Anfechtbarkeit von Beschlüssen einer Aktiengesellschaft; Verstoß gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen
letzte Aktualisierung: 16.10.2023
BGH, Versäumnisurt. v. 11.7.2023 – II ZR 98/21
AktG §§ 241, 243 Abs. 1
Anfechtbarkeit von Beschlüssen einer Aktiengesellschaft; Verstoß gegen
körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen
a) Beschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen
verstoßen und bei denen die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht
eingehalten werden, sind jedenfalls anfechtbar.
b) Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungsund
Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des
Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber
jedermann, keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit
führt.
Entscheidungsgründe:
Die Revision der Kläger hat Erfolg. Der von der Hauptversammlung der
Beklagten am 20. Dezember 2019 zu TOP 9 gefasste Beschluss, mit dem auf
eine Prüfung der Jahresabschlüsse und der Lageberichte für die zum Zeitpunkt
der Beschlussfassung bereits abgeschlossenen Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet
worden ist, ist nichtig, weil er gegen die Satzung der Beklagten verstößt.
Die Entscheidung ergeht durch Versäumnisurteil, da die Beklagte in der mündlichen
Verhandlung trotz rechtzeitiger Ladung zum Termin nicht ordnungsgemäß
vertreten war. Sie beruht aber inhaltlich auf einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urteil
vom 4. April 1962 - V ZR 110/60,
I. Das Berufungsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung,
zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Der Beschluss zu TOP 9 sei weder nichtig noch unwirksam. Die ungeprüft
gebliebenen Jahresabschlüsse seien nicht wegen Verstoßes gegen § 256 Abs. 1
Nr. 2 AktG nichtig, da die Beklagte für die Geschäftsjahre 2016 und früher nicht
gesetzlich zur Prüfung der Jahresabschlüsse durch einen Abschlussprüfer verpflichtet
gewesen sei. Es komme auch nicht darauf an, ob die Hauptversammlung
in der Vergangenheit wirksam eine Änderung der Satzungsbestimmung betreffend
die Durchführung von Abschlussprüfungen beschlossen habe. Eine rückwirkende
Aufhebung oder Durchbrechung von § 21 der Satzung der Beklagten in
der im Zeitpunkt des Beschlusses gültigen Fassung liege nämlich nicht vor. Vielmehr
habe die Hauptversammlung nur darüber abzustimmen gehabt, wie im
Nachhinein mit dem Jahre zurückliegenden Versäumnis des Vorstands und des
Aufsichtsrats, § 21 nicht eingehalten zu haben, umzugehen sei. Die Entscheidung,
die Prüfung der Jahresabschlüsse vor 2017 nicht nachzuholen, sei dabei
nicht zu beanstanden. Die Nachholung wäre kostenaufwändig und erscheine insbesondere
nach Prüfung der Jahresabschlüsse für 2017 und 2018 entbehrlich.
Die damaligen Leitungsorgane seien nicht mehr im Unternehmen tätig und könnten
den Prüfern keine ergänzenden Informationen zu den weit zurückliegenden
Zeiträumen zur Verfügung stellen. Offensichtlich habe kein Gesellschaftsorgan
seinerzeit Anlass gesehen, die gegen die Satzung verstoßende Praxis zu beanstanden.
Folglich habe der angegriffene Beschluss keinen eigenen Regelungsgehalt.
II. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Allerdings geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass die
ungeprüft gebliebenen Jahresabschlüsse nicht wegen Verstoßes gegen § 256
Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig sind und daher der zu TOP 9 beschlossene Verzicht auf
die Abschlussprüfung nicht gesetzeswidrig ist.
nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im maßgebenden Zeitraum für
die Beklagte nur satzungsmäßig bestehende Prüfungspflicht nicht anwendbar.
2. Der Beschluss zu TOP 9 ist jedenfalls infolge der Anfechtung durch die
Kläger für nichtig zu erklären, weil er gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 der Satzung der
Beklagten in der im Zeitpunkt des Beschlusses gültigen Fassung (im Folgenden:
§ 21 aF) verstößt (§ 243 Abs. 1 AktG). Die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage
ist zulässig und begründet.
a) Die Anfechtungsklage ist gemäß
nämlich binnen eines Monats nach der Beschlussfassung, erhoben worden
und richtet sich gemäß
gemäß
vertreten wird. Die Kläger sind als Aktionäre gemäß
da sie in der Hauptversammlung der Beklagten vom 20. Dezember
2019 ordnungsgemäß vertreten waren und gegen den angegriffenen Beschluss
Widerspruch zur Niederschrift des Notars erklärt haben.
b) Der Beschluss zu TOP 9 verstößt gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 aF der Satzung
der Beklagten. Danach hat der Vorstand in den ersten drei Monaten des
Geschäftsjahres Jahresabschluss sowie Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer
vorzulegen. Mit dem angegriffenen Beschluss zu TOP 9 wird im
Widerspruch dazu auf eine Abschlussprüfung für die Geschäftsjahre vor 2017
verzichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verstößt der Hauptversammlungsbeschluss
damit inhaltlich gegen die Satzung und erschöpft sich
nicht darin zu entscheiden, wie nachträglich mit dem Jahre zurückliegenden Verstoß
gegen § 21 aF der Satzung durch die Verwaltung umgegangen werden
sollte.
