigkeit auf eine klare, deutlich umrissene Wertung des Gesetzgebers oder allgemeine
Rechtsauffassung stützen kann (BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 - IV ZR 231/92, juris Rn. 27). Dabei ist nach
der Rechtsprechung bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit auf den Zeitpunkt der Errichtung des Testaments
abzustellen (BGH, Urteil vom 15. Februar 1956 - IV ZR 294/55, juris Rn. 9; OLG Frankfurt, Beschluss vom 27.
Juni 1994 - 20 W 108/94, juris Rn. 16; offen gelassen in BGH, Beschluss vom 02. Dezember 1998 - IV ZB
19/97, juris Rn. 35; zum Meinungsstand Staudinger/Sack/Fischinger, BGB Neubearb. 2017 § 138 Rn. 139 ff.;
Gebhardt,
b) Nach Ansicht des vom Nachlassgericht eingeholten Sachverständigengutachtens kommt es hinsichtlich der
Frage der Sittenwidrigkeit auf den heutigen Zeitpunkt der Beurteilung an. Dabei ergibt sich die Sittenwidrigkeit
nach Auffassung des Sachverständigen daraus, dass die Willensbildung des Erblassers unmittelbar auf der
diskriminierenden Gesetzgebung des NS-Regimes beruht, da Dr. H. G. mit der Emigration in die USA nach
dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit
seine Staatsbürgerschaft und damit sein Erbrecht verloren habe. Damit beruhe das Änderungstestament auf
der damaligen Verfolgungssituation und sei mithin nach heutiger Beurteilung sittenwidrig.
c) Der Senat schließt sich dieser Auffassung nicht an, wobei es dahinstehen kann, ob bei der Beurteilung der
Sittenwidrigkeit auf die heutigen Bewertungsmaßstäbe abzustellen ist oder nicht. Denn das Gericht teilt bereits
nicht die zu Grunde liegende Annahme des Sachverständigen, dass Herr Dr. H. G. durch die Ausreise in die
USA nach dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen
Staatsangehörigkeit seine Staatsbürgerschaft verloren hat, nicht mehr erben konnte und dem Erblasser damit
als einsetzbarer Erbe entzogen wurde.
aa) Das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen
Staatsangehörigkeit (RGBl. 1933 I S. 480) ermöglichte es, Reichsangehörigen, die sich im Ausland aufhielten,
wegen ihres politischen Verhaltens die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihr Vermögen zu
entziehen. Nach § 2 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes konnten Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhielten,
„der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die
Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben.“ Nach § 2 Absatz 1
Satz 3 des Gesetzes konnte das Vermögen der Betroffenen für verfallen erklärt werden. Gemäß § 2 Absatz 3
des Gesetzes traf die Entscheidung der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Reichsminister
des Auswärtigen in der Regel nach Anhörung der Regierungen der beteiligten Länder. Nach § 2 Absatz 5 des
Gesetzes war die Aberkennung der Staatsangehörigkeit mit der Verkündung der Entscheidung im
Reichsanzeiger wirksam. Das Gesetz über erbrechtliche Beschränkungen wegen gemeinschaftswidrigen
Verhaltens (RGBl. Reichsgesetzblatt1937 I, S. 1161) legte fest, dass Personen, die nach dem Gesetz über den
Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit die deutsche
Staatsangehörigkeit verloren haben, von einem deutschen Staatsangehörigen nichts erben konnten.
bb) Die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Gesetz über den Widerruf von
Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit war - anders als bei der späteren 11.
Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (hierzu Staudinger/Bausback, BGB Neubearb.
