Ausübung eines Vorkaufsrechts; Wohl der Allgemeinheit
letzte Aktualisierung: 21.4.2022
VG Stuttgart, Urt. v. 28.1.2022 – 2 K 6153/20
BauGB §§ 24 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 3 S. 1, 27 Abs. 2 Nr. 2
Ausübung eines Vorkaufsrechts; Wohl der Allgemeinheit
1. Zur Frage, wann das Wohl der Allgemeinheit die Ausübung eines Vorkaufsrechts in einem
Umlegungsgebiet rechtfertigt.
2. Bereits die Formulierung des
Umlegungsgebiet Fällen geben kann, in denen die Ausübung des Vorkaufsrechts gerechtfertigt ist,
gleichwohl aber ein Abwendungsrecht des Erstkäufers besteht.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig (dazu A.) und dringt in der Sache durch (dazu B.).
A. Für die Klage gegen beide Vorkaufsrechtsausübungsverfügungen vom 15.05.2019 und
den Bescheid vom 17.06.2019 über die Ablehnung eines Abwendungsrechts ist der
Verwaltungsrechtsweg gegeben, da
der ordentlichen Gerichtsbarkeit regelt, die Ausübung eines nicht preislimitierenden
Vorkaufsrechts nach § 28 Abs. 2 BauGB nicht aufzählt. Die Klägerin ist weiter gegenüber
allen drei genannten Verwaltungsakten schon deswegen klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO),
da sie jeweils deren Adressatin ist. Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer
Anfechtungsklage liegen vor.
B. Die somit zulässige Klage dringt in der Sache durch. Die beiden Ausübungsverfügungen
(dazu I.) und der weitere Bescheid der Beklagten (dazu II.) sind rechtswidrig, verletzen die
Klägerin in ihren Rechten und deswegen aufzuheben (
I. Für beide Verfügungen, mit denen die Beklagte ein Vorkaufsrecht ausübte, besteht eine
wirksame Ermächtigungsgrundlage, § 28 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wonach ein bestehendes
Vorkaufsrecht durch Verwaltungsakt gegenüber dem Verkäufer ausgeübt werden kann. Im
Falle der Klägerin bestand an beiden von ihr gekauften Grundstücken zwar ein gesetzliches
Vorkaufsrecht (dazu 1.), dessen Ausübung durch die Beklagte jedoch nicht rechtmäßig
erfolgte (dazu 2.). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der tatbestandlichen
Erfordernisse ist nach Auffassung der Kammer dabei der Zeitpunkt des Erlasses der
Ausübungsverfügungen. Sowohl § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB als auch § 27 Abs. 1 Satz 1
BauGB sehen nämlich materielle Ausschlussfristen vor, deren Nichteinhaltung den Verlust
einer materiell-rechtlichen Rechtsposition zur Folge hat und nicht im
Widerspruchsverfahren korrigiert werden kann (Urt. d. Kammer v. 28.04.2020 - 2 K
1289/19 - juris Rn. 38; so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.06.2015 - 8 S 1386/14 - juris
Rn. 38; a.A. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 30.09.2021 - 3 S 2595/20 - juris Rn. 24).
1. An beiden von der Klägerin gekauften Grundstücken bestand zum maßgeblichen
Zeitpunkt ein Vorkaufsrecht der Beklagten.
Zwar liegen die beiden unbebauten, im Außenbereich befindlichen Grundstücke im
Geltungsbereich der Satzung der Beklagten über ein besonderes Vorkaufsrecht für das
Gebiet „Schafhaus“ vom 11.04.2019, bekannt gemacht am 18.04.2019, und im
Geltungsbereich des Flächennutzungsplanes der Beklagten, der für beide Grundstücke eine
Wohnbaufläche darstellt. Die Beklagte hat sich jedoch in ihren Verfügungen und
Widerspruchsbescheiden ausdrücklich nicht auf die Vorkaufsrechte aus § 25 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 BauGB oder
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB. Auch dieses ist entstanden, da beide verkauften Grundstücke
im Geltungsbereich eines förmlich durch Umlegungsbeschluss festgelegten
Umlegungsgebiets liegen.
