Vermögensausgleich bei Auflösung einer nichtehelichen (faktischen) Lebensgemeinschaft
letzte Aktualisierung: 9.8.2019
EuGH, Urt. v. 6.6.2019 – C-361/18
VO (EG) Nr. 44/2001 Art. 1 Abs. 1 u. 2, Art. 54
Vermögensausgleich bei Auflösung einer nichtehelichen (faktischen) Lebensgemeinschaft
Die Auseinandersetzung einer nichtehelichen (faktischen) Lebensgemeinschaft betrifft keinen
„ehelichen Güterstand“ i. S. d. Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates
vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. (Leitsatz der DNotI-Redaktion)
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a
und von Art. 53 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Ágnes Weil, die ihren Wohnsitz in Ungarn
hat, und Herrn Géza Gulácsi, der seinen Wohnsitz im Vereinigten Königreich hat, über die
Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 für die Zwecke der
Vollstreckung einer gegen Herrn Gulácsi ergangenen rechtskräftigen Entscheidung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 44/2001
In den Erwägungsgründen 16 bis 18 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom
22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) heißt es:
„(16) Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Gemeinschaft rechtfertigt, dass
die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, außer im Falle der Anfechtung, von
Rechts wegen, ohne ein besonderes Verfahren, anerkannt werden.
(17) Auf Grund dieses gegenseitigen Vertrauens ist es auch gerechtfertigt, dass das Verfahren,
mit dem eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung für vollstreckbar erklärt
wird, rasch und effizient vonstatten geht. Die Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung muss
daher fast automatisch nach einer einfachen formalen Prüfung der vorgelegten Schriftstücke
erfolgen, ohne dass das Gericht die Möglichkeit hat, von Amts wegen eines der in dieser
Verordnung vorgesehenen Vollstreckungshindernisse aufzugreifen.
(18) Zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte muss der Schuldner jedoch gegen die
Vollstreckbarerklärung einen Rechtsbehelf im Wege eines Verfahrens mit beiderseitigem
rechtlichen Gehör einlegen können, wenn er der Ansicht ist, dass einer der Gründe für die
Versagung der Vollstreckung vorliegt. Die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs muss auch für den
Antragsteller gegeben sein, falls sein Antrag auf Vollstreckbarerklärung abgelehnt worden
ist.“
Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der
Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie
verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.
(2) Sie ist nicht anzuwenden auf:
a) den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von
natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände, das Gebiet des Erbrechts einschließlich des
Testamentsrechts;
…“
Art. 53 der Verordnung lautet:
„(1) Die Partei, die die Anerkennung einer Entscheidung geltend macht oder eine
Vollstreckbarerklärung beantragt, hat eine Ausfertigung der Entscheidung vorzulegen, die die für
ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt.
(2) Unbeschadet des Artikels 55 hat die Partei, die eine Vollstreckbarerklärung beantragt, ferner
die Bescheinigung nach Artikel 54 vorzulegen.“
Art. 54 der Verordnung sieht vor:
„Das Gericht oder die sonst befugte Stelle des Mitgliedstaats, in dem die Entscheidung ergangen ist,
stellt auf Antrag die Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts in Anhang V dieser
Verordnung aus.“
Art. 55 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„Wird die Bescheinigung nach Artikel 54 nicht vorgelegt, so kann das Gericht oder die sonst
befugte Stelle eine Frist bestimmen, innerhalb deren die Bescheinigung vorzulegen ist, oder sich
mit einer gleichwertigen Urkunde begnügen oder von der Vorlage der Bescheinigung befreien,
wenn es oder sie eine weitere Klärung nicht für erforderlich hält.“
Verordnung Nr. 1215/2012
Art. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:
„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der
Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie
verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder
Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).
(2) Sie ist nicht anzuwenden auf:
a) den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von
natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände oder Güterstände aufgrund von
Verhältnissen, die nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden Recht mit der Ehe
vergleichbare Wirkungen entfalten,
…“
Art. 66 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Diese Verordnung ist nur auf Verfahren, öffentliche Urkunden oder gerichtliche Vergleiche
anzuwenden, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet, förmlich errichtet oder eingetragen
bzw. gebilligt oder geschlossen worden sind.
