BFH 04. Juni 2019
VII R 16/18
ErbStG §§ 3, 20 Abs. 1 u. 3; AO §§ 5, 219; BGB §§ 1922, 2059

Erbschaftsteuer ist Nachlassverbindlichkeit; keine Beschränkung der Erbenhaftung für Erbschaftsteuerschulden

letzte Aktualisierung: 31.10.2019
BFH, Urt. v. 4.6.2019 – VII R 16/18

ErbStG §§ 3, 20 Abs. 1 u. 3; AO §§ 5, 219; BGB §§ 1922, 2059
Erbschaftsteuer ist Nachlassverbindlichkeit; keine Beschränkung der Erbenhaftung für Erbschaftsteuerschulden

1. Die vom Erben als Gesamtrechtsnachfolger aufgrund Erbanfalls nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG
i. V. m. § 1922 BGB geschuldete Erbschaftsteuer ist eine Nachlassverbindlichkeit (Fortführung des
BFH-Urteils vom 20.01.2016 – II R 34/14, BFHE 252, 389, BStBl II 2016, 482).

2. Eine Beschränkung der Erbenhaftung für Erbschaftsteuerverbindlichkeiten ist nach § 2059 Abs. 1
Satz 2 BGB ausgeschlossen.

3. Bei der Inanspruchnahme des Nachlasses nach § 20 Abs. 3 ErbStG besteht ein (Entschließungs-)
Ermessen, sodass grundsätzlich keine Verpflichtung zur vorrangigen Inanspruchnahme besteht.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Vorentscheidung entspricht
Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Das FG hat zutreffend einen Ermessensfehler des FA bei Erlass der vier Pfändungs- und Einziehungsverfügungen
verneint.

1. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Verwaltungsakte, mit denen eine Geldleistung gefordert
wird, im Verwaltungsweg vollstrecken.

Über die Art der Vollstreckungsmaßnahme entscheidet die Vollstreckungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen
(§ 5 AO). Diese Ermessensentscheidung ist gemäß § 102 FGO gerichtlich nur eingeschränkt dahingehend zu
überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in einer
dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Mit anderen Worten hat
das Gericht nur zu prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht beachtet wurden oder das Ermessen
fehlerhaft ausgeübt wurde (vgl. Senatsurteil vom 26.03.1991 - VII R 15/89, BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552; BFHUrteil
vom 28.06.2000 - X R 24/95, BFHE 192, 32, BStBl II 2000, 514). Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt
voraus, dass das FA seine Ermessensentscheidung aufgrund einer einwandfreien und erschöpfenden Ermittlung des
entscheidungserheblichen Sachverhalts getroffen (vgl. Senatsurteil vom 30.10.1990 - VII R 106/87, BFH/NV 1991,
509) und alle für die Ermessensausübung nach dem Zweck der Ermächtigungsnorm wesentlichen Gesichtspunkte
tatsächlicher und rechtlicher Art spätestens zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung berücksichtigt hat
(vgl. BFH-Urteil vom 23.05.1985 - V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Die für die Entscheidungsfindung
maßgebenden Erwägungen müssen dem Betroffenen grundsätzlich bis zur letzten Verwaltungsentscheidung in
überprüfbarer Form mitgeteilt worden sein (vgl. BFH-Urteil in BFHE 192, 32, BStBl II 2000, 514). Das FA kann jedoch
seine Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen
(§ 102 Satz 2 FGO). Unzulässig ist allerdings eine erstmalige Ermessensausübung oder eine komplette Ersetzung der
Ermessenserwägungen (vgl. BFH-Beschluss vom 02.06.2004 - IV B 56/02, BFH/NV 2004, 1536).

Die Vollstreckungsbehörde hat bei Erlass von Vollstreckungsmaßnahmen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu
beachten (vgl. u.a. Senatsurteil vom 24.09.1991 - VII R 34/90, BFHE 165, 477, BStBl II 1992, 57, und
Senatsbeschluss vom 11.12.1990 - VII B 94/90, BFH/NV 1991, 787). Zu dessen Wahrung muss eine
Vollstreckungsmaßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet --insbesondere nicht von vornherein
aussichtslos (Senatsurteil vom 18.07.2000 - VII R 94/98, BFH/NV 2001, 141, unter 3.)-- und erforderlich sowie dem
Betroffenen zumutbar sein; außerdem darf die Maßnahme den Betroffenen nicht übermäßig belasten (Senatsurteil
vom 14.06.1988 - VII R 143/84, BFHE 153, 277, BStBl II 1988, 684). Eine solche Belastung liegt grundsätzlich schon
dann nicht vor, wenn eine Maßnahme dem Betroffenen zumutbar ist (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 19.10.1982 - 1 BvL 34/80, 1 BvL 55/80, BVerfGE 61, 126, 134, unter B.I.1.b).