2. Die Ausübung der beiden Vorkaufsrechte erfolgte aber nicht rechtmäßig. Zwar hat die
Beklagte durch ihr zuständiges Organ (dazu a) fristgerecht (dazu b) und durch das Wohl der
Allgemeinheit gerechtfertigt gehandelt (dazu c); die Klägerin hat die Ausübung aber
wirksam abgewendet (dazu d).
a) Der Beigeordnete der Beklagten für Wirtschaft, Beteiligen und Finanzen war zur
Ausübung der Vorkaufsrechte an beiden Grundstücken zuständig.
Nach
Da die Entscheidung über seine Ausübung somit eine Angelegenheit der kommunalen
Selbstverwaltung betrifft, ist eine Beschlussfassung des hierfür zuständigen
Gemeindeorgans erforderlich. Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 GemO entscheidet der Gemeinderat
über alle Angelegenheiten der Gemeinde, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetzes
zuständig ist oder ihm der Gemeinderat bestimmte Angelegenheiten überträgt. Letzteres
war hier der Fall. § 18 Satz 2 Nr. 7.1 der Hauptsatzung der Beklagten in ihrer im Mai 2019
geltenden Fassung vom 21.02.2019 begrenzt zwar die Zuständigkeit des
Oberbürgermeisters der Beklagten zum Erwerb von Grundstücken auf einen bestimmten
Wert; hinsichtlich der Ausübung von Vorkaufsrechten gibt es diese Wertgrenze jedoch
nicht. Nach § 19 Abs. 1 Satz 2 der Hauptsatzung der Beklagten wird der somit zuständige
Oberbürgermeister durch die sieben hauptamtlichen Beigeordneten in deren Aufgabenkreis
vertreten.
b) Die Ausübung der Vorkaufsrechte erfolgte fristgemäß.
Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB in der im Jahr 2019 geltenden Fassung konnte das
Vorkaufsrecht nur binnen zwei Monaten nach Mitteilung vom Kaufvertrag ausgeübt
werden. Zwar haben die beiden Verkäufer der Grundstücke ihre notariellen Kauverträge
schon am 05.11.2018 abgeschlossen. Diese waren jedoch wegen der Lage der verkauften
Grundstücke in einem Umlegungsgebiet nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 BauGB
genehmigungsbedürftig. Da nur der wirksame Kaufvertrag Gegenstand eines
Vorkaufsrechts sein kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.08.2020 - 4 B 3.20 - juris Rn. 5),
begann die genannte Frist nicht vor Erteilung der Genehmigung für diese Verträge und
deren Mitteilung zu laufen (so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 30.09.2021 - 3 S 259/20 -
juris Rn. 27; Kronisch, in: Brügelmann, BauGB, Stand Juli 2021, § 28 Rn. 26). Diese erging
erst am 19.03.2019 und wurde der zuständigen Stelle der Beklagten am 27.03.2019
mitgeteilt. Somit ist die Zweimonatsfrist durch die Bekanntgabe der Ausübungsverfügungen
an die Käuferin und die Verkäufer am 18.05.2019 gewahrt worden.
c) Die Ausübung der Vorkaufsrechte war in beiden Fällen durch das Wohl der
Allgemeinheit gerechtfertigt.