An der Satzungsverletzung ändert sich nichts dadurch, dass der Vorstand
der Beklagten eine satzungswidrige Praxis etabliert hatte, indem er Jahresabschluss
und Lagebericht entgegen § 21 Abs. 1 Satz 1 aF der Satzung nicht dem
Abschlussprüfer vorgelegt hat. Denn das satzungswidrige Verhalten des Vorstands
bleibt ohne Auswirkung auf die Verbindlichkeit oder den Inhalt der geltenden
Satzung. Die Satzung kann nicht faktisch geändert werden (vgl. BeckOGK
AktG/Holzborn, Stand 1.7.2022, § 179 Rn. 57; Koch, AktG, 17. Aufl., § 179 Rn. 9;
MünchKommAktG/Stein, 5. Aufl., § 179 Rn. 44 mwN; Strohn in Henssler/Strohn,
GesR, 5. Aufl.,
GmbHG § 53 Rn. 86 ff.).
Die zeitgleich auf der Hauptversammlung vom 20. Dezember 2019 beschlossene
Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten kann bereits deshalb
keinen Einfluss auf die vorliegende Beschlussprüfung haben, weil diese sich ausdrücklich
nur auf zukünftige Geschäftsjahre bezog.
c) Der Verzicht auf die Abschlussprüfungen für die Jahre vor 2017 ist nicht
unter dem Gesichtspunkt einer - durch den mit satzungsändernder Mehrheit gefassten
Beschluss zu TOP 9 legitimierten - sog. punktuellen Satzungsdurchbrechung
wirksam.
aa) Eine einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung (begriffsprägend
Ueberfeldt, Satzungsänderung und Satzungsdurchbrechung im Vereinsrecht
und Aktienrecht, 1934, S. 9) ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
im Grundsatz auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen
einer Satzungsänderung möglich, wenn sie sich auf eine punktuelle Regelung
beschränkt, bei der sich die Wirkung des Beschlusses in der betreffenden Maßnahme
erschöpft (BGH, Urteil vom 20. August 2019 - II ZR 121/16, ZIP 2019,
1805 Rn. 24; vgl. schon BGH, Urteil vom 25. Januar 1960 - II ZR 22/59,
aber anfechtbar (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2002 - II ZR 69/01,
Rn. 17;
OLG Frankfurt,
2009 - II ZR 185/07,
- II ZR 78/17,
bei denen die Abweichung von der Satzung Dauerwirkung entfaltet,
sind hingegen nichtig, wenn die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften
nicht eingehalten werden (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 1981
- II ZR 25/80,
jeweils zur GmbH).
bb) Sowohl das Bedürfnis, neben der Satzungsänderung (
und der Satzungsverletzung (§ 243 Abs. 1 AktG) die Rechtsfigur der Satzungsdurchbrechung
zu erhalten, als auch die Unterscheidung zwischen punktuell und
zustandsbegründend werden insbesondere für das Aktienrecht in Frage gestellt
(vgl. ausführlich zum Meinungsstand Koch, AktG, 17. Aufl., § 179 Rn. 7 ff; zum
Meinungsstand in der GmbH vgl. Hoffmann/Bartlitz in Michalski/Heidinger/
Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., § 53 Rn. 44 ff., 57 ff.). Einer näheren Auseinandersetzung
damit bedarf es vorliegend angesichts der zulässig erhobenen
Anfechtungsklage nicht. Denn für die Aktiengesellschaft wird nach ganz herrschender
Auffassung jedenfalls die Anfechtbarkeit, wenn nicht bereits die Nichtigkeit
bzw. Unwirksamkeit eines wie hier gegen eine körperschaftsrechtliche
Satzungsbestimmung verstoßenden und nicht in das Handelsregister eingetragenen
Hauptversammlungsbeschlusses angenommen. Ist die Anfechtungsklage
zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage
verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit
des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung
für und gegenüber jedermann (BGH, Urteil vom 26. Januar 2021
- II ZR 391/18,
zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt (vgl. schon BGH, Urteil
vom 25. November 2002 - II ZR 69/01,
III. Die Berufungsentscheidung ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1
ZPO). Der Senat kann selbst in der Sache entscheiden, da die Aufhebung nur
wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte
Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist
(§ 563 Abs. 3 ZPO).
IV. Rechtsbehelfsbelehrung:
Gegen dieses Versäumnisurteil kann die säumige Partei innerhalb einer
Notfrist von zwei Wochen, die mit der Zustellung des Versäumnisurteils beginnt,
schriftlich Einspruch durch eine von einer beim Bundesgerichtshof zugelassenen
Rechtsanwältin oder einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt
unterzeichnete Einspruchsschrift beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a,
76133 Karlsruhe (Postanschrift: 76125 Karlsruhe) einlegen.
Entscheidung, Urteil
Gericht:BGH
Erscheinungsdatum:11.07.2023
Aktenzeichen:II ZR 98/21
Rechtsgebiete:
Aktiengesellschaft (AG)
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
AktG §§ 241, 243 Abs. 1