2013, Anhang II zu Art 5 EGBGB, Rn. 18) - nicht automatische Folge der Ausreise aus Deutschland. Vielmehr
handelte es sich um ein Verwaltungsverfahren (hierzu Lehmann, Acht und Ächtung politischer Gegner im
Dritten Reich - Die Ausbürgerung deutscher Emigranten 1933-1945 in: Hepp, Die Ausbürgerung deutscher
Staatsangehöriger 1933-45 nach den im Reichanzeiger veröffentlichten Listen, Band 1, München 1985, S. IX
ff.). Die Entscheidung über die Ausbürgerung war im Reichsanzeiger zu veröffentlichen. Die Namen der
Betroffenen sind in ein Namensregister überführt worden (Hepp, Die Ausbürgerung deutscher
Staatsangehöriger 1933-45 nach den im Reichanzeiger veröffentlichten Listen, Band 2, München 1985). Der
Senat hat das vorgenannte Namenregister eingesehen. Der Name H. G. ist nicht aufgeführt. Daher geht das
Gericht davon aus, dass Herr Dr. H. G. nicht nach dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die
Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit ausgebürgert wurde. Folglich fehlt auch eine hinreichende
Grundlage für die Annahme, dass Herr Dr. H. G. nach dem Gesetz über erbrechtliche Beschränkungen wegen
gemeinschaftswidrigen Verhaltens (RGBl. Reichsgesetzblatt1937 I, S. 1161) an der Erlangung einer
Erbenstellung gehindert war.
3. Eine ergänzende Testamentsauslegung ergibt, dass die Änderung der Erbeinsetzung im Nachtrag vom 15.
Juli 1939 von der Vorstellung des Erblassers geleitet war, dass Herr Dr. H. G. nach seiner Emigration nicht in
den Genuss der Erbschaft kommen kann, und der Erblasser bei Kenntnis des nach wenigen Jahren
eintretenden Wegfalls der einschlägigen diskriminierenden rechtlichen Regelungen nach dem Zusammenbruch
des NS-Regimes keine Änderung der Erbeinsetzung vorgenommen hätte, so dass Herr Dr. H. G. weiter als
testamentarisch eingesetzter Erbe zu betrachten ist.
a) Gegenstand einer ergänzenden Auslegung kann auch eine Enterbung sein (Horn/Kroiß
Testamentsauslegung, 2. Aufl. § 7 Rn. 95). Für eine ergänzende Testamentsauslegung ist zunächst
erforderlich, dass die letztwillige Verfügung des Erblassers eine ungewollte Regelungslücke aufweist. Eine
solche liegt vor, wenn ein bestimmter, tatsächlich eingetretener Fall vom Erblasser nicht bedacht und deshalb
nicht geregelt wurde, aber geregelt worden wäre, wenn der Erblasser ihn bedacht hätte (BGH, Beschluss vom
12. Juli 2017 - IV ZB 15/16, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein nach Testamentserrichtung eingetretenes Ereignis kommt
hierfür in Betracht, falls dessen Kenntnis für die Entschließung des späteren Erblassers bedeutsam gewesen
wäre (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2017 - IV ZB 15/16, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein derartiges Ereignis kann die
Änderung der Rechtslage nach der Testamentserrichtung durch den Wegfall diskriminierender gesetzlicher
Regelung aus der Zeit des Nationalsozialismus nach Ende des Zweiten Weltkriegs sein (vgl. BayObLG,
Beschluss vom 22. Februar 1999 - 1Z BR 105/98, juris Rn. 23; vgl. aus BGH, Urteil vom 25. Januar 1971 - III
ZR 171/67,
jüdische Erblasserin weder den Verlust ihres Vermögens durch die Judenverfolgung noch die Entstehung von
Ersatzansprüchen nach dem Zweiten Weltkrieg vorhergesehen hatte). Ob von einer planwidrigen
Unvollständigkeit der Verfügung von Todes wegen auszugehen ist, kann nicht schematisch anhand des
Wortlauts der letztwilligen Verfügung festgestellt werden; vielmehr ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller
Umstände bei Testamentserrichtung vorzunehmen (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2017 - IV ZB 15/16, juris Rn.
15 m.w.N.).
