BGH 23. März 2023
V ZR 97/21
BGB §§ 906, 1004

Abprallen von Schnee von einem Nachbargebäude als nur unwesentliche Beeinträchtigung

letzte Aktualisierung: 1.6.2023
BGH, Urt. v. 23.3.2023 – V ZR 97/21

BGB §§ 906, 1004
Abprallen von Schnee von einem Nachbargebäude als nur unwesentliche Beeinträchtigung

Das Abprallen von Schnee an einer baurechtlich genehmigten Grenzwand stellt zwar wie eine von
einer Grenzbebauung ausgehende Lichtreflexion eine positive Einwirkung auf das
Nachbargrundstück dar, beeinträchtigt es aber regelmäßig nur unwesentlich im Sinne von § 906 Abs. 3
BGB. Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb angezeigt, weil das Dach des auf dem
Nachbargrundstück errichteten Gebäudes nach den maßgeblichen DIN-Normen erst infolge der
Grenzbebauung einer statischen Ertüchtigung bedarf.

Entscheidungsgründe:

I.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts kommt prinzipiell ein Anspruch analog
§ 906 Abs. 2 Satz 2 BGB sowie gemäß § 823 Abs. 2 i.V.m. § 907 BGB auf
bäudes in Betracht. Die Klägerin habe aber nicht dargelegt, dass das Tankstellendach
infolge des Neubaus nicht mehr den statischen Anforderungen entspreche.
Zudem sei die Höhe des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs
nicht hinreichend substantiiert. Das 40 Jahre alte Dach erfahre durch die gewünschte
statische Ertüchtigung eine wirtschaftliche Aufwertung, zu deren Höhe
es an Vortrag der Klägerin fehle. Ebenso wenig sei vorgetragen, dass die Statik
allein aufgrund der baulichen Maßnahme des Beklagten zu ertüchtigen sei und
nicht ohnehin einer Erneuerung oder Anpassung bedürfe.

II.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung jedenfalls im Ergebnis
stand.

1. Die angegriffene Entscheidung ist allerdings nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Zu Recht rügt die Revision, dass das Berufungsgericht beweisbewehrten
Sachvortrag der Klägerin durch seine Annahme übergeht, es fehle Vortrag
zum maßgeblichen Vergleich der Schneelastverhältnisse unmittelbar vor und
nach Errichtung des Erweiterungsbaus. Tatsächlich hat die Klägerin mit Schriftsatz
vom 26. Februar 2021 statische Nachweise für das Flachdach des Tankstellengebäudes
vorgelegt und hierzu ausgeführt, dass es vor Errichtung des Neubaus
die maßgeblichen DIN-Vorschriften nicht gegeben habe, so dass keine zusätzlichen
statischen Anforderungen zu beachten gewesen seien. Auf den Hinweisbeschluss
des Berufungsgerichts vom 5. März 2021 hat sie ergänzend vorgetragen,
dass erst zum Zeitpunkt der Errichtung des Neubaus der Ansatz der
Schneelast nach den dann gültigen Normen erforderlich geworden sei und Beweis
für ihre Behauptung angetreten, vor Errichtung des Neubaus sei das Tankstellengebäude
dauerhaft und uneingeschränkt standsicher gewesen, durch
sachverständiges Zeugnis eines Statikers und durch Sachverständigengutachten.
Der Vortrag ist erkennbar dahin zu verstehen, dass bis zum Baubeginn auf
dem Grundstück des Beklagten alle statischen Anforderungen erfüllt waren und
erst durch die vor Errichtung des Neubaus in Kraft getretenen Normen andere
statische Anforderungen entstanden sind. Weiterer Vortrag war nicht zu halten.

b) Ebenfalls rechtsfehlerhaft nimmt das Berufungsgericht an, es fehle an
einer Substantiierung des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs, da die
Klägerin zur Höhe der wirtschaftlichen Aufwertung des 40 Jahre alten Daches
durch die gewünschte statische Ertüchtigung nicht vorgetragen habe. Das Berufungsgericht
verkennt insoweit, dass der Schädiger bzw. Störer für Gesichtspunkte
der Vorteilsausgleichung darlegungs- und beweisbelastet ist (vgl. Senat,
Urteil vom 18. Dezember 2015 - V ZR 55/15, NJW-RR 2016, 588 Rn. 18), welche
im Rahmen des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs bei der Bemessung
der nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung auszugleichenden
Nachteile (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 11. Juni 1999 - V ZR 377/98, BGHZ 142,
66, 70 f.) ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. Senat, Urteil vom 14. September
2001 - V ZR 291/00, NJOZ 2001, 2195, 2196).