(2) Ungeachtet des Artikels 80 gilt die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 weiterhin für
Entscheidungen, die in vor dem 10. Januar 2015 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen
sind, für vor diesem Zeitpunkt förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden sowie für
vor diesem Zeitpunkt gebilligte oder geschlossene gerichtliche Vergleiche, sofern sie in den
Anwendungsbereich der genannten Verordnung fallen.“
Ungarisches Recht
Gesetz über die Zwangsvollstreckung
Das Bírósági végrehajtásról szóló 1994. évi LIII. törvény (Gesetz Nr. LIII von 1994 über die
Zwangsvollstreckung) bestimmt in § 31/C Abs. 1 Buchst. g:
„Das Gericht des ersten Rechtszugs stellt auf Antrag … die in Art. 53 der Verordnung (EU)
Nr. 1215/2012 vorgesehene Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts in Anhang I dieser
Verordnung aus.“
Bürgerliches Gesetzbuch
Das Polgári Törvénykönyvről szóló 1959. évi IV. törvény (Gesetz Nr. IV von 1959 über das
Bürgerliche Gesetzbuch) in der Fassung, die zum Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung galt,
deren Vollstreckung beantragt wird (im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch), bestimmte in
§ 578/G Abs. 1 und 2, der sich unter Nr. 3 („Vermögensbeziehungen der in einem gemeinsamen
Haushalt lebenden Personen“) des Abschnitts XLVI des Teils IV („Schuldrecht“) dieses
Gesetzbuchs fand:
„(1) Lebenspartner erwerben während ihres Zusammenlebens im Verhältnis ihres Mitwirkens am
Erwerb gemeinschaftliches Eigentum. Kann der Anteil des Mitwirkens nicht festgestellt werden, ist
er als gleich hoch anzusehen. Die Arbeit im Haushalt zählt als Mitwirken am Erwerb.
(2) Diese Regeln sind auch auf die Vermögensbeziehungen der im gemeinsamen Haushalt
lebenden anderen Angehörigen – mit Ausnahme der Ehepartner und der eingetragenen
Lebenspartner – anzuwenden.“
Der in Teil VI („Schlussvorschriften“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs enthaltene § 685/A sah vor:
„Eine Lebenspartnerschaft besteht zwischen zwei Personen, die, ohne die Ehe geschlossen oder
eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründet zu haben, in einem gemeinsamen Haushalt in
einer Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft (Lebensgemeinschaft) zusammenleben, wenn keine
von ihnen mit einer anderen Person eine Ehe oder eine eingetragene oder nicht eingetragene
Lebenspartnerschaft führt und sie weder in gerader Linie miteinander verwandt noch Geschwister
oder Halbgeschwister sind.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Frau Weil und Herr Gulácsi lebten von Februar 2002 bis Oktober 2006 als nicht eingetragene
Lebenspartner im Sinne von § 685/A des Bürgerlichen Gesetzbuchs zusammen.
Mit Urteil des Szekszárdi Városi Bíróság (Stadtgericht Szekszárd, Ungarn), das am 23. April 2009
rechtskräftig und vollstreckbar wurde, wurde Herr Gulácsi verurteilt, an Frau Weil infolge der
Auflösung des sich aus ihrer faktischen Lebensgemeinschaft ergebenden Güterstands 665 133
ungarische Forint (HUF) (etwa 2 060 Euro) zuzüglich Verzugszinsen zu zahlen.
Um diese Forderung einzutreiben, leitete Frau Weil in Ungarn ein Zwangsvollstreckungsverfahren
gegen Herrn Gulácsi ein, das erfolglos blieb, weil dieser keine Vermögenswerte hatte.