Die ergänzende Auslegung setzt weiter voraus, dass ein hypothetischer Wille des Erblassers ermittelt werden
kann, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden kann (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2017 - IV
ZB 15/16, juris Rn. 23). Dabei handelt es sich nicht um den mutmaßlichen wirklichen Willen des Erblassers,
sondern den Willen, den er vermutlich gehabt hätte, wenn er die planwidrige Unvollkommenheit der letztwilligen
Verfügung im Zeitpunkt ihrer Errichtung erkannt hätte (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2017 - IV ZB 15/16, juris
Rn. 24 m.w.N.). Dabei darf ein den Verhältnissen entsprechender Erblasserwille nur unterstellt werden, wenn er
auf eine bestimmte, durch Auslegung der letztwilligen Verfügung erkennbare Willensrichtung des Erblassers
zurückgeführt werden kann (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2017 - IV ZB 15/16, juris Rn. 24; Urteil vom 15.
Dezember 1956 - IV ZR 238/56, juris Rn. 23).
b) Nach diesen Grundsätzen ist eine ungewollte Lückenhaftigkeit des Testaments anzunehmen.
aa) Dabei lässt der Wortlaut des Testaments „Da mein Neffe Dr. H. G., nach New York ausgewandert ist,
bestimme ich zu meinem Alleinerben meine Schwester C. G.“ Raum für eine ergänzende Auslegung, da die
nunmehr fehlende Berücksichtigung von Herrn Dr. H. G. an dessen Auswanderung nach New York - und damit
auch an die hiermit zusammenhängenden Umstände seiner Emigration - anknüpft. Regelungsziel des
Erblassers war es, dass seine Erben in erster Linie seine favorisierten Verwandten in Breslau sein sollten. Dies
lässt sich daraus ableiten, dass statt dem Neffen Dr. H. G. nunmehr dessen Mutter C. G. zur Erbin bestimmt
und die jüdische Gemeinde lediglich als Ersatzerbin eingesetzt wurde.
bb) Die Testamentserrichtung fällt in die Zeit der Judenverfolgung in Deutschland während des Dritten Reichs,
die im Jahr 1939 durch eine weitgehende rechtliche Diskriminierung und Entrechtung gekennzeichnet war
(hierzu Tarrab-Maslaton, Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich, Berlin 1993).
Weiterhin wurden in dieser Zeit emigrierende Juden im Zuge ihrer Auswanderung fast vollständig enteignet
(hierzu Kuller, Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im
nationalsozialistischen Deutschland, München 2013, S. 185 ff.). Die vom Erblasser gegebene Begründung,
dass Dr. H. G. wegen seiner Auswanderung nicht mehr als Erbe eingesetzt wird, muss daher vor dem
Hintergrund gesehen werden, dass mit der Emigration die Vernichtung der bisherigen wirtschaftlichen Existenz
einherging.
(1) Für die Ausstellung eines Auslandsreisepasses, Versendung von Umzugsgut und Transfer- oder
Freigabegenehmigungen der Devisenstelle wurde eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung benötigt
(Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938, S. 26). Voraussetzung für
die Ausstellung war, dass keine Steuerrückstände bestanden und insbesondere die sogenannte
Reichsfluchtsteuer entrichtet war (Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin
1938, S. 27). Die Reichsfluchtsteuer wurde 1931 eigeführt (Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur
Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens, RGBl. 1931 I, S. 699, 731 ff.)
und in der Zeit des Nationalsozialismus verschärft (Gesetz über Änderungen der Vorschriften der
Reichsfluchtsteuer, RGBl. 1934 I, S. 392). Die Reichsfluchtsteuer wurde mehrfach verlängert und ohne
Rücksicht auf bestehende Doppelbesteuerungsabkommen erhoben (Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer, Berlin
1993, S. 33 ff.). Die Steuer sah eine Einmalzahlung von 25 Prozent des Vermögens für das Verlassen des
Deutschen Reiches vor (Kuller, Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis
im nationalsozialistischen Deutschland, München 2013, S. 185). Bei der Bemessung wurden Schenkungen und
Erbschaften über 10.000 RM hinzugerechnet (Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in
Deutschland, Berlin 1938, S. 27).
