Endgültige Herstellung einer Erschließungsanlage
letzte Aktualisierung: 13.12.2019
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.10.2019 – 15 B 1090/19
KAG NRW §§ 12 Abs. 1 Nr. 2 lit. b u. 4 lit. b, 47; BauGB §§ 132 Nr. 4, 133 Abs. 2 S. 1
Endgültige Herstellung einer Erschließungsanlage
1. Die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage beurteilt sich nach der gemäß § 132 Nr. 4
BauGB in die Erschließungsbeitragssatzung aufzunehmenden Herstellungsregelung. Eine
Anbaustraße ist erschließungsbeitragsrechtlich erstmalig endgültig hergestellt, wenn sie zum ersten
Mal die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für die nicht flächenmäßigen
Teileinrichtungen) und dem (dieses bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen ergänzenden)
Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten
technischen Ausbauprogramm entsprechen.
2. Ein Bauprogramm kann formlos aufgestellt werden und sich (mittelbar) aus Beschlüssen des Rats
oder seiner Ausschüsse sowie den zugrunde liegenden Unterlagen oder sogar aus der
Auftragsvergabe ergeben.
3. Das Bauprogramm kann so lange mit Auswirkungen auf das Erschließungsbeitragsrecht geändert
werden, wie die Straße insgesamt noch nicht einem für sie aufgestellten Bauprogramm entspricht.
An die Änderung des Bauprogramms sind keine anderen formellen Anforderungen zu stellen als an
seine Aufstellung.
4. Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schützt unter Abwägung des staatlichen
Interesses an der vollständigen Durchsetzung von Geldleistungspflichten das Interesse der Bürger,
irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend
disponieren zu können. Die verfassungsrechtliche Grenze der Beitragserhebung setzt keinen
Vertrauenstatbestand voraus, sondern knüpft allein an den seit der Entstehung der Vorteilslage
verstrichenen Zeitraum an.
5. Im Erschließungsbeitragsrecht kommt es für die Entstehung der Vorteilslage als Beginn der Frist
für eine mögliche Inanspruchnahme maßgeblich auf die tatsächliche bautechnische Durchführung
der jeweiligen Erschließungsmaßnahme, nicht jedoch darauf an, ob darüber hinaus auch die
weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der
sachlichen Beitragspflicht vorliegen.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat
gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der
angefochtenen Entscheidung.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage - 17 K 191/18 - gegen die Vorausleistungsbescheide
der Antragsgegnerin vom 20. Dezember 2017 anzuordnen,
zu Recht abgelehnt.
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide rechtfertigen nach
§ 80 Abs. 4 Satz 3 1. Alt. VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur dann,
wenn bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Erfolg des
Rechtsmittelführers im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher als sein Unterliegen ist. Mit
dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage bei der Anforderung von
öffentlichen Abgaben bezweckt der Gesetzgeber die Sicherstellung des stetigen Zuflusses
von Finanzmitteln für die öffentlichen Haushalte, aus deren Aufkommen die Gegenleistung
für die umstrittene Abgabe im Zeitpunkt ihrer Geltendmachung regelmäßig bereits
erbracht oder alsbald zu erbringen ist. Er hat damit für diesen Bereich das öffentliche
Interesse an einem Sofortvollzug generell höher bewertet als das private Interesse an
einer vorläufigen Befreiung von der Leistungspflicht. Dieser gesetzgeberischen Wertung
entspricht es, dass Abgaben im Zweifel zunächst zu erbringen sind und dass das Risiko,
im Ergebnis möglicherweise zu Unrecht in Vorleistung treten zu müssen, den
Zahlungspflichtigen trifft. Unzumutbare, mit dem Gebot der Gewährleistung effektiven
Rechtsschutzes nicht vereinbare Erschwernisse ergeben sich dadurch nicht. Durch eine
vorläufige, zu Unrecht erbrachte Zahlung eintretende wirtschaftliche Nachteile werden
durch die Rückzahlung der Abgabe weitestgehend ausgeglichen; es werden somit keine
irreparablen Verhältnisse geschaffen. Ist im Einzelfall dennoch eine unbillige Härte zu
erwarten, bietet § 80 Abs. 4 Satz 32. Alt. VwGO die Möglichkeit, die Vollziehung
auszusetzen.
Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Dezember 2016 - 15 B 1015/16 -, juris Rn. 8,
und vom 27. Februar 2015 - 15 B 1092/14 -, juris Rn. 3.
Im Aussetzungsverfahren richtet sich die Intensität der gerichtlichen Prüfung des
Streitstoffs nach den Gegebenheiten des vorläufigen Rechtsschutzes. Deshalb können
weder aufwendige Tatsachenfeststellungen getroffen werden noch sind schwierige
Rechtsfragen abschließend zu klären.
Vgl. z. B. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2015 - 15 B 1092/14 -, juris Rn. 4.
Gemessen an diesen Maßstäben legt die Beschwerde ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der angegriffenen Vorausleistungsbescheide im Sinne von § 80 Abs. 4
Satz 3 1. Alt. VwGO nicht dar.