Da Frau Weil wusste, dass Herr Gulácsi seit dem Jahr 2006 im Vereinigten Königreich lebte, wo er
über regelmäßige Einkünfte verfügte, beantragte sie am 22. November 2017 beim Szekszárdi
Járásbíróság (Kreisgericht Szekszárd, Ungarn), demselben Gericht, das das Urteil vom 23. April
2009 erlassen hatte, für die Zwecke der Vollstreckung dieses Urteils die Ausstellung der
Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012.
Das mit diesem Antrag befasste vorlegende Gericht hat in erster Linie Zweifel, ob es möglich ist,
im Rahmen der Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 zu
prüfen, ob die Klage, die zum Urteil vom 23. April 2009 geführt hat, in den Anwendungsbereich
dieser Verordnung fällt.
Es führt insoweit aus, dass die Abschaffung der Vollstreckbarerklärung durch die Verordnung
Nr. 1215/2012 bedeute, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats nur eine formale Prüfung des
Vollstreckungsantrags vornehmen dürfe. Wäre das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats verpflichtet,
die Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 automatisch auszustellen, bestünde
somit die Gefahr, dass vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommene Rechtssachen
der mit der Verordnung geschaffenen Vollstreckungsregelung unterworfen würden, da die Gründe
für eine Ablehnung der Vollstreckung in der Verordnung abschließend genannt seien.
Für den Fall, dass die Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht automatisch
auszustellen sei, fragt sich das vorlegende Gericht in zweiter Linie, ob der sich aus einer faktischen
Lebensgemeinschaft ergebende Güterstand zu den Zivil- oder Handelssachen im Sinne von Art. 1
Abs. 1 dieser Verordnung gehört oder ob er unter die von ihrem Anwendungsbereich
ausgeschlossenen Bereiche fällt, namentlich unter die Güterstände aufgrund von Verhältnissen, die
nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden Recht mit der Ehe vergleichbare Wirkungen
entfalten, im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung.
Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die vermögensrechtlichen Beziehungen
zwischen Partnern einer faktischen Lebensgemeinschaft nach § 578/G Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs unter das Schuldrecht fielen.
Es macht außerdem darauf aufmerksam, dass sich in der ungarischen Sprachfassung von Art. 1
Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 im Unterschied zu anderen Sprachfassungen dieser
Bestimmung anstelle der Formulierung „mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfalten“ die
Formulierung „mit der Ehe vergleichbare Rechtswirkungen entfalten“ finde. Es stelle sich daher die
Frage, ob dem Inhalt einer faktischen Lebensgemeinschaft oder deren Rechtswirkungen mehr
Bedeutung beizumessen sei. Inhaltlich bestehe kein wesentlicher Unterschied zwischen einem
solchen Partnerschaftsverhältnis und der Ehe, da sich beide auf eine Gefühls- und
Wirtschaftsgemeinschaft gründeten. In rechtlicher Hinsicht dagegen habe das ungarische Recht die
beiden Arten von Lebensgemeinschaften unterschiedlich geregelt, insbesondere was die Aufteilung
des gemeinsamen Vermögens, die Unterhaltspflicht, die Wohnungsnutzung und die Erbfolge
betreffe. In Bezug auf Sozialleistungen, Steuervorteile und Wohnungsbeihilfen für Familien
bestünden allerdings keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ehegatten und nicht eingetragenen
Lebenspartnern.
Unter diesen Umständen hat das Szekszárdi Járásbíróság (Kreisgericht Szekszárd) beschlossen, das
Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass das Gericht des
Mitgliedstaats, das die Entscheidung erlassen hat, auf den entsprechenden Antrag einer Partei
die Bescheinigung über die Entscheidung automatisch ohne Prüfung, ob der
Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012 eröffnet ist, ausstellen muss?
2. Falls die erste Frage zu verneinen ist: Ist Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung
Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass ein Vermögensausgleichsanspruch zwischen nicht
eingetragenen Lebenspartnern einen Güterstand aufgrund eines Verhältnisses betrifft, das mit
der Ehe vergleichbare (Rechts‑)Wirkungen entfaltet?