(2) Das Devisenrecht stellte ein weiteres Mittel zur Ausplünderung jüdischer Emigranten dar (hierzu Kuller,
Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen
Deutschland, München 2013, S. 203). Devisen konnten nicht frei transferiert werden. Auswanderer mussten
Gelder auf Sperrmarktkonten einzahlen und hohe Wechselkursverluste hinnehmen (Mußgnug, Die
Reichsfluchtsteuer, Berlin 1993, S. 39). Das Disagio beim Kapitaltransfer lag im Jahr 1939 bis August bei 95 %
(Kuller, Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im
nationalsozialistischen Deutschland, München 2013, S. 223) und ab September 1939 bei 96 % (Wurm, Die
finanzielle Vernichtung der Juden im Dritten Reich, Berlin 1999, S. 135). Auch nach der Ausreise unterlagen die
Emigranten hinsichtlich etwaig zurückgelassenen Vermögens den Devisenvorschriften (Cohn/Gottfeld,
Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938, S. 104). Verfügungen waren nur mit
Genehmigung der Devisenstelle erlaubt, zurückgelassenes inländisches Guthaben wurde als Auswanderer-
Sperrguthaben behandelt, wobei eine Verwertung mit erheblichem Verlust durch Disagio verbunden war und ab
dem Jahr 1938 hierfür notwendige devisenrechtliche Genehmigungen praktisch nicht mehr erteilt wurden
(Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938, S. 105).
(3) Weitere Verschärfungen traten durch das Gesetz über die Devisenbewirtschaftung (RGBl. 1938 I, S. 1733)
ein. Dazu gehören die Genehmigungspflicht für das unentgeltliche Versenden oder Überbringen von Sachen (§
54 DevG) sowie für Juden die Beschränkung der Mitnahme von Sachen auf zum persönlichen Gebrauch
unbedingt erforderliche Gegenstände mit zusätzlicher Genehmigungspflicht (§ 58 DevG). Das
Genehmigungserfordernis führte dazu, dass minutiöse Listen über das Umzugsgut anzufertigen waren (Kuller,
Bürokratie und Verbrechen - Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen
Deutschland, München 2013, S. 222). Die Verwaltungspraxis erachtete als Umzugsgut die in der Wohnung und
in Besitz und Gebrauch befindlichen Einrichtungsgegenstände, Wäsche, Kleidung, etc. (Cohn/Gottfeld,
Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938, S. 34). Für Schmuckstücke war eine
besondere Genehmigung erforderlich (Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland,
Berlin 1938, S. 34). Die Möbel und der gesamte Hausrat wurden verpackt und bei der Ausreise vom Zoll
kontrolliert, damit keine unerlaubten Wertgegenstände wie z.B. Tafelsilber außer Landes gebracht werden
konnte (Landeszentrale für politische Bildung, Die Deportation der badischen und saarpfälzer Juden in das
Internierungslager Gurs in den Pyrenäen, Stuttgart 2010, S. 14). Dies zeigt, dass die Ausgestaltung der
Auswanderungsbestimmungen darauf abzielte, die Emigranten wirtschaftlich auszuplündern.
(4) Die gesetzlichen Bestimmungen und die Genehmigungspraxis der beteiligten Behörden waren den Juden in
Deutschland bekannt. Es gab in allen größeren Städten Auswanderungsberatungsstellen, die u.a. vom
Hilfsverein der Juden in Deutschland e.V. getragen wurden, und über die einschlägigen Bestimmungen
informierten (Cohn/Gottfeld, Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938, S. 84).