c) Schließlich hat die Klägerin vorgetragen, dass die Statik allein aufgrund
der baulichen Maßnahme des Beklagten einer Ertüchtigung bedarf. Auf der
Grundlage dieses Vortrags ist zugleich ausgeschlossen, dass sie unabhängig
von dem Bauvorhaben des Beklagten einer Erneuerung oder Anpassung bedurft
hätte. Weiteren Vortrag musste die Klägerin entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
hierzu nicht halten.

2. Diese Rechtsfehler verhelfen der Revision gleichwohl nicht zum Erfolg,
weil sich der angegriffene Beschluss aus anderen Gründen als richtig darstellt
(§ 561 ZPO). Das Berufungsgericht hat die Berufung im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.

a) Selbst wenn infolge des Neubaus auf dem Grundstück des Beklagten
eine statische Dachertüchtigung erforderlich wäre, stünde der Klägerin unter keinem
rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Zahlung der hierfür notwendigen
Kosten zu.

aa) Ein Ausgleichsanspruch ergibt sich nicht aus § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB.
Nach dieser Vorschrift kann der Eigentümer, der nach § 906 Abs. 2 Satz 1 BGB
eine wesentliche Immission im Sinne von § 906 Abs. 1 Satz 1 BGB zu dulden
hat, einen angemessenen Ausgleich in Geld verlangen, wenn die Einwirkung die
ortsübliche Nutzung seines Grundstücks über das zumutbare Maß hinaus beeinträchtigt.

(1) Voraussetzung für einen Ausgleichsanspruch ist unter anderem eine
von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkung.

(a) Unter für einen Ausgleichsanspruch erforderlichen Einwirkungen sind
nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur diejenigen zu verstehen, die
positiv die Grundstücksgrenze überschreitende, sinnlich wahrnehmbare Wirkungen
entfalten (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 1983 - V ZR 166/82, BGHZ 88,
344, 345 ff.; Urteil vom 22. Februar 1991 - V ZR 308/89, BGHZ 113, 384, 386;
Urteil vom 11. Juli 2003 - V ZR 199/02, NZM 2003, 727). Nach gefestigter höchstrichterlicher
Rechtsprechung, die auf das Reichsgericht zurückgeht, zählen daher
sog. negative Einwirkungen nicht zu den abwehrfähigen Einwirkungen im
Sinne von § 906 BGB (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2015 - V ZR 229/14, NZM
2015, 793 Rn. 6). Diese werden durch eine Nutzung des Nachbargrundstücks
verursacht, die sich auf dessen Fläche beschränkt und das betroffene Grundstück
nur mittelbar beeinträchtigt. So stellt das Abhalten von Wind durch ein Gebäude
keine unzulässige Einwirkung auf das Nachbargrundstück dar (vgl. RG
Gruchot 58 [1914] 1028). Der Senat hat wiederholt entschieden, dass negative
Einwirkungen durch das Abhalten von natürlichen Zuführungen wie etwa Licht
und Luft - beispielsweise durch Anpflanzungen - nicht nach §§ 905, 906, 907,
1004 BGB abgewehrt werden können (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 1983
- V ZR 166/82, BGHZ 88, 344, 345 mwN). Die Abschattung von Funkwellen durch
ein Hochhaus hat der Senat ebenfalls als nicht von § 906 BGB erfasste negative
Einwirkung angesehen (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 1983 - V ZR 166/82,
BGHZ 88, 344, 347; Urteil vom 10. Juli 2015 - V ZR 229/14, NZM 2015, 793
Rn. 12 ff.).