Zu den Vorlagefragen
Zur anwendbaren Verordnung
Das vorlegende Gericht stellt seine Fragen im Hinblick auf die Verordnung Nr. 1215/2012, weil es
auf den Zeitpunkt abstellt, zu dem der Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung gestellt wurde,
nämlich den 22. November 2017.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1215/2012, wie sich aus ihrem Art. 66
ergibt, nur auf Verfahren anwendbar ist, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet worden
sind, während die Verordnung Nr. 44/2001 weiterhin auf Entscheidungen anzuwenden ist, die in
Verfahren ergangen sind, die vor dem 10. Januar 2015 eingeleitet wurden. Für die Feststellung,
welche Verordnung in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist, ist somit auf den Zeitpunkt der Erhebung
der Klage, die zu einer Entscheidung geführt hat, deren Vollstreckung beantragt wird, abzustellen
und nicht auf einen späteren Zeitpunkt, wie den Zeitpunkt des Antrags auf Ausstellung der
Bescheinigung über die Vollstreckbarkeit einer solchen Entscheidung.
Im Ausgangsverfahren ist die Entscheidung, auf die sich der Antrag auf Ausstellung der
Bescheinigung, mit der ihre Vollstreckbarkeit bestätigt wird, bezieht, am 23. April 2009 ergangen.
Somit liegt auf der Hand, dass die Klage, die zu dieser Entscheidung geführt hat, ebenfalls vor dem
für die Anwendung der Verordnung Nr. 1215/2012 maßgeblichen Zeitpunkt, also vor dem
10. Januar 2015, erhoben wurde. Daher ist mit der ungarischen Regierung und der Europäischen
Kommission festzustellen, dass im vorliegenden Fall in zeitlicher Hinsicht die Verordnung
Nr. 44/2001 anwendbar ist.
Allerdings hindert der Umstand, dass das nationale Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen
seiner Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 1215/2012
formuliert hat, den Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht daran, diesem Gericht
unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu
geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können
(vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. September 2016, Essent Belgium, C‑492/14, EU:C:2016:732,
Rn. 43, und vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403,
Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur ersten Frage
In Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 23 bis 26 des vorliegenden Urteils ist die erste Frage so
zu verstehen, dass geklärt werden soll, ob Art. 54 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist,
dass ein mitgliedstaatliches Gericht, bei dem ein Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung
gestellt wird, mit der bestätigt wird, dass eine vom Ursprungsgericht erlassene Entscheidung
vollstreckbar ist, prüfen muss, ob der Rechtsstreit in den Anwendungsbereich dieser Verordnung
fällt, oder ob es diese Bescheinigung automatisch ausstellen muss.
Vorab ist festzustellen, dass alle Parteien, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen
abgegeben haben, darin übereinstimmen, dass ein Gericht in einer Situation wie der des
Ausgangsverfahrens prüfen darf, ob der Rechtsstreit, der zu der Entscheidung geführt hat, auf die
sich der Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung, mit der ihre Vollstreckbarkeit bestätigt wird,
bezieht, in den Anwendungsbereich des Rechtsakts – gleich ob die Verordnung Nr. 44/2001 oder
die Verordnung Nr. 1215/2012 – fällt, der die Ausstellung einer solchen Bescheinigung vorsieht.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, die
Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung der Verordnung Nr. 44/2001 auf das gegenseitige
Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Europäischen Union gestützt ist. Ein solches Vertrauen
erfordert, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidungen nicht nur von
Rechts wegen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden, sondern auch, dass das Verfahren,
mit dem diese Entscheidungen in dem anderen Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden, rasch
und effizient vonstatten geht (Urteil vom 13. Oktober 2011, Prism Investments, C‑139/10,
EU:C:2011:653, Rn. 27).
Ein solches Verfahren darf nach dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 nur eine
einfache formale Prüfung der Schriftstücke umfassen, die für die Erteilung der
Vollstreckbarerklärung in dem ersuchten Mitgliedstaat erforderlich sind (Urteil vom 13. Oktober
2011, Prism Investments, C‑139/10, EU:C:2011:653, Rn. 28).