Weiterhin wurden die geltenden Auswanderungsvorschriften in Ratgeberform publiziert (Cohn/Gottfeld,
Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland, Berlin 1938). Von daher ist davon auszugehen, dass die
o.g. Regelungen als allgemein verfügbares Wissen über die wirtschaftlichen Folgen einer Emigration bekannt
waren. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Erblasser davon ausgehen musste, dass eine bei
Herrn Dr. H. G. angefallene Erbschaft im Zuge der Emigration faktisch enteignet worden wäre. Vor diesem
Hintergrund musste der Erblasser davon ausgehen, dass Herr Dr. H. G. das Vermögen einer angefallenen
Erbschaft nach seiner Emigration nicht hätte ins Ausland überführen können. Durch die Emigration war es
daher faktisch unmöglich, wirtschaftlich in den Genuss einer angefallenen Erbschaft zu kommen.
(5) Der Beweisanregung der Beschwerdeführer zur Einholung eines Sachverständigengutachtens dazu, dass
Vermögensgenstände bei der Auswanderung und Umzugsgut auch mit kostbaren Kunstwerken mitgenommen
werden konnten, war nicht nachzukommen.
Nach
erfassen. Das Gericht ist dabei aber nicht verpflichtet, allen nur denkbaren Erkenntnismöglichkeiten
nachzugehen. Es kann die Ermittlungen dann abschließen, wenn von diesen ein sachdienliches, die
Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist. Auch Beweisanträge der Beteiligten darf
das Gericht dann außer Betracht lassen, wenn es sie aus Rechtsgründen für unerheblich oder wenn es die
angebotenen Beweise nach dem sonstigen Ergebnis der Ermittlungen für überflüssig oder nicht sachdienlich
hält (BVerfG, Beschluss vom 14. September 2015 - 1 BvR 1321/13, juris Rn. 26; Keidel/Sternal, FamFG 19.
Aufl. § 26 Rn. 22).
Die angeregte Beweiserhebung ist aus mehreren Gründen überflüssig und nicht sachdienlich. Zum einen
bemisst sich die Frage, was Auswanderer mitnehmen durften, nach den damals gültigen Devisenvorschriften.
Die Ermittlung von Rechtsvorschriften ist aber nicht tauglicher Gegenstand eines Sachverständigengutachtens.
Die zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung für Auswanderer maßgeblichen Vorschriften sind vom Gericht
ermittelt und dargestellt worden. Zum anderen bedürfen allgemeinkundige Tatsache nicht des Beweises im
Sinne des
Allgemeinkundig sind solche Tatsachen, von denen verständige und erfahrene Menschen in der Regel ohne
weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich doch jederzeit durch Benutzung allgemein zugänglicher
zuverlässiger Erkenntnisquellen unschwer überzeugen können, z.B. feststehende geschichtliche Sachverhalte
(BVerwG, Urteil vom 03. März 1987 - 1 C 39/84, juris Rn. 20). Nach den oben zitierten allgemein zugänglichen
historischen Schriften kann sich jeder unschwer davon überzeugen, dass ab dem Jahr 1939 Auswanderer
faktisch enteignet wurden und die Auswanderungsvorschriften Teil der durch das nationalsozialistische Regime
betriebenen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung waren. Weiterhin zeigt das in der Nachlassakte
dokumentierte kollusive Zusammenwirken der beteiligten Behörden bei der Aneignung der Kunstsammlung zu
Gunsten des badischen Staates, dass die örtlichen Behörden keine Verbringung ins Ausland geduldet hätten.