(b) Die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Einwirkungen
ist auf Kritik gestoßen. Da erstere den Eigentümer mindestens genauso beeinträchtigen
könnten wie letztere, seien negative Einwirkungen den positiven jedenfalls
dann gleichzustellen, wenn sie zu unzumutbaren Beeinträchtigungen
führten (vgl. PWW/Lemke, BGB, 17. Aufl., § 903 Rn. 5 sowie § 906 Rn. 9;
Wenzel, NJW 2005, 241, 247). Auch wird auf Abgrenzungsschwierigkeiten verwiesen
(vgl. Stresemann in Festschrift für Wenzel, 2005, S. 425, 432 ff.). Jedenfalls
müsse für bestimmte Fallgruppen die Einordnung als negative Immission
überdacht werden (vgl. MüKoBGB/Brückner, 9. Aufl., § 906 Rn. 56).

(c) Richtigerweise ist jedenfalls das Abprallen von Schnee an einem auf
dem Nachbargrundstück errichteten Gebäude als positive Einwirkung im Sinne
von § 906 BGB einzuordnen (vgl. MüKoBGB/Brückner, 9. Aufl., § 906 Rn. 56).
Zwar hält sich eine Grenzbebauung in den räumlichen Grenzen des Grundstücks,
so dass es für deren Errichtung keiner Rechtfertigung nach § 906 Abs. 1 BGB
bedarf. Das Abprallen von Schnee stellt sich nur als mittelbare Folge der zulässigen
baulichen Nutzung des Grundstücks dar. Wie der Prozessbevollmächtigte
der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zutreffend ausgeführt
hat, erscheint es aber wenig überzeugend, physikalische Vorgänge, die auf
naturgesetzlicher Wirkung beruhen, generell von den Einwirkungen im Sinne von
§ 906 Abs. 1 BGB auszunehmen. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt,
dass zu den positiven Einwirkungen auch die eine Blendung verursachende Reflexion
von Licht durch Photovoltaikanlagen oder glasierte Dachziegel zählt (vgl.
OLG Stuttgart, MDR 2009, 1099; OLG Karlsruhe, NJOZ 2014, 1010, 1011; OLG
Düsseldorf, NJOZ 2018, 652 Rn. 12; OLG Hamm, MDR 2019, 1311; Grüneberg/
Herrler, BGB, 82. Aufl., § 1004 Rn. 9; Staudinger/Roth, BGB [2020], § 906
Rn. 123; a.A. OLG Zweibrücken, MDR 2001, 984, 985). Das trifft zu. Denn in
diesen Fällen werden dem beeinträchtigten Grundstück nicht nur Vorteile entzogen.
Die elektromagnetischen Wellen sind vielmehr Einwirkungen im Sinne von
§ 906 Abs. 1 BGB, nämlich positiv die Grundstücksgrenze überschreitende, sinnlich
wahrnehmbare Wirkungen. Dementsprechend stellt das Abprallen von
Schnee an einer Grenzwand wie eine von einer Grenzbebauung ausgehende
Lichtreflexion eine grenzüberschreitende Einwirkung auf das Nachbargrundstück
dar; im einen wie im anderen Fall geht die Einwirkung von der auf dem Nachbargrundstück
befindlichen Grenzbebauung aus. Soweit der Senat das für die Reflexion
von Fernsehwellen anders gesehen hat (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober
1983 - V ZR 166/82, BGHZ 88, 344, 348), hält er daran nicht fest.

2) Der Klägerin steht gleichwohl kein Ausgleichsanspruch zu, weil von
dem Neubau des Beklagten abprallender Schnee die Benutzung des Grundstücks
der Klägerin nur unwesentlich beeinträchtigt. Da es insoweit keiner weiteren
Feststellungen bedarf, kann der Senat die hierzu erforderliche Würdigung
selbst vornehmen.