Zu diesem Zweck hat die Partei, die eine Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung beantragt,
gemäß Art. 53 der Verordnung Nr. 44/2001 eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre
Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, sowie die von den Behörden des
Ursprungsmitgliedstaats ausgestellte Bescheinigung nach Art. 54 dieser Verordnung vorzulegen
(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2011, Prism Investments, C‑139/10, EU:C:2011:653,
Rn. 29).
Demnach besteht die Funktion, die der in Art. 54 der Verordnung Nr. 44/2001 genannten
Bescheinigung zugedacht ist, darin, die Erteilung der Erklärung, mit der die Vollstreckbarkeit der
im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung festgestellt wird, so zu erleichtern, dass sie,
wie im 17. Erwägungsgrund dieser Verordnung ausdrücklich vorgesehen, fast automatisch erfolgt
(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency, C‑619/10, EU:C:2012:531,
Rn. 41).
Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass die Notwendigkeit, die rasche Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen zu gewährleisten und gleichzeitig die Rechtssicherheit, auf der das
gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege innerhalb der Union beruht, es insbesondere in einer
Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der sich das Gericht, das die zu vollstreckende
Entscheidung erlassen hat, bei deren Erlass nicht zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 44/2001
geäußert hat, rechtfertigt, dass das Gericht, bei dem der Antrag auf Ausstellung der genannten
Bescheinigung gestellt wird, in diesem Stadium prüft, ob der Rechtsstreit in den
Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
Dass die Vorlage einer solchen Bescheinigung nach Art. 55 der Verordnung Nr. 44/2001 für die
Vollstreckung einer Entscheidung nicht zwingend ist, vermag die Pflicht des um ihre Ausstellung
ersuchten Gerichts, zu prüfen, ob der Rechtsstreit, zu dem die Entscheidung ergangen ist, in den
Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, nicht in Frage zu stellen.
Dies gilt umso mehr, als das Vollstreckungsverfahren nach der Verordnung Nr. 44/2001 – ebenso
wie eine Vollstreckung nach der Verordnung Nr. 1215/2012 – jeder späteren Prüfung durch ein
Gericht des ersuchten Mitgliedstaats, ob die Klage, die zu der Entscheidung geführt hat, deren
Vollstreckung begehrt wird, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 fällt,
entgegensteht, denn die Gründe, aus denen ein Rechtsbehelf gegen die Vollstreckbarerklärung
dieser Entscheidung eingelegt werden kann, sind in dieser Verordnung abschließend geregelt.
Ferner ist auch darauf hinzuweisen, dass ein Gericht bei der Prüfung seiner Zuständigkeit zur
Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 54 der Verordnung Nr. 44/2001 an das vorherige
Gerichtsverfahren anschließt, indem es dessen volle Wirksamkeit sicherstellt, so dass ein im
Rahmen eines solchen Verfahrens angerufenes nationales Gericht befugt ist, dem Gerichtshof eine
Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Februar 2019,
Gradbeništvo Korana, C‑579/17, EU:C:2019:162, Rn. 39 und 41).
In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 54 der Verordnung
Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass ein mitgliedstaatliches Gericht, bei dem ein Antrag auf
Ausstellung einer Bescheinigung gestellt wird, mit der bestätigt wird, dass eine vom
Ursprungsgericht erlassene Entscheidung vollstreckbar ist, in einer Situation wie der des
Ausgangsverfahrens, in der sich das Gericht, das die zu vollstreckende Entscheidung erlassen hat,
bei deren Erlass nicht zur Anwendbarkeit dieser Verordnung geäußert hat, prüfen muss, ob der
Rechtsstreit in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
Zur zweiten Frage
In Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 23 bis 26 des vorliegenden Urteils ist die zweite Frage
so zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der
Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in
Rede stehende, mit der die Auflösung der sich aus einer faktischen Lebensgemeinschaft ergebenden
Vermögensbeziehungen begehrt wird, zu den „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1
dieses Artikels gehört und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 die
ehelichen Güterstände vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausschließt. Die Erstreckung
dieses Ausschlusses auf Güterstände aufgrund von Verhältnissen, die nach dem sie anzuwendenden
Recht mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfalten, ist erst mit der Verordnung Nr. 1215/2012
eingeführt worden.