Insofern ist darauf hinzuweisen, dass Kunstgegenstände der Meldepflicht nach der Verordnung über die
Anmeldung des Vermögens von Juden (RGBl. 1938 I, S. 414) unterlagen (Tarrab-Maslaton, Rechtliche
Strukturen der Diskriminierung von Juden im Dritten Reich, Berlin 1993, S. 166) und daher den Behörden
bekannt waren. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Initiative zum Tätigwerden der
Nachlassbehörden zur Aneignung der Kunstsammlung vom Polizeidirektor in Baden-Baden durch dessen
Schreiben vom 5. September 1940 an das Notariat Baden-Baden als Nachlassgericht ausging. Schließlich
bestand der Nachlass des Erblassers nicht nur aus der Kunstsammlung, sondern auch in Wertpapieren und
Bankguthaben in nennenswerter Höhe (der Wert des Nachlasses wurde durch den Testamentsvollstrecker Dr.
H. H. im August 1940 mit insgesamt 285.000 bis 290.000 RM veranschlagt). Dieser Teil des Nachlasses war
nach den geltenden Devisenvorschriften ohne Transferkosten, die einer faktischen Enteignung gleichkamen,
nicht ins Ausland überführbar.
cc) Nicht vorhersehen konnte der Erblasser, dass sechs Jahre nach Errichtung des Testaments die
nationalsozialistische Herrschaft zusammenbrechen würde und die einschlägigen diskriminierenden rechtlichen
Regelungen keine Gültigkeit mehr haben würden. Die Änderung der Rechtslage durch den Wegfall
diskriminierender gesetzlicher Regelungen aus der Zeit des Nationalsozialismus nach Ende des Zweiten
Weltkriegs stellt eine für die ergänzende Testamentsauslegung hinreichende Lücke dar (vgl. BayObLG,
Beschluss vom 22. Februar 1999 - 1Z BR 105/98, juris Rn. 23).
Der ergänzenden Testamentslauslegung steht nicht entgegen, dass das vom Erblasser nicht vorhergesehene
Ereignis nach dem Erbfall liegt. Nach der Rechtsprechung ist eine ergänzende Testamentsauslegung auch
dann möglich, wenn sich die Ereignisse erst nach dem Erbfall ändern (BGH, LM Nr. 5 zu § 2084; OLG
Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 1993 - 20 W 59/92, juris Rn. 3; BayObLG, Beschluss vom 25. April 1991 -
BReg 1 a Z 72/90, juris Rn. 26; OLG Karlsruhe,
1210; OLG Köln,
(MünchKomm-BGB/Leipold, 7. Aufl. § 2084 Rn. 126; Grunewald,
Gesichtspunkt, dass nach dem vollen Wirksamwerden einer Verfügung von Todes wegen eine ergänzende
Auslegung ausscheidet, nach einer Vielzahl von Fallgruppen differenziert (im Einzelnen: MüKoBGB/Leipold, 7.
Aufl. § 2084 Rn. 126; MünchKomm-BGB/Leipold, 7. Aufl. § 2084 Rn. 126; Horn/Kroiß, Testamentsauslegung 2.
Aufl. § 7 Rn. 111, Hammann,
weil hier schützenswerte Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nicht als überwiegend betrachtet werden
können. Wie oben ausgeführt wurde das Nachlassverfahren von Anfang an zum Nachteil des Herrn Dr. H. G.
geführt, was sich an der unterbliebenen Beteiligung am Nachlassverfahren bei Erlass der Erbscheine zu
Gunsten der gesetzlichen Erben, dem gezielten Zusammenwirken von Testamentsvollstrecker, Nachlassgericht
und obersten Landesbehörden zur unentgeltlichen Übertragung der Kunstsammlung auf den badischen Staat
und dem Handeln von Testamentsvollstrecker und Nachlassgericht hinsichtlich der Bestimmung von jüdischen
gesetzlichen Erben in der Erwartung, dass - in den Worten des Testamentsvollstreckers - „[diese] doch kaum
noch in den Besitz ihres Erbteils kommen [werden]“, zeigt. Vor dem Hintergrund dieses kollusiven
Zusammenwirken der am Nachlassverfahren Beteiligten können allgemeine Erwägungen der Rechtssicherheit
keinen Vorrang vor der Verwirklichung des hypothetischen Erblasserwillens beanspruchen.
c) Beim Ausfüllen der Lücke stellt sich die Frage, wie der Erblasser seine Verfügung inhaltlich gestaltet hätte,
wenn er bei Errichtung des Testaments die später eingetretene Entwicklung der für ihn relevanten Verhältnisse
vorausschauend berücksichtigt hätte (vgl. OLG München, Beschluss vom 26. Juli 2006 - 32 Wx 88/06, juris Rn.