Dieser in § 24 Abs. 3 Satz 1 BauGB verwendete Begriff ist ähnlich wie im Bereich des
verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes (Art. 14 GG) und der speziellen
Enteignungsvorschriften (wie etwa
öffentlichen Interesses gleichzusetzen. Erst ein qualifiziertes, sachlich objektiv öffentliches
Interesse als Ergebnis einer Abwägung der im Einzelfall miteinander in Widerstreit
stehenden privaten und öffentlichen Interessen kann mit dem Wohl der Allgemeinheit
identifiziert werden (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 30.09.2021 - 3 S 2595/20 - juris). An die
Ausübung des Vorkaufsrechts werden jedoch gegenüber einer Enteignung, die nur zulässig
ist, wenn das Wohl der Allgemeinheit diese erfordert, qualitativ geringere Anforderungen
gestellt. Es genügt, wenn der Erwerb des Grundstücks im Rahmen der tatbestandlichen
Voraussetzungen zu den vom Gesetzgeber gebilligten bodenpolitischen,
eigentumspolitischen und städtebaulichen Zwecken erfolgt und dabei überwiegende
Vorteile für die Allgemeinheit angestrebt werden. Das Vorliegen dieser Voraussetzung
richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung des jeweiligen
Vorkaufsrechtstatbestands (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.01.2010 - 4 B 53.09 - BauR 2010,
874; Beschl. v. 15.02.1990 - 4 B 245.89 -
Satz 1 Nr. 2 BauGB. Das Gemeinwohlerfordernis setzt der Ausübung eines entstandenen
Vorkaufsrechts mithin sachliche aber auch zeitliche Grenzen (so BVerwG, Beschl. v.
25.01.2010 - 4 B 53.09 - juris Rn. 8).
Da § 24 BauGB in den Abschnitt „Sicherung der Bauleitplanung“ des Baugesetzbuchs
aufgenommen ist, ergibt sich hieraus eine gewichtige sachliche Begrenzung des
Gemeinwohlerfordernisses: Es kann die Ausübung eines entstandenen Vorkaufsrechts dann
nicht rechtfertigen, wenn dieses nicht „planungsakzessorisch“ eingesetzt wird, sondern
lediglich zu einer allgemeinen Bodenbevorratung oder zu privatwirtschaftlichem
Gewinnstreben (vgl. dazu nur BVerwG, Beschl. v. 25.01.2010 - 4 B 53.09 - juris Rn. 5; Bay.
VGH, Beschl. v. 24.04.2020 - 15 ZB 19.1987 - juris Rn. 18; Bunzel/Niemeyer, Der
Gesetzgeber ist beim Bodenrecht gefordert,
aa) Das Wohl der Allgemeinheit rechtfertigt in einem Umlegungsgebiet die Ausübung eines
Vorkaufrechts jedenfalls dann, wenn das Grundstück für die Zwecke der Umlegung (vgl. §
27 Abs. 2 Nr. 2 BauGB) benötigt und somit durch die Ausübung die Umlegung gefördert
wird (vgl. nur Bracher, in: Bracher/Reidt/Schiller, Bauplanungsrecht, 8. Aufl. 2014, Rn.
2717; Köster, in: Schrödter, BauGB, 9. Auflage 2019, § 24 Rn. 54). Denn das hat nichts mit
einer allgemeinen Bodenbevorratung zu tun, zumal auch die Bodenordnung im
Baugesetzbuch geregelt ist.
Um bestimmen zu können, wann durch einen Grundstückserwerb die Umlegung (§ 45 ff.
BauGB) gefördert wird, sind deren Zweck und Gang in den Blick zu nehmen: Bei diesem
Rechtsinstitut handelt es sich der Sache nach um ein öffentlich-rechtliches
Grundstückstauschverfahren (so Flug/Thurow, Entscheidungskriterien bei städtebaulichen
Problemlagen,
(Einwurfsgrundstücken) sollen Baugrundstücke geformt und die benötigten
Erschließungsflächen herausgelöst werden. Dazu werden nach § 55 Abs. 2 BauGB vorweg
aus der Masse der Einwurfsgrundstücke Flächen ausgeschieden und der Gemeinde oder
einem anderen Vorhabenträger zugewiesen, welche insbesondere für öffentliche
Verkehrsflächen benötigt werden; übrig bleibt die Verteilungsmasse (§ 55 Abs. 4 BauGB).
Anderes gilt für Flächen, die für sonstige Gemeinbedarfe - etwa Kindergarten, Schule,
Sozialstation - benötigt werden: Diese können kraft Gesetzes (§ 55 Abs. 5 BauGB) nur
dann vorab aus der Umlegungsmasse herausgelöst werden, wenn die Gemeinde oder der
Vorhabenträger sogenanntes Ersatzland in die Verteilmasse einbringt (so
Burmeister/Neureither, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/ Krautzberger, a.a.O., § 55 Rn. 4).