Ferner gilt, da die Verordnung Nr. 44/2001 das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) ersetzt, die Auslegung der Bestimmungen dieses
Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die Verordnung, soweit die Bestimmungen dieser
Gemeinschaftsrechtsakte als gleichwertig angesehen werden können (Urteil vom 16. Juni 2016,
Universal Music International Holding, C‑12/15, EU:C:2016:449, Rn. 22 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 dieses Übereinkommens
ergibt, dessen Wortlaut dem des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 entspricht, so
dass, wie in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführt, die vom
Gerichtshof vorgenommene Auslegung der erstgenannten Bestimmung auch für die zweitgenannte
gilt, umfasst der Begriff „eheliche Güterstände“ die vermögensrechtlichen Beziehungen, die sich
unmittelbar aus der Ehe oder ihrer Auflösung ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März
1979, de Cavel, 143/78, EU:C:1979:83, Rn. 7).
Da die Parteien des Ausgangsverfahrens, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt,
nicht durch eine Ehe verbunden waren, können die sich aus ihrer faktischen Lebensgemeinschaft
ergebenden Vermögensbeziehungen nicht als „ehelicher Güterstand“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2
Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 eingestuft werden.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001
enthaltene Ausschluss eine Ausnahme darstellt, die als solche eng auszulegen ist. Denn der
Gerichtshof hat unter Bezugnahme auf das Ziel der Verordnung Nr. 44/2001, einen Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln, in dem der freie
Verkehr der Entscheidungen gefördert wird, bereits entschieden, dass die vom Anwendungsbereich
der Verordnung ausgeschlossenen Bereiche Ausnahmen darstellen, die wie jede Ausnahme eng
auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2014, flyLAL-Lithuanian Airlines,
C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 27).
Ferner wird eine Auslegung des Begriffs „ehelicher Güterstand“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2
Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001, nach der eine faktische Lebensgemeinschaft wie die im
Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter diese Bestimmung fällt, durch die vom
Gesetzgeber mit der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgenommene Änderung der Bereichsausnahme
bestätigt. Wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wurde die Bereichsausnahme durch
die letztgenannte Verordnung über die ehelichen Güterstände hinaus ausgedehnt, und zwar nur auf
Verhältnisse, die als mit der Ehe vergleichbar gelten. Soll dieser Änderung nicht jegliche Bedeutung
genommen werden, kann Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 nicht dahin ausgelegt
werden, dass er eine faktische Lebensgemeinschaft wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende
erfasst.
In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und
Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Klage wie die im
Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der die Auflösung der sich aus einer faktischen
Lebensgemeinschaft ergebenden Vermögensbeziehungen begehrt wird, zu den „Zivil- und
Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels gehört und somit in den sachlichen
Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof
sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein mitgliedstaatliches Gericht,
bei dem ein Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung gestellt wird, mit der bestätigt
wird, dass eine vom Ursprungsgericht erlassene Entscheidung vollstreckbar ist, in einer
Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der sich das Gericht, das die zu
vollstreckende Entscheidung erlassen hat, bei deren Erlass nicht zur Anwendbarkeit
dieser Verordnung geäußert hat, prüfen muss, ob der Rechtsstreit in den
Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
2. Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass
eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der die Auflösung der
sich aus einer faktischen Lebensgemeinschaft ergebenden Vermögensbeziehungen
begehrt wird, zu den „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels
gehört und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Ungarisch.
Entscheidung, Urteil
Gericht:EuGH
Erscheinungsdatum:06.06.2019
Aktenzeichen:C-361/18
Normen in Titel:VO (EG) Nr. 44/2001 Art. 1 Abs. 1 u. 2, Art. 54