2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG zutreffend einen Ermessensfehler des FA verneint.

a) Das FA hat nicht die Grenzen des Ermessens überschritten, die sich nach Ansicht der Klägerin aus § 20 Abs. 3
ErbStG ergeben sollen. Insbesondere ergibt sich aus § 20 Abs. 3 ErbStG keine Beschränkung der Vollstreckung auf
den Nachlass.

Nach § 20 Abs. 3 ErbStG haftet der Nachlass bis zur Auseinandersetzung (§ 2042 BGB) für die Steuer der am Erbfall
Beteiligten. Die Vorschrift enthält damit eine Sicherungsmaßnahme zugunsten der Finanzbehörde (BFH-Urteil in
BFHE 252, 389, BStBl II 2016, 482, Rz 18). Letztlich geht es darum, dass die Erben bis zur vollständigen
Erbauseinandersetzung eine Vollstreckung in den Nachlass wegen Ansprüchen aus dem
Erbschaftsteuerschuldverhältnis eines Erben dulden müssen (Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz,
Kommentar, 17. Aufl., § 20 Rz 19).

Allerdings enthält § 20 Abs. 3 ErbStG keine Vorgabe an die Finanzbehörde, primär in den ungeteilten Nachlass
vollstrecken zu müssen. Der Vorschrift lässt sich keine Reihenfolge der Vollstreckung und auch keine Verpflichtung
des FA entnehmen, umfangreiche Ermittlungen zum Bestand des Nachlasses und zum eigenen Vermögen des Erben
anzustellen. Das ergibt sich insbesondere aus dem allgemeinen Verständnis von Steuerschuldner und
Haftungsschuldner und dem Grundsatz der Subsidiarität, den § 219 Satz 1 AO zum Ausdruck bringt (vgl.
Senatsbeschluss vom 16.03.1995 - VII S 39/92, BFH/NV 1995, 950, und Senatsurteil vom 23.09.2009 - VII R 43/08,
BFHE 226, 391, BStBl II 2010, 215, m.w.N.).

Nach dem auch für die Haftungsschuld gemäß § 20 Abs. 3 ErbStG geltenden § 219 Satz 1 AO darf ein
Haftungsschuldner auf Zahlung nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche
Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos
sein würde. Für die subsidiäre Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ist ausreichend, dass die Finanzbehörde zu
der Annahme gelangt, dass eine Vollstreckung ohne Erfolg sein wird. Eine an Gewissheit grenzende
Wahrscheinlichkeit der Erfolglosigkeit von Vollstreckungsversuchen braucht nicht vorzuliegen (Jatzke in Gosch, AO
§ 219 Rz 10). Ebenso wenig bedarf es des Nachweises der Aussichtslosigkeit der Vollstreckung, evtl. durch erfolglose
Vollstreckungsversuche (Senatsbeschluss vom 24.04.2008 - VII B 262/07, BFH/NV 2008, 1448).

Eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners ist grundsätzlich auch dann ermessensfehlerfrei, wenn neben diesem
ein Haftungsschuldner für die Steuerschuld einzustehen hat (Senatsbeschluss vom 08.07.2004 - VII B 257/03,
BFH/NV 2004, 1513). Bei der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners besteht ein (Entschließungs-)Ermessen,
eine Verpflichtung zur Inanspruchnahme besteht grundsätzlich nicht (Jatzke in Gosch, AO § 191 Rz 17, mit Verweis
auf die ausdrückliche Ausnahme in § 13c Abs. 2 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes). Die Klägerin hat kein subjektives
Recht auf ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung darüber, ob nicht statt ihrer der Nachlass als Haftungsschuldner
in Anspruch zu nehmen ist (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2004, 1513).

b) Aus der Haftungsbeschränkung nach § 2059 Abs. 1 BGB kann die Klägerin keine Beschränkung der Vollstreckung
zu ihren Gunsten herleiten, weil diese Einrede auf die Erbschaftsteuerschuld nicht anwendbar ist.

aa) Nach § 2059 Abs. 1 Satz 1 BGB kann jeder Miterbe bis zur Teilung des Nachlasses die Berichtigung der
Nachlassverbindlichkeiten aus dem Vermögen, das er außer seinem Anteil am Nachlass hat, verweigern.

Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören nach § 1967 Abs. 2 BGB die vom Erblasser herrührenden Schulden und
die den Erben als solchen treffenden Verbindlichkeiten. Zu den ersteren zählen u.a. die im Wege der
Gesamtrechtsnachfolge (§ 45 Abs. 1 AO, § 1922 BGB) auf den Erben übergegangenen Steuer- und
Haftungsschulden des Erblassers (Erblasserschulden), während die zweite Gruppe die aus Anlass des Erbfalls
entstandenen Schulden (Erbfallschulden) betrifft, zu denen --neben den im Gesetz genannten Verbindlichkeiten aus
Pflichtteilsrechten, Vermächtnissen und Auflagen-- auch die Erbschaftsteuer (§ 9 Abs. 1, § 20 ErbStG) zu rechnen ist
(Senatsurteile vom 28.04.1992 - VII R 33/91, BFHE 168, 206, BStBl II 1992, 781, unter 3.b; vom 11.08.1998 -
VII R 118/95, BFHE 186, 328, BStBl II 1998, 705, unter II.A.3.b; BFH-Urteil in BFHE 252, 389, BStBl II 2016, 482,
Rz 11).

bb) § 2059 BGB gilt nicht nur für gemeinschaftliche Nachlassverbindlichkeiten, sondern auch für sogenannte
Erbteilverbindlichkeiten, die keine gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten sind, weil nur einzelne Miterben beschwert
sind (MünchKommBGB/Ann, 7. Aufl., § 2058 Rz 11; Staudinger/Marotzke, BGB § 2058 Rz 32 und Rz 35). Schuldner
der Erbschaftsteuer ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 20 Abs. 1 ErbStG nur der jeweilige Erwerber (Gebel in Troll/Gebel
/Jülicher/Gottschalk, ErbStG, § 20 Rz 50; Jochum in Wilms/Jochum, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz,
§ 20 Rz 79), weshalb es sich um eine solche Erbteilverbindlichkeit handelt.

cc) Allerdings ergibt sich aus dem Rechtsgedanken des § 2059 Abs. 1 Satz 2 BGB, dass diese Einrede dem Erben im
Hinblick auf seine persönliche Erbschaftsteuerschuld nicht zusteht. Nach § 2059 Abs. 1 Satz 2 BGB steht dem Erben
die Einrede in Ansehung des seinem Erbteil entsprechenden Teils der Verbindlichkeit nicht zu, wenn er für eine
Nachlassverbindlichkeit unbeschränkt haftet. Das ist vorliegend gegeben, weil die Klägerin als Erbin allein und
unbeschränkt die Erbschaftsteuer schuldet (§ 20 Abs. 1 ErbStG).

c) Das FA hat schließlich nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen.

Unter Anwendung der oben dargestellten Grundsätze waren die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen als
Vollstreckungsmaßnahmen geeignet, weil die Klägerin nach den Erkenntnissen des FA über Forderungen gegen
Drittschuldner (Banken) verfügte und die Maßnahme deshalb nicht aussichtslos war. Die Maßnahmen waren auch
erforderlich, um die ausstehenden Erbschaftsteuerschulden --wenn auch nicht in vollem Umfang-- zu tilgen. Ein
milderes Mittel ist nicht erkennbar. Insbesondere kann das FA nicht darauf verwiesen werden, zuerst gegen den
Nachlass als Haftungsschuldner vollstrecken zu müssen (siehe oben). Schließlich war die Vollstreckung der Klägerin
zumutbar. Zwar führt die Pfändung eines Kontoguthabens bei einem Kreditinstitut (§ 309 Abs. 3 Satz 1 AO, § 833a
ZPO) faktisch zu einer Kontosperrung. Dieser besonderen Situation hat der Gesetzgeber jedoch durch die Schaffung
eines Pfändungsschutzkontos Rechnung getragen, das auf Antrag des Schuldners nach § 850k ZPO eingerichtet
werden kann (Senatsurteil vom 16.05.2017 - VII R 5/16, BFHE 258, 105, BStBl II 2018, 735, Rz 11). Im Übrigen
erweisen sich die Vollstreckungsmaßnahmen im Streitfall nicht deshalb als unverhältnismäßig, weil sie nur zu einer
verhältnismäßig geringen Begleichung der hohen Steuerschulden geführt haben. Bei einer beigetriebenen Summe
von insgesamt 133.510,31 EUR kann nicht von einem Bagatellbetrag ausgegangen werden, der
Vollstreckungsmaßnahmen unbillig erscheinen ließe.

Ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Ausnahmefällen eine vorrangige Vollstreckung in den Nachlass gebietet,
z.B. wenn der Steuerschuldner darlegen kann, dass eine Vollstreckung in sein eigenes Vermögen aussichtlos wäre,
musste der Senat nicht entscheiden. Denn nach ihrem eigenen Vortrag verfügte die Klägerin u.a. über Bankguthaben
mit erheblichem Bestand.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BFH

Erscheinungsdatum:

04.06.2019

Aktenzeichen:

VII R 16/18

Rechtsgebiete:

Erbschafts- und Schenkungsteuer
Erbenhaftung
Sonstiges Steuerrecht
Gesetzliche Erbfolge
Erbengemeinschaft, Erbauseinandersetzung
Zwangsvollstreckung (insbes. vollstreckbare Urkunde und Vollstreckungsklausel)

Erschienen in:

ZEV 2019, 603-605

Normen in Titel:

ErbStG §§ 3, 20 Abs. 1 u. 3; AO §§ 5, 219; BGB §§ 1922, 2059