Durch Vereinbarungen ist aber auch anderes möglich (vgl. nochmals
Burmeister/Neureither, a.a.O., § 55 Rn. 5), etwa den Vorwegabzug auch auf sonstige
Gemeinbedarfsflächen zu erstrecken. Eigentümer zu kleiner Einwurfsgrundstücke müssen
regelmäßig mit Geld abgefunden werden (§ 59 Abs. 5 Satz 1 BauGB).
Das vorausgeschickt fördert die Ausübung eines Vorkaufsrechts in einem Umlegungsgebiet
die Umlegung vor allem in zwei Fällen (vgl. OVG Nieders., Beschl. v. 30.01.1975 - VI
OVG B 99/74 - juris):
- Zur Ermöglichung der Bildung zuteilungsfähiger Grundstücke, um nicht insbesondere
Eigentümer zu kleiner Einwurfsgrundstücke nur mit Geld abfinden zu müssen, was dann
einer Enteignung nahe kommt (so Kronisch, in: Brügelmann, BauGB, Stand Juli 2021, § 24
Rn. 162; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/ Krautzberger, § 24 Rn. 68; Bracher, in:
Bracher/Reidt/Schiller, a.a.O., Rn. 2717; Köster, in: Schrödter, a.a.O., § 24 Rn. 54),
- zur Ermöglichung des Erhalts von Ersatzland für sonstige nicht in § 55 Abs. 2 BauGB
geregelte Gemeinbedarfe (vgl. § 55 Abs. 5 BauGB und dazu Stock, a.a.O., § 24 Rn. 69).
Das gilt allerdings nur dann und solange, wie die Beklagte im Umlegungsgebiet nicht schon
genügend eigene Flächen besitzt oder vertraglich gesichert hat, um beide Ziele hinreichend
verfolgen zu können (so insbesondere Stock, a.a.O., § 24 Rn. 69). Dass das zum Zeitpunkt
der Ausübung des Vorkaufsrechts noch nicht der Fall ist, bedarf einer ausreichend
substantiierten Darlegung der Gemeinde. Die Beklagte ist deswegen im November 2021 zu
einer fundierten Erwiderung ermahnt worden; die gerichtliche Aufforderung wurde in
konkretisierter Form Anfang Januar 2022 wiederholt. Mit ihren erst kurz vor der und in der
mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumenten ist es der Beklagten nicht gelungen,
die Kammer davon zu überzeugen, dass die Verfolgung beider Zwecke ohne den Erwerb
der beiden von der Klägerin gekauften Grundstücke nicht möglich gewesen wäre.
(1) Zum Zeitpunkt der Ausübung beider Vorkaufsrechte verfügte die Beklagte über einen
Anteil von 6 % der Gesamtfläche des Umlegungsgebiets. Alle weiteren Eigentümer hatten
sich zudem bereits bindend gegenüber der Beklagten verpflichtet, dieser 50 % der Flächen
ihrer Einwurfsgrundstücke teils kostenfrei, teils zu einem bestimmten Preis für
Erschließungsflächen und Gemeinbedarfe aller Art zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte
hat in den Ausübungsverfügungen angegeben, für beide genannten Zwecke nach der
geänderten Planung ihres Gemeinderats „mindestens 35 %“ der Flächen des Gebiets zu
benötigen. Bei allen Unsicherheiten in dieser Prognose und dem Bedarf von
„Sicherheitsreserven“ lässt dieser Prozentwert die Förderlichkeit des Erwerbes beider
Grundstücke gerade zur Erlangung von Ersatzland für sonstige Gemeinbedarfe nicht
erkennen. Soweit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erstmals angedeutet hat, sie
wisse nicht, ob die mit den Grundstückseigentümern im Umlegungsgebiet geschlossenen
städtebaulichen Verträge wegen des Zeitablaufs unangepasst fortbestehen könnten, ist
darauf hinzuweisen, dass sie von der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt die Übernahme
der mit deren Verkäufern geschlossenen Verträge genau zu diesen Konditionen gefordert
und diese deren Bedingungen akzeptiert hat. Von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage
sind also beide Beteiligten damals - zum maßgeblichen Zeitpunkt - nicht ausgegangen.