(a) Nach § 903 BGB ist der Eigentümer einer Sache berechtigt, mit dieser
nach Belieben zu verfahren. Die Rechte aus dem Eigentum haben nur insoweit
zurückzutreten, als das Gesetz oder Rechte Dritter der Ausübung der Rechte aus
dem Eigentum entgegenstehen (§ 903 Satz 1, § 1004, § 986 Abs. 1 Satz 1 BGB;
vgl. Senat, Urteil vom 16. April 2010 - V ZR 171/09, NJW 2010, 1808 Rn. 7).
§ 906 BGB ist Teil des bürgerlich-rechtlichen Nachbarrechts der §§ 905 bis 924
BGB. Er ist ein Element des Interessenausgleichs, der für eine sachgerechte
Nutzung von Grundstücken im nachbarlichen Raum unerlässlich ist (vgl. Senat,
Urteil vom 12. Dezember 2003 - V ZR 180/03, BGHZ 157, 188, 193). Durch § 906
BGB soll der bei der Nutzung eines Grundstücks im Verhältnis zu den benachbarten
Grundstücken möglicherweise auftretende Konflikt in einen vernünftigen
Ausgleich gebracht werden. In der Regelung findet die Situationsgebundenheit
des Grundeigentums ihren Ausdruck, durch die das nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis
und die hieraus erwachsenden wechselseitigen Rücksichtnahmepflichten
ihre Prägung erfahren (vgl. Senat, Urteil vom 18. September 2009
- V ZR 75/08, NJW 2009, 3787 Rn. 19). Zu diesem Zweck enthält die Vorschrift
eine Beschränkung der Eigentümerrechte nach § 903 BGB (vgl. Senat, Urteil vom
12. Dezember 2003 - V ZR 180/03, BGHZ 157, 188, 193).

(b) Gemäß § 906 Abs. 1 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks von
einem anderen Grundstück ausgehende Immissionen allerdings insoweit nicht
verbieten, als die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nur unwesentlich
beeinträchtigt. Ein Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB setzt
daher voraus, dass eine wesentliche Einwirkung nach § 906 Abs. 2 Satz 1 BGB
geduldet werden muss (vgl. Senat, Urteil vom 27. Oktober 2006 - V ZR 2/06,
NJW-RR 2007, 168 Rn. 13). Die Duldung unwesentlicher Beeinträchtigungen ist
in Einschränkung der in §§ 903, 1004 BGB getroffenen Regelungen erforderlich,
um den Nachbarn unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Interessen eine
möglichst weitgehende wirtschaftlich sinnvolle Nutzung ihrer Grundstücke zu er-
möglichen (vgl. MüKoBGB/Brückner, 9. Aufl., § 906 Rn. 68). Wann eine wesentliche
Beeinträchtigung vorliegt, beurteilt sich nach dem Empfinden eines verständigen
Durchschnittsmenschen und dem, was diesem unter Würdigung anderer
öffentlicher und privater Belange zuzumuten ist (Senat, Urteil vom 27. Oktober
2006 - V ZR 2/06, NJW-RR 2007, 168 Rn. 8; Urteil vom 14. November 2003
- V ZR 102/03, BGHZ 157, 33, 43), wobei Natur und Zweckbestimmung des von
der Beeinträchtigung betroffenen Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit
eine entscheidende Rolle spielen (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 2005
- V ZR 169/04, NJW-RR 2006, 235, 237). Ob die Benutzung eines Grundstücks
wesentlich oder nur unwesentlich beeinträchtigt ist, hängt maßgebend davon ab,
in welchem Ausmaß die Benutzung nach der tatsächlichen Zweckbestimmung
des Grundstücks gestört wird (vgl. Senat, Urteil vom 2. März 1984 - V ZR 54/83,
BGHZ 90, 255, 260 f.). Daneben können wertende Momente, etwa des Nachbarrechts
und des öffentlichen Rechts, in die Beurteilung einbezogen werden (vgl.
Urteil vom 14. November 2003 - V ZR 102/03, BGHZ 157, 33, 43; Urteil vom
20. November 1992 - V ZR 82/91, BGHZ 120, 239, 255).

(c) Das Abprallen von Schnee an einer baurechtlich genehmigten Grenzwand
stellt nach diesen Grundsätzen zwar wie eine von einer Grenzbebauung
ausgehende Lichtreflexion eine positive Einwirkung auf das Nachbargrundstück
dar, beeinträchtigt es aber regelmäßig - und so auch hier - nur unwesentlich im
Sinne von § 906 Abs. 1 BGB.