18; MünchKommBGB/Leipold, 7. Aufl. § 2084 Rn. 92). Die entstandene Lücke kann nur dann geschlossen
werden, wenn die für die Zeit der Testamentserrichtung anhand des Testaments oder unter Zuhilfenahme von
Umständen außerhalb des Testaments oder der allgemeinen Lebenserfahrung festzustellende Willensrichtung
des Erblassers dafür eine genügende Grundlage bietet (BayObLG, Beschluss vom 19. April 2000 - 1Z BR
43/99, juris Rn. 27). Hiernach steht für den Senat auf Grund tatrichterlicher Würdigung fest, dass der Erblasser
Herrn Dr. H. G. nicht enterbt hätte. Hierfür maßgebend sind zwei Umstände: Zum einen ist kein anderer Grund
für eine Enterbung des Dr. H. G. ersichtlich als die Annahme des Erblassers, dass Herr Dr. H. G. durch die
Emigration praktisch nicht mehr in den Genuss einer Erbschaft kommen kann. Zum anderen spricht der
Regelungsplan des Erblassers, nach Möglichkeit seine von ihm favorisierten Verwandten in Breslau zu
begünstigen, dafür, dass bei Voraussicht der Änderung der Rechtslage Herr Dr. H. G. weiter begünstigt worden
wäre.
aa) Eine Enterbung des Dr. H. G. kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass der Erblasser seinem Neffen
übelgenommen hätte, dass er sich durch die Emigration der unmittelbaren örtlichen Nähe des Erblassers
entzogen hat. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Testaments vom 18. Mai 1939 wohnte Herr Dr. H. G. in
Breslau, d.h. rund 750 km weit entfernt von Baden-Baden. Dies zeigt, dass für den Erblasser die räumliche
Nähe kein Grund für die Begünstigung von Dr. H. G. gewesen sein kann. Ebenso wenig kann die Enterbung
darauf zurückgeführt werden, dass sich der Erblasser von seinem Neffen Hilfe im Alter versprochen hätte und
dies nach der Auswanderung nicht mehr möglich gewesen wäre. Hiergegen sprechen die zahlreichen
Vermächtnisse des Erblassers an Hausangestellte, die belegen, dass der Erblasser seine Versorgung im Alter
organisiert hatte. Bedenkt man zudem, dass zwischen den beiden Testamenten nur acht Wochen liegen, so
erscheint es nicht wahrscheinlich, dass eine geänderte persönliche Wertschätzung des Erblassers für seinen
Neffen zur Enterbung geführt hat. Der vom Erblasser für die Enterbung genannte Grund der Auswanderung
kann daher nach der allgemeinen Lebenserfahrung nur vor dem Hintergrund der oben ausführlich dargestellten
judenfeindlichen Bestimmungen, die auf eine faktische Enteignung der auswandernden Juden abzielten,
eingeordnet werden. Als Grund für die Enterbung ist daher die Annahme des Erblassers zu sehen, dass sein
Neffe durch seine Emigration die Erbschaft praktisch nicht hätte erhalten können.