Die Rechtsfolge der Festsetzungsverjährung nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 b), Nr. 4 b) KAG NRW
in Verbindung mit
Beschwerde der Sache nach beruft, ist bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht deswegen
eingetreten, weil die sachliche Beitragspflicht bereits im Jahr 1966 mit der endgültigen
Herstellung der Erschließungsanlage im Sinne des
entstanden wäre.
Die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage beurteilt sich nach der gemäß § 132
Nr. 4 BauGB in die Erschließungsbeitragssatzung aufzunehmenden Herstellungsregelung.
Dabei ist es nicht notwendig, dass in der Satzung selbst eine Flächeneinteilung der
Straßen vorgenommen wird. Der Verzicht auf eine satzungsmäßige Festlegung bezüglich
der flächenmäßigen Teileinrichtungen bedeutet allerdings nicht, dass insoweit keinerlei
Festlegungen erforderlich sind. Andernfalls fehlte es an Anhaltspunkten für die
Beantwortung der Frage, wann eine bestimmte Straße im Sinne des § 133 Abs. 2 Satz 1
BauGB endgültig hergestellt ist. Vielmehr tritt bei Anbaustraßen hinsichtlich der
flächenmäßigen Teileinrichtungen an die Stelle der Satzung bzw. des satzungsmäßigen
Teileinrichtungsprogramms in der Regel das auf eine konkrete Einzelanlage bezogene
Bauprogramm. Dieses bestimmt, welche flächenmäßigen Teileinrichtungen in welchem
Umfang die gesamte Breite der jeweiligen Straße in Anspruch nehmen sollen. Eine
Anbaustraße ist mithin erschließungsbeitragsrechtlich erstmalig endgültig hergestellt,
wenn sie zum ersten Mal die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für
die nicht flächenmäßigen Teileinrichtungen) und dem (dieses bezüglich der
flächenmäßigen Teileinrichtungen ergänzenden) Bauprogramm erforderlichen
Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen
Ausbauprogramm entsprechen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 1995 ‑ 8 C 13.94 -, juris Rn. 19; OVG NRW,
Beschlüsse vom 14. Juli 2017 - 15 A 2321/14 -, juris Rn. 7, und vom 29. September 2015 -
15 A 1163/14 -, juris Rn. 10.
Ein solches Bauprogramm kann formlos aufgestellt werden und sich (mittelbar) aus
Beschlüssen des Rats oder seiner Ausschüsse sowie den zugrunde liegenden Unterlagen
oder sogar aus der Auftragsvergabe ergeben.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Oktober 1995 ‑ 8 C 13.94 -, juris Rn. 19, und vom 18.
Januar 1991 - 8 C 14.89 -, juris Rn. 26; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juli 2017 - 15 A
2321/14 -, juris Rn. 9, und vom 29. September 2015 - 15 A 1163/14 -, juris Rn. 12.
Das Bauprogramm kann solange mit Auswirkungen auf das Erschließungsbeitragsrecht
geändert werden, wie die Straße insgesamt noch nicht einem für sie aufgestellten
Bauprogramm entspricht. An die Änderung des Bauprogramms sind keine anderen
formellen Anforderungen zu stellen als an seine Aufstellung.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Oktober 1995 ‑ 8 C 13.94 -, juris Rn. 19, und vom 18.
Januar 1991 - 8 C 14.89 -, juris Rn. 26.
Bleibt eine Gemeinde beim Ausbau einer Straße hinter dem nach § 133 Abs. 2 Satz 1
BauGB maßgeblichen Bauprogramm zurück, ist es für den Zeitpunkt der erstmaligen
endgültigen Herstellung (und damit für den Beginn der Verjährungsfrist) grundsätzlich
unerheblich, ob es sich bei dieser Abweichung vom Bauprogramm (lediglich) um einen
Minderausbau im Sinne von
des Bebauungsplans handelt. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob das Bauprogramm als
solches erfüllt worden ist.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Juli 2017 - 15 A 2321/14 -, juris Rn. 11.
Gemessen an diesen Maßstäben ist das Verwaltungsgericht bei summarischer Prüfung
überzeugend davon ausgegangen, dass das maßgebliche flächenmäßige Bauprogramm
im Zeitpunkt der Vorausleistungserhebung noch nicht erfüllt war. Danach dürfte das
ursprüngliche Bauprogramm für die Teileinrichtungen Fahrbahn und Gehweg sowie deren
Ausdehnung formlos von der Verwaltung im Jahr 1962 aufgestellt worden sein. Dieses
Bauprogramm wurde durch die Baumaßnahmen der Jahre 1963 bis 1966 offenbar nicht
erfüllt, weil der tatsächliche Ausbau in den vom Verwaltungsgericht im Einzelnen
aufgeführten Hinsichten von der ursprünglichen Planung abweicht. Dabei hat das
Verwaltungsgericht insbesondere auch auf einen Vergleich des Plans von 1962 mit den
Ausbaulageplänen von 2016 abgestellt. Geändert wurde das Ausbauprogramm im Jahr
1986, wobei der durch die Baumaßnahmen der Jahre 1987 und 1988 geschaffene
bauliche Zustand der Erschließungsanlage nach Aktenlage - wie vom Verwaltungsgericht
dargelegt - unverändert von den als flächenmäßiges Bauprogramm anzusehenden
Planungen von 1962 und 1986 divergiert.
Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht hinreichend auseinander. Sie
behauptet lediglich, die Baumaßnahme sei im Jahr 1966 technisch endgültig
abgeschlossen worden, macht aber nicht deutlich, woran sie – außer der inzwischen
verstrichenen Zeit – ihre Annahme, das Bauprogramm sei erfüllt worden, im Einzelnen
knüpft. Offen bleibt auch, welche Relevanz für das Merkmal der erstmaligen endgültigen
Herstellung die Beschwerde ihrem Vorbringen beimisst, das Bauprogramm von 1962 sei
fehlerhaft gewesen, weil unbeachtet geblieben sei, dass die Grundstücke G.---------weg 60
bis 64 einige Zentimeter in den geplanten Gehwegbereich hineingeragt hätten.
Soweit die Beschwerde mit ihrem Vortrag, weder heute noch damals habe die
Antragsgegnerin mit einem Anpassungsbeschluss zu erkennen gegeben, die Anlage sei
noch nicht endgültig hergestellt, den Einwand der Verwirkung, der Treuwidrigkeit bzw. des
Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit
erhebt, greift auch dieser nicht durch.
Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schützt unter Abwägung des
staatlichen Interesses an der vollständigen Durchsetzung von Geldleistungspflichten das
Interesse der Bürger, irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu
müssen und entsprechend disponieren zu können. Die verfassungsrechtliche Grenze der
Beitragserhebung setzt keinen Vertrauenstatbestand voraus, sondern knüpft allein an den
seit der Entstehung der Vorteilslage verstrichenen Zeitraum an.
Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, juris Rn. 16, mit
weiteren Nachweisen; siehe dazu außerdem OVG NRW, Urteil vom 24. November 2017 -
15 A 1812/16 -, juris Rn. 67 ff.
Das Rechtsstaatsprinzip verlangt Klarheit darüber, ob ein Vorteilsempfänger die erlangten
Vorteile durch Beiträge auszugleichen hat, und damit eine für den Beitragsschuldner
konkret bestimmbare Frist. Dieser muss selbst feststellen können, bis zu welchem
Zeitpunkt er mit seiner Heranziehung rechnen muss. Dies wiederum setzt die
Erkennbarkeit des Zeitpunkts voraus, in dem der beitragsrechtliche Vorteil entsteht und die
Frist für eine mögliche Inanspruchnahme zu laufen beginnt.
Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, juris Rn. 54, mit
weiteren Nachweisen.
Im Erschließungsbeitragsrecht kommt es dafür maßgeblich auf die tatsächliche
‑ bautechnische ‑ Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme, nicht jedoch
darauf an, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren
rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen.
Beurteilungsmaßstab hierfür ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige
Anlage. Entscheidend ist, ob diese sowohl im räumlichen Umfang als auch in der
bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch
fertiggestellt ist, d. h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und
sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig
entspricht. Soweit die Entstehung der Beitragspflicht gemäß § 133 Abs. 2 BauGB darüber
hinaus die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung erfordert, wirkt
sich dies nicht auf den Eintritt der Vorteilslage aus. Ungeachtet der fehlenden
Erkennbarkeit jedenfalls der Wirksamkeit der Satzung könnten andernfalls die Erlangung
des Vorteils und die Entstehung der Beitragspflicht zeitlich unbegrenzt zusammenfallen.
Das Gebot der Belastungsklarheit und ‑vorhersehbarkeit liefe dann leer.
Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, juris Rn. 55, mit
weiteren Nachweisen.
Überträgt man diesen Maßgaben auf den zu entscheidenden Fall, ist dem
Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass sich daraus keine ernstlichen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der Vorausleistungsbescheide im Sinne von § 80 Abs. 4 Satz 3 1. Alt.
VwGO ergeben. Denn nach Lage der Dinge kann es nicht nur an rechtlichen
Voraussetzungen der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht wie dem Abschluss des
Grunderwerbs, der planungsrechtlichen Absicherung und der Widmung fehlen, sondern -
wie ausgeführt - auch an tatsächlichen Anforderungen an die Entstehung einer
Vorteilslage wegen der Nichterfüllung des flächenmäßigen Bauprogramms. Die
abschließende Klärung dieses - schwierigen - Fragenkomplexes ist dem
Hauptsacheverfahren vorzubehalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2
GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (
Satz 3 GKG).
Entscheidung, Urteil
Gericht:OVG Münster
Erscheinungsdatum:24.10.2019
Aktenzeichen:15 B 1090/19
Rechtsgebiete:
Sonstiges Steuerrecht
Öffentliches Baurecht
Kommunalrecht
KAG NRW §§ 12 Abs. 1 Nr. 2 lit. b u. 4 lit. b, 47; BauGB §§ 132 Nr. 4, 133 Abs. 2 S. 1