(aa) Bei entsprechenden Witterungsbedingungen ist hier allerdings mit einer
erhöhten Schneelast auf dem Tankstellendach der Klägerin zu rechnen, da
der vom Gebäude des Beklagten abprallende Schnee dorthin geraten kann. Die
Nutzung des Grundstücks zum Betrieb einer Tankstelle wird jedoch nicht unmittelbar
eingeschränkt. Die Klägerin betreibt auch nach Errichtung des Neubaus
ihre Tankstelle weiter. Die Errichtung des Neubaus auf der Grundstücksgrenze
ist ferner von einer Baugenehmigung gedeckt. Der Beklagte nutzt sein Grundstück
in baurechtlich zulässiger Weise, insbesondere was die Lage des Baukörpers
an der Grundstücksgrenze und dessen Höhe anbelangt. Zwar hat die Legalisierungswirkung
einer Baugenehmigung keinen Einfluss auf das Bestehen von
Ansprüchen aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 906 BGB, weil die Baugenehmigung nach
den Landesbauordnungen unbeschadet privater Rechter Dritter ergeht und deshalb
keine privatrechtsgestaltende Ausschlusswirkung haben kann (vgl. Senat,
Urteil vom 28. Januar 2022 - V ZR 99/21, NJW 2022, 2400 Rn. 23). Gleichwohl
fehlt es bei einer zulässigen baulichen Nutzung des Grundstücks in aller Regel
an der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks, da sich die
Nutzung des Grundstücks, von dem die Einwirkung ausgeht, im Rahmen ordnungsgemäßer
Bewirtschaftung hält. Weil die rechtlich zulässige Bebauung
eines Grundstücks zu den sozialadäquaten Formen der Grundstücksnutzung gehört,
sind daraus herrührende Einwirkungen jedenfalls in gewissen Grenzen zumutbar
und in diesem Rahmen als unwesentliche Beeinträchtigung des benachbarten
Grundstücks im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB anzusehen. Die Klägerin
musste die Errichtung des Neubaus dulden, weil der Beklagte von seinem Recht
Gebrauch gemacht hat, mit seinem Grundstück nach Belieben zu verfahren
(§ 903 BGB). Eine Pflicht, von der Errichtung des Hauses im Interesse der Klägerin
abzusehen, bestand nicht.

Wollte man bei einer solchen Fallkonstellation gleichwohl eine wesentliche
Beeinträchtigung annehmen, hätte der Eigentümer mangels Duldungspflicht gemäß
§ 906 Abs. 1 BGB gegen jede baurechtlich zulässige Grenzbebauung des
Nachbargrundstücks, welche das eigene Gebäude überragt, einen primären Abwehranspruch
gemäß § 1004 Abs. 1 BGB. Eine Grenzbebauung auf dem Nachbargrundstück
wäre damit weitgehend ausgeschlossen. Darüber hinaus könnte
ein Grundstückseigentümer sogar die Beseitigung eines Bestandsgebäudes auf
dem Nachbargrundstück verlangen, wenn nachträglich DIN-Normen in Kraft treten,
die eine statische Ertüchtigung des eigenen Gebäudes erfordern. Würde die
Schwelle zur Wesentlichkeit so niedrig angesetzt, wäre eine Grenzbebauung im
Ergebnis für alle Grundstückseigentümer mit unwägbareren Risiken verbunden;
hier fiele der Ausgleich der widerstreitenden nachbarlichen Interessen einseitig
zu Lasten des Beklagten aus, da seine Möglichkeit zu einer wirtschaftlich sinnvollen
Grundstücksnutzung stark eingeschränkt wäre.

(bb) Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb angezeigt, weil das Dach
des auf dem Nachbargrundstück der Klägerin errichteten Gebäudes - wovon
nach dem Vortrag der Klägerin revisionsrechtlich auszugehen ist - nach den maßgeblichen
DIN-Normen erst infolge der Grenzbebauung einer statischen Ertüchtigung
bedarf. Die notwendige Dachertüchtigung stellt sich als lediglich mittelbare
Folge der veränderten Schneelasten dar. Das Tankstellengebäude der Klägerin
trägt gleichsam bereits eine Schadensanlage in sich, die sich infolge der erhöhten
statischen Anforderungen verwirklicht. Dass die vorhandene Bebauung die
statischen Vorgaben im Hinblick auf die zu erwartende Schneelast nicht (mehr)
erfüllt, fällt aber jedenfalls dann allein in den Risikobereich des die Anlage unterhaltenden
Grundstückseigentümers, wenn - wie hier - eine Beeinträchtigung
allein durch physikalische Vorgänge eintritt, die auf naturgesetzlicher Wirkung
beruhen. Die Ertüchtigung des Dachs obliegt allein der Klägerin, die als Eigentümerin
des Tankstellengrundstücks Adressatin der in technischen Normen enthaltenen
statischen Anforderungen und für deren Beachtung verantwortlich ist.
bb) Die Klägerin hat ebenfalls keinen Anspruch analog § 906 Abs. 2 Satz
2 BGB. Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2
BGB ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gegeben, wenn
von einem Grundstück im Rahmen privatwirtschaftlicher Benutzung rechtswidrige
Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die der Eigentümer
oder Besitzer des betroffenen Grundstücks nicht dulden muss, aus besonderen
Gründen jedoch nicht gemäß § 1004 Abs. 1, § 862 Abs. 1 BGB unterbinden kann,
sofern er hierdurch Nachteile erleidet, die das zumutbare Maß einer entschädigungslos
hinzunehmenden Beeinträchtigung übersteigen (vgl. Senat, Urteil vom
20. April 1990 - V ZR 282/88, BGHZ 111, 158, 162; Urteil vom 18. September
2009 - V ZR 75/08, NJW 2009, 3787 Rn. 9 jeweils mwN). Da die durch den
abprallenden Schnee ausgehende Einwirkung entsprechend den vorstehenden
Ausführungen jedenfalls nicht wesentlich ist, mangelt es schon an einem für den
nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch erforderlichen Abwehranspruch der Klägerin.