(2) Zum Flächenbedarf der Beklagten hinzuaddiert werden muss allerdings noch Ersatzland
zum Ausgleich möglicher Minderzuteilungen an Eigentümer zu kleiner
Einwurfsgrundstücke. Aus dem einzigen bislang erstellten „städtebaulichen Konzept -
Umlegung Grobzuteilung“ der Beklagten für das Gebiet vom 20.11.2006 lässt sich freilich
erkennen, dass nach damaligem Stand künftige Baugrundstücke auch mit Flächen von
weniger als 300 m2 vorgesehen sind, die Einwurfsgrundstücke aber fast durchweg
mindestens 1.000 m2 Fläche aufweisen. Die Beklagte hält dem entgegen, ihr beschließender
Ausschuss habe aber im Jahr 2018 entschieden, dass das Gebiet mit dichterer Bebauung als
in den Jahren 2003/2006 geplant fortentwickelt werden solle. Das gehe nur über
Geschosswohnungsbau. Lediglich 22 % der Einwurfsgrundstücke verfügten über eine
Fläche von mehr als 500 m2. Nur diese seien für Geschosswohnungsbau geeignet.
Immerhin geht aber aus der fiktiven Zuteilungstabelle der Beklagten, die sie erst kurz vor
der mündlichen Verhandlung übersandt hat, hervor, dass auch einige Grundstücke mit
deutlich über 500 m2 Fläche zugeteilt werden könnten. Die Klägerin hat weiter in
nachvollziehbarer Weise darauf verwiesen, dass gerade bei sehr verdichteter Bebauung
selbst auf Grundstücken mit einer Fläche von nur 500 m2 Geschosswohnungsbau betrieben
werden kann. Der Beklagten ist somit eine hinreichend präzise Darlegung, wieso dennoch
ein erheblicher Zusatzflächenbedarf zur Verhinderung von bloßen Geldentschädigungen
entstehen sollte, nicht gelungen.
bb) Sie hat allerdings ergänzend argumentiert, ihr zuständiger Ausschuss habe ihre
Verwaltung beauftragt, möglichst viele Flächen im Umlegungsgebiet über die genannten
Umlegungsbedarfe hinaus zu erwerben, um auf den zusätzlichen Flächen sozialen
Wohnungsbau verwirklichen zu können.
(1) Sollten diese Vorstellungen des Gemeinderats darauf hinauslaufen, er wolle einen
möglichst hohen Anteil an sozialen Wohnungsbau nur auf städtischen Flächen, wäre dies
nach Auffassung der Kammer ein unzulässiges privatwirtschaftliches Gewinnstreben und
nicht mehr vom Wohl der Allgemeinheit gedeckt.
(2) Die Kammer versteht die Ausführungen des Gemeinderats der Beklagten, wie sie in der
Drucksache 622/2018 wiedergegeben werden so, dass es darum geht, auf möglichst vielen
Flächen sozialen Wohnungsbau nach den Konditionen des erweiterten Stuttgarter Modells
verwirklichen zu können. Das stellt im vorliegenden Fall keine unzulässige
Bodenbevorratung der Beklagten dar, sondern ist noch hinreichend planungsakzessorisch.
Der zuständige Ausschuss hat dies nämlich für einen räumlich klar abgegrenzten Teil des
Gemeindegebiets beschlossen, für welchen ein Aufstellungsbeschluss eines Bebauungsplans
und ein Beschluss über die Einleitung eines Umlegungsverfahrens existieren. § 24 Abs. 3
Satz 2 BauGB heutiger Fassung bestimmt zudem, dem Wohl der Allgemeinheit könne
„insbesondere die Deckung eines Wohnbedarfs der Gemeinde dienen“. Diese Bestimmung
galt zwar im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausübung beider Vorkaufsrechte noch nicht.