bb) Aus dem Testament ergibt sich der Wunsch des Erblassers, in erster Linie seine favorisierten Verwandten
in Breslau zu begünstigen. Dies folgt daraus, dass der Erblasser statt seines Neffen seine Schwester C. G. als
Erbin eingesetzt hat. Bei dieser Erbeinsetzung hat der Erblasser auch den Fall ihres Versterbens berücksichtigt
und deshalb eine Ersatzerbeneinsetzung vorgenommen („Sollte diese nicht mehr am Leben sein, ...“). Die
jüdische Gemeinde ist lediglich Ersatzerbin. Denkt man diese Zielsetzung des Erblassers zu Ende, so hätte der
Erblasser auf eine Enterbung verzichtet, wenn er gewusst hätte, dass in wenigen Jahren keine rechtlichen
Hindernisse mehr bestehen, dass sein ausgewanderter Neffe in den vollen Genuss der Erbschaft kommt.
d) Dieses Auslegungsergebnis findet eine hinreichende Stütze im Testament. Die Anwendung der
Andeutungstheorie muss im Bereich der ergänzenden Testamentsauslegung berücksichtigen, dass weder für
das Ergebnis der ergänzenden Auslegung noch für den hypothetischen Willen im Testament eine Andeutung
verlangt werden kann, weil die ergänzende Testamentsauslegung voraussetzt, dass der Erblasser die spätere
Entwicklung gerade nicht vorhergesehen hat (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 10. November 2008 - 2 Wx 38/08,
juris Rn. 12; MüchKommBGB/Leipold, 7. Aufl. § 2084 Rn. 94). Dem Formerfordernis ist deshalb bereits dann
Rechnung getragen, wenn sich für die Willensrichtung des Erblassers, seine Motivation oder Zielsetzung, ein -
auch noch so geringer - Anhaltspunkt oder ein - noch so unvollkommener - Ausdruck aus dem Testament selbst
ergibt (OLG Köln, Beschluss vom 10. November 2008 - 2 Wx 38/08, juris Rn. 12; BayObLG, Beschluss vom 21.
April 1988 - BReg 1 Z 31/87, juris Rn. 16; Horn/Kroiß, Testamentsauslegung 2. Aufl. § 2 Rn. 112; Hammann,
aus Gründen der Verfolgung ihren wirklichen Willen nicht offenbaren konnten BGH, Urteile vom 14. April 1976 -
IV ZR 61/74,
sich aus der Erbeinsetzung der Schwester C. G. nach der Emigration seines Neffen und der Berücksichtigung
der jüdischen Gemeinde nur als Ersatzerbin, dass der Erblasser in erster Linie einen Erben aus dem Kreis
seiner ihm nahestehenden Verwandten in Breslau haben wollte und es ihm nicht darum ging, in erster Linie die
jüdische Gemeinde zu bedenken.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf
2. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 70 Absatz 2 FamFG sind nicht erfüllt.
Weder hat die vorliegende Sache grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Die
Entscheidung des Senats beruht auf einer Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls auf der
Grundlage der höchstrichterlich anerkannten Grundsätze zur Auslegung letztwilliger Verfügungen.
3. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 40 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 GNotKG. Den Wert des
Nachlasses zum Zeitpunkt des Erbfalls bemisst der Senat nach der Mitteilung des Testamentsvollstreckers Dr.
H. H. vom 20. August 1940 mit 290.000 RM. Dies ergibt umgerechnet 1.189.000 Euro (zur Umrechnung siehe
Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 5. August 2016 WD
4-3000-096/16 und Tabelle der Deutschen Bundesbank zur Umrechnung https://www.bundesbank.de/resource
/blob/615162/a52b231886b66bdaaf90f26fa12cb335/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-indeutschen-
waehrungen-data.pdf).
Entscheidung, Urteil
Gericht:OLG Karlsruhe
Erscheinungsdatum:30.09.2019
Aktenzeichen:11 W 114/17 (Wx)
Rechtsgebiete:
Erbeinsetzung, Vor- und Nacherbfolge
Vermächtnis, Auflage
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
BGB §§ 133, 138 Abs. 1, 1937, 2082 Abs. 3, 2195; TestG § 48 Abs. 2; FamFG § 26; ZPO § 291