cc) Die Klage bleibt auch unter dem Gesichtspunkt der Unterhaltung einer
gefahrdrohenden Anlage erfolglos (§ 823 Abs. 2, § 907 Abs. 1 BGB). Zwar ist
§ 907 Abs. 1 BGB ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB (vgl. Senat,
Urteil vom 16. Februar 2001 - V ZR 422/99, NJW-RR 2001, 1208, 1209; RGZ
145, 107, 115). Die Voraussetzungen dieser Norm sind aber nicht gegeben. Der
Eigentümer eines Grundstücks kann sich grundsätzlich gegen die von einem
Nachbargrundstück ausgehenden Einwirkungen einer Anlage, die sein Eigentum
beeinträchtigen, zur Wehr setzen. Inhalt und Umfang dieses Anspruchs im Einzelnen
ergeben sich aber aus den allgemeinen gesetzlichen Regelungen über
Eigentum und Nachbarrecht, insbesondere den §§ 903, 905, 906 BGB. Nur in
dem hiernach gegebenen Rahmen kann der Eigentümer sich gegen Beeinträchtigungen
zur Wehr setzen (vgl. Senat, Urteil vom 12. November 1999 - V ZR
229/98, NJW-RR 2000, 537 f.). Daher scheidet ein Unterlassungs- bzw. Beseitigungsanspruch
des Eigentümers gemäß § 907 Abs. 1 BGB aus, wenn er - wie
hier die Klägerin - die Einwirkung zu dulden hat, weil sie unwesentlich ist.

dd) Schließlich lässt sich ein Ausgleichsanspruch der Klägerin nicht aus
dem nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis herleiten. Die Rechte und
Pflichten von Grundstücksnachbarn ergeben sich in erster Linie aus den Bestimmungen
des Nachbarrechts und haben dort eine ins einzelne gehende Sonderregelung
erfahren (vgl. Senat, Urteil vom 22. Februar 1991 - V ZR 308/89, BGHZ
113, 384, 389). Müssen positive Einwirkungen - wie hier - gemäß § 906 Abs. 1
BGB geduldet werden, sind sie rechtmäßig, und das Gesetz sieht einen Ausgleichsanspruch
nicht vor; diese gesetzliche Regelung kann nicht mithilfe des
nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses umgangen oder erweitert werden
(vgl. jeweils zum Notwegrecht Senat, Urteil vom 6. Mai 2022 - V ZR 50/21, NJWRR
2022, 1381 Rn. 17; Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 155/18, NJW 2020,
1360 Rn. 19).

b) Mangels Hauptforderung besteht auch die geltend gemachte Zinsforderung
nicht. Schließlich bleibt der auf die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten
für die entstandenen und noch entstehenden Kosten einer statischen
Dachertüchtigung gerichtete Antrag erfolglos, weil der Beklagte bereits dem
Grunde nach nicht zum Ersatz verpflichtet ist.

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 Halbsatz 1
ZPO.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

23.03.2023

Aktenzeichen:

V ZR 97/21

Rechtsgebiete:

Sachenrecht allgemein
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Normen in Titel:

BGB §§ 906, 1004