Nach Auffassung der Baulandkommission und der Bundesregierung dient die Einfügung
dieses Satzes in das Gesetz aber lediglich der „Klarstellung“, gerade nicht einer Änderung
der bisherigen Rechtslage (vgl. insbes. BT-Drs. 19/24838, S. 18 u. 26).
Besteht also bei der Beklagten als Großstadt mit hohen Durchschnittsmieten ein großer
Bedarf an sozialem Wohnungsbau (vgl. nur Stuttgarter Nachrichten v. 27.06.2021, Zahl der
Sozialwohnungen leicht gestiegen), rechtfertigt dies die Ausübung des Vorkaufsrechts im
vorliegenden Fall. Das gilt auch im Blick auf die vom Bundesverwaltungsgericht betonte
zeitliche Komponente des Gemeinwohlerfordernisses. Zwar ist der Aufstellungsbeschluss
des Bebauungsplans für das Gebiet schon im Jahr 2003 ergangen und das
Umlegungsverfahrens im Jahr 2008 eingeleitet worden, was keine hinreichend zeitliche
Nähe mehr zur Ausübung des Vorkaufsrechts im Jahr 2019 aufweisen könnte. Am
02.10.2018 hat der zuständige Ausschuss der Beklagten allerdings eine Fortführung des
Bebauungsplanverfahrens mit geänderten Zielen beschlossen (GR-Drs. 622/2018). Somit
weist der Stand des zugrundeliegenden Bauleitplanverfahrens noch eine hinreichende Nähe
und Konkretisierung zur Ausübung der beiden Vorkaufsrechte auf.
d) Die Klägerin hat aber das Vorkaufsrecht in beiden Fällen rechtswirksam abgewendet.
Obgleich die Beklagte in einem gesonderten Bescheid über das Abwendungsrecht der
Klägerin entschieden hat, was dogmatisch vertretbar erscheint (so etwa Kronisch, in:
Brügelmann, BauGB, Stand Juli 2021, § 27 Rn. 64), ist es aus Gründen der Rechtsklarheit
vorzugswürdig anzunehmen, eine bestehendes und rechtswirksam ausgeübtes
Abwendungsrecht mache die Ausübung des Vorkaufsrechts rückwirkend rechtswidrig (so
auch VG Ansbach, Urt. v. 21.10.2021 - AN 17 K 20.01814 - juris Rn. 24). Mit anderen
Worten: Die rechtmäßige Ausübung eines Vorkaufsrechts setzt voraus, dass ein
Abwendungsrecht nicht oder nicht wirksam geltend gemacht worden ist oder nicht besteht.
Das ist aber vorliegend jeweils nicht der Fall.
aa) Das Recht der Klägerin, das ausgeübte Vorkaufsrecht abzuwenden, war nicht
ausgeschlossen.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BauGB hat jeder von der Ausübung eines Vorkaufsrechts der
Gemeinde betroffene Käufer regelmäßig die Möglichkeit, dessen Ausübung abzuwenden.
Absatz 2 dieser Vorschrift schließt das nur in zwei Fällen aus.
bestimmt das „in den Fällen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1“ BauGB. Mit anderen Worten:
Immer wenn ein nach dieser Bestimmung entstandenes Vorkaufsrecht ausgeübt wird, ist
das Abwendungsrecht des jeweiligen Käufers gesetzlich ausgeschlossen.
Die Beklagte übersieht die andersartige Ausgestaltung des
ist gerade nicht geregelt, dass das Abwendungsrecht „in den Fällen des § 24 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2“ BauGB ausgeschlossen ist. Vielmehr gilt das in einem Umlegungsgebiet nur dann,
„wenn das Grundstück für Zwecke der Umlegung benötigt wird“. Wie bereits dargelegt ist
es der Beklagten aber nicht gelungen, aufzuzeigen, dass die beiden an die Klägerin
verkauften Grundstücke für Zwecke der Umlegung benötigt werden. Vielmehr will die
Beklagte durch den Grundstückserwerb - was, wie ebenfalls dargelegt, legitim ist - einen
möglichst hohen Anteil an sozialem Wohnungsbau im Umlegungs- und künftigen
Plangebiet ermöglichen. Auf dieses Ziel ist der Ausschlussgrund des § 27 Abs. 2 Nr. 2
BauGB schon seinem Wortlaut nach nicht anwendbar (so auch Bracher, in: in
Bracher/Reidt/Schiller, Bauplanungsrecht, 8. Aufl. 2014, Rn. 2723; Köster, in: Schrödter,
BauGB, 9. Aufl. 2019, § 27 Rn. 17). Soweit die Beklagte ausführt, für den Erwerb der
beiden Grundstücke der Klägerin spräche aber jedenfalls ein „Motivbündel“, muss die
Kammer nicht entscheiden, ob die Berufung auf ein solches Bündel überhaupt zulässig
wäre. Wie bereits ausgeführt gibt es nämlich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass
der Erwerb der beiden Grundstücke zu einem anderen Zweck als für sozialen
Wohnungsbau notwendig ist.
Nichts Anderes würde sich im Übrigen ergeben, wenn die Beklagte hier ein Vorkaufsrecht
nach
hätte und damit der Ausschlussgrund noch eindeutiger keine Anwendung gefunden hätte.
bb) Die Klägerin hat eine rechtswirksame Abwendungserklärung abgegeben.
Sie hat sich gegenüber der Beklagten am 17.05.2019, also innerhalb der in § 27 Abs. 1 Satz 1
BauGB damaliger Fassung genannten Zweimonatsfrist ab Kenntnis der zuständigen Stelle
der Beklagten von den genehmigten Kaufverträgen verpflichtet, auf beiden gekauften
Grundstücken Wohnnutzung mit einem Anteil geförderten Wohnungen nach Maßgabe der
Gemeinderatsdrucksache 906/2015 der Beklagten umzusetzen, und ihre Bereitschaft erklärt,
eine dahingehende öffentlich-rechtliche Vereinbarung abzuschließen.
Diese Erklärung war durch den Bezug auf die genannte Gemeinderatsdrucksache der
Beklagten „Erhöhung des Anteils des geförderten Wohnungsbaus“ mit der dort
aufgeführten Quote von 60 % sozialem Mietwohnungsbau sowie weiteren 20 % mittlerer
Einkommensbezieher bzw. preiswertes Wohneigentum hinreichend bestimmt. Zudem hatte
die Klägerin fristgerecht angeboten, einen präzisierenden öffentlich-rechtlichen Vertrag
abzuschließen, was die Beklagte allerdings abgelehnt hatte. Auch in der mündlichen
Verhandlung hat die Klägerin ihre Bereitschaft erneut bekräftigt.
Dass die Klägerin zur Errichtung von auch größeren Wohnbauvorhaben in der Lage ist, ist
gerichtsbekannt. Ihr Verweis auf Erbringung aller Leistungen nur aus Eigenkapital lässt
auch keine Zweifel an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erkennen.
II. Aus diesem Grund, dem bestehenden Abwendungsrecht der Klägerin, ist auch der
weitere Bescheid der Beklagten vom 17.06.2019 über die Ablehnung dieses Rechts
rechtswidrig.
C. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung des
Bevollmächtigten im Vorverfahren durch die Klägerin wird für notwendig erklärt, § 162
Abs. 2 Satz 2 VwGO. Umfang und Schwierigkeit der Sache sind nicht so einfach gelagert,
dass die Klägerin als nicht rechtskundige Beteiligte bei vernünftiger Betrachtung hätte
annehmen müssen, sie könne Rechte gegenüber der Beklagten selbst ausreichend
wahrnehmen (vgl. zum Maßstab BVerwG, Beschl. v. 21.08.2018 - 2 A 6.15 - juris; VGH
Bad.-Württ., Urt. v. 20.07.2016 - 4 S 1163/14 - juris Rn. 57).
Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a
Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind nicht erkennbar.
Entscheidung, Urteil
Gericht:VG Stuttgart
Erscheinungsdatum:28.01.2022
Aktenzeichen:2 K 6153/20
Rechtsgebiete:Öffentliches Baurecht
Normen in Titel:BauGB §§ 24 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 3 S. 1, 27 Abs. 2 